Ich und die Zivilisation

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
ICH UND DIE ZIVILISATION

 

Ich bin ziemlich früh eingeschlafen. So wach ich wieder ziemlich früh auf, bevor die Tarantel sich in Bewegung setzt.

Ich schalte das Licht ein und stehe auf. Bettwäsche, Decke, Polster sind ganz weiß und extrem sauber. Auch alles andere im Raum ist sauber. Ich bin der einzige Gegenstand hier, den ich nicht als sauber bezeichnen kann.

Was ist gestern passiert?

Wenn ich richtig verstanden habe, hat diese Familie auf mich bereits gewartet. Ganz so war das nicht. Sie haben auf die Ankunft eines jungen, englischen Adeligen gewartet. Aber warum?

Er hatte sicher eine größere Auswahl an Wohnmöglichkeiten als ein Arbeiter aus der Türkei. Also musste er nicht eine höhere Miete zahlen. Was wollten sie mit diesem jungen Mann anstellen?

Ich kann nicht, und muss nicht alles verstehen. Auf jeden Fall habe ich jetzt eine Bleibe, wovon meine Landsmänner nicht einmal träumen können.

Auf Zehenspitzen verlasse ich meinen Raum und schaue in dem Korridor herum. Es gibt gegenüber meiner Tür eine andere, schmälere Tür.

Ich klopfe an sie leise. Keine Antwort. Ich klopfe ein bisschen kräftiger. Auch dann keine Antwort. Ich mache sie vorsichtig auf. Ein kleiner Raum mit gekachelten Wänden. Ich gehe hinein. Rechts von mir ist ein Waschbecken mit darüber hängendem Spiegel an der Wand. Danach ist noch eine Tür. Ich mache sie auf.

Wieder ein gekachelter Raum. Eine Klomuschel aus Keramik. Die Klomuschel glänzt von Sauberkeit. Auch die Klobrille.

In der letzten Zeit bin ich gewöhnt, meine "Geschäfte" im Wald auszuführen. Hier sehe ich den Himmel nicht. Ich bin irritiert. Ich mache den Deckel auf, ziehe meine Hose hinunter und setze mich vorsichtig darauf.

Da gibt's auch Toilettenpapier. Da ich an das orientalische Klo mit Wasser gewohnt bin, habe ich kaum Erfahrung damit. Ich übe.

Ich bin nicht zufrieden. Ich übe weiter. Ich weiß es nicht, wieviel so etwas kostet, aber es wäre peinlich, wenn ich die ganze Rolle verbrauche. Ich höre auf. Es wäre schön, wenn ich mich endlich wieder baden könnte.

Hinter dem Klo ist ein Wasserspüler. Das kenne ich.

Am Boden ist eine Klobürste. Die kenne ich nicht. Aber schätze ich, wozu das gut sein soll. Ich versuche alles wieder sauber hinter mir zu lassen. Ich untersuche Klobrille wie Boden, ob ich Schamhaare verloren habe.

Gerade will ich hinaus, drehe ich mich noch einmal um und betrachte alles noch einmal. Ich habe keine Spuren hinterlassen. Ich mache die Klotür zu.

Jetzt stehe ich im Vorraum vor dem Waschbecken. Links auf der Mauer ist ein mir nicht bekannter Behälter montiert. Oben ist ein kleiner Hebel. Ich drücke darauf. Es kommt eine dicke Flüssigkeit heraus. Ich halte meine rechte Hand darunter. Ich rieche. Es dürfte flüssige Seife sein.

Ich betrachte die Armaturen auf dem Becken. Links ist ein Hahn mit einem roten Punkt darauf und rechts mit einem blauen, Sowas ähnliches gibt's auch in den Nassräumen der Fabrik. Zuerst begrüße ich die Errungenschaften der europäischen Zivilisation. Dann stelle ich die für mich angenehme Temperatur ein. Nachher beginne ich zuerst meine Hände, danach mein Gesicht zu waschen.

Meine Hände, meine Unterarme, mein Gesicht, meinen Hals… Ich wasche alles mehrmals.

Jetzt bin ich sauber, aber nass. Ich suche ein Handtuch. Ich sehe aber nirgends ähnliches.

Jetzt entdecke ich den Blechkasten auf der rechten Seite des Waschbeckens. Vermutlich habe ich, ohne zu merken einen Knopf gedrückt. Der Kasten beginnt zu knurren. Ich halte meine Hände drunter, dann meine Arme. Ich versuche meinen Kopf darunter zu halten. Mein Schädel wird ganz heiß. Ich habe Angst, dass meine Haare zu brennen beginnen. Ich ziehe meinen Kopf wieder zurück.

Es ist genug. Ich will das Gerät wieder abschalten. Aber ich finde keinen Knopf. Ich untersuche alle Seiten, auch unten, dann die Wand daneben. Nirgends ist ein Knopf.

Das Gerät wird immer lauter und immer heißer. Hoffentlich verursache ich keine Explosion.

Damals war es in der Türkei nicht üblich, dass sich in einem Haushalt ein Fernseher befindet. Es wäre nutzlos. Denn es gab auch keinen Sender.

Wir hatten aber einen "Blaupunkt" Radioempfänger. Auf der Vorderseite von diesem deutschen Wunder leuchtete eine kleine blaue Lampe. Darum hieß es Blaupunkt.

Meine Mutter kaufte jede Woche ein Radio-Magazin. Dort waren die Programme von den beiden Sendern in Istanbul und in Ankara. Auch Fotos von den Radiostars. Manchmal sendete das Radio- Ankara Opernaufführungen von der Staatsoper in Ankara. Nicht life, dafür aber in Türkisch.

Vor allem meine Mutter hörte zu. Aber der Empfang aus dem fernen Ankara war sehr schlecht.

Knapp bevor die Mimi stirbt setzte der Ton aus.

Meine Mutter ließ sich aber nicht verzweifeln. Obwohl mein Vater es verboten hatte, ging sie hin und teilte eine kräftige Watschen auf dem Gehäuse aus Nussholz aus. Nach mehrmaligen Schlägen hustete die Mimi wieder.

Ich gebe dem Gerät eine vorsichtige Watschen. Es knurrt noch mehr. Noch eine Watschen. Noch einige Male. Es nützt nicht.

Ich warte sehr lange. Ich versuche mehrmals das Gerät irgendwie zu rütteln. Es nützt aber nichts.

Ich kann nur heulen. Ich sehe Ernst vor mir. Er sagt:
"Ich habe doch gewusst. Wenn du einen Türken in dein Haus nimmst, er macht dein Haus kaputt."

Ich kann nicht das Gerät weiterlaufen lassen und weggehen. Es bleibt mir nichts anderes übrig: Ich muss die Leute aufwecken.

Verzweifelt gehe ich hinaus.

Dann geschah ein Wunder: Bevor ich die Tür zu mache, bleibt das Monster still.

Ich verstehe die Welt nicht mehr. Was ist los? Ich gehe wieder zurück.

Erst jetzt entdecke ich das kleine, grüne Licht auf der Mauer gegenüber dem Waschbecken.

Ich halte meine Hand vor das Licht. Das Monster beginnt wieder zu knurren.

Scheiß Kapitalismus! Die ganze Zivilisation besteht aus billigen Taschentricks.

Ich gehe zu meinem Zimmer und hole das Rasierzeug.

Ich sehe mich im Spiegel. Jetzt glänze ich wieder und ich bin sehr hübsch.

Daphne hat mir gestern gezeigt: Falls die vordere Tür des Hauses geschlossen sein sollte, es gibt eine Hintertür. Ich gehe die Treppe hinunter.

 

Originalfoto aus dem Privatalbum von Daphne. Leider habe ich keine Erlaubnis für die Veröffentlichung. Ich will die liebe Frau nicht belästigen.
 
 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017