Montafon

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
MONTAFON

 

Ich verlasse das Gasthaus Schwanen durch das hintere Gartentor. Jetzt muss ich von hier zur Fabrik gehen.

Diesen Weg bin ich noch nie gegangen.

Ich weiß ungefähr wo die Fabrik liegt. Ich biege nach rechts.

Da ist eine Straßenlaterne. Aber dann lange keine mehr.

Es ist dunkel. Es ist sehr dunkel. Ich sehe fast nichts mehr. Ich bleibe eine Weile stehen.

Dann gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich gehe langsam weiter. Hier schaut alles ländlich aus.

Die schmale Straße ist ordentlich asphaltiert. Aber links und rechts sind nur mit Maschendraht eingezäunte Gärten.

Ich gehe langsam weiter. Links von mir ist ein großer Garten voller Apfelbäume.

Einige Äpfel sind auf die Straße gefallen und liegen neben dem Zaun auf dem Asphalt. Es sind kleine, grüne, unförmige Äpfel. Sie sind durch den Fall vernarbt.

Wie schmecken sie? Darf man sie wegnehmen und essen? Oder ist es verboten?

Ich will nicht wegen einem Apfel festgenommen werden. Da ist aber niemand auf der Straße.

Ich hebe einen Apfel auf und beiße hinein. Er ist noch nicht reif. Ein bisschen bitter, ein bisschen sauer, aber auch ein bisschen süß.

Ich brauche Vitamine. Ich esse den Apfel fertig und hebe noch einen auf. Ich schaue noch einmal rundherum.

Niemand hat mich gesehen.

Jetzt habe ich Bauchweh. Ist das die Strafe für den Diebstahl?

Ich gehe weiter in die Richtung von "Ot Yunus".

Rechts von mir ist ein nicht mit einem Maschendraht, sondern nur mit einem Draht oder Kabel eingezäunter Garten. Hinter dem Draht sind ungefähr fünfzig Kühe.

Aber was für Kühe! Sie sind keine Kühe, sondern Elefanten.

Sie haben aber keine Rüsseln. Also sind sie doch Kühe.

Ich denke an die kurdische Provinz Dersim in der Ost-Türkei.

Wegen der Jahrhunderte dauernden Verfolgung haben die alevitischen Kurden eine eigenartige Siedlungsart entwickelt. Auf jeder Bergspitze, wo man die Wolken von oben sieht, wohnt eine Großfamilie. Und jede Familie hat einige Kühe.

Wenn man zu dem Wohnhaus kommen will, muss man einen handbreiten Pfad, welcher sich um den ganzen Berg rundherum schlängelt, hinaufklettern.

In der Morgendämmerung kommen die Kühe auf diesem Pfad hinunter zum Tal um zu weiden. Am Abend klettern sie wieder hinauf.

Wie schaffen sie, ihre vier Füße auf dem schmalen Pfad zu platzieren und wie schaffen sie es, ohne in die Schlucht hinunterzufallen darauf zu gehen?

Nur sind die Kühe von Dersim neben diesen hier so groß wie die Ziegen.

Ich denke, diese Kühe sind Montafon-Kühe. Wie komme ich darauf?

Ich habe in Istanbul immerhin einige Semester Volkswirtschaft studiert. Da war auch ein Fach genannt "Wirtschafts-Geografie". Da haben wir gelernt, dass die aus wirtschaftlichem Standpunkt gesehen, besten Kühe der Welt die Montafon-Kühe sind. Davon gibt's aber in der Türkei wenig. Was Montafon heißt, weiß ich nicht.

Ich betrachte die Kühe, ohne daran zu denken, dass ich fünfzig Jahre später noch immer am Leben sein und darüberschreiben werde. Auch ahne ich nicht einmal leise, dass ich, bevor ich diese Zeilen schreibe, im Google nach "Montafon" suchen werde.

Montafon ist nicht weit von hier, ein 39 Km langes Tal im südlichen Vorarlberg; der von der Rechtsrheinischen durchflossen wird.

Die Kühe? Die Zucht dieser Rasse begann im 15. Jahrhundert im Kloster Einsiedeln in der Zentralschweiz.

 

Kloster Einsiedeln

 

Also diese Kühe sind stolze Renaissance-Kühe.

Seit Mitte der 1960er Jahre wurden diese Kühe durch Einkreuzung mit in USA gezüchteten Brown-Swiss zum Braunvieh umgewandelt.

Zu dieser neuen Rasse gehört auch die Unterkategorie Montafoner Braunvieh.


 
Montafoner Braunvieh

 

Die Kühe in meiner Erinnerung sind aber nicht braun, sondern schwarz oder dunkelblau oder dunkelgrau. Es war sehr dunkel.

Diese Kühe haben eine furchterregende Größe. Jede davon ist mindestens zwanzig Mal so groß wie ich.

Wenn sie ein "Muuu" heraus posaunen, zittert Himmel und Erde. Es sind keine realen Tiere, sondern Traumgestalten aus einem Shakespeare Stück.

Dafür sind sie aber gar nicht aggressiv, sondern traurig gefügig wie die Knechte.

Warum werden sie gehalten? Für die Milchproduktion? Oder werden sie zu Leberkäse verarbeitet?

Diese Kühe hier weiden nicht. Sie liegen nicht auf einer Wiese und wiederkäuen ihr bereits eingenommenes Futter. Sie sind einfach hinter dem Draht eng zusammengepfercht und laufen im Kreis.

Eine Kuh berührt den Draht und bekommt anscheinend einen Stromstoß. Dann lässt sie ein langes und kräftiges "Muuuu" heraus. Das ist ein Schmerzschrei. Es muss weh getan haben. Aber sie stirbt nicht dadurch. Wenn sie sich weiter an den Draht anlegt, kann sie ihn mühelos wegreißen.

Stattdessen dreht sie sich um und geht ein paar Schritte zurück. Die von ihr hinterlassene Lücke wird sofort von der nächsten Kuh gefüllt. Dann kommt das nächste "Muuuu".

Warum lernen sie nicht, dass der Draht weh tut?

Da sie sehr wenig Platz haben bewegen sie sich sehr langsam, aber die ganze Nacht durch ständig im Kreis.

Ich denke an die "Runde der Gefangenen" von Van Gogh.

Wieviel von meinen Genossen und Genossinnen sind bisher von den Faschisten bereits gefangengenommen? Wieviel Folter mussten sie erleiden?

Laufen sie jetzt in den Lichthöfen der Gefängnisse im Kreis?

Ich muss irgendwo eine Blechschere oder Zwickzange besorgen. Ich werde den Draht abschneiden und die Tiere frei lassen.

Aber was ist dann? Sie werden auf dem Asphalt landen. Was sollen sie fressen? Fressen die Kühe Äpfel? Am Boden liegen aber nicht genügend Äpfel. Wenn ich auch den Zaun aus Maschendraht wegschneide, können sie sich aus den Bäumen ernähren? Die Kühe sind aber keine Giraffen.

Ich binde meine Hände auf meinem Rücken und beginne im Kreis zu laufen. Warum? Will ich das Leid meiner Genossen teilen? Was haben sie davon? Ich weiß es nicht.

Die Kühe feuern mich pausenlos an und ich laufe. In Begleitung des Mu-Chors der gefangenen Rinder komme ich in Trance. Mir ist langsam schwindlig. Aber ich kann nicht mehr aufhören.

Wie lange bin ich im Kreis gelaufen? Weiß ich nicht.

Es wird langsam hell. Bald wird die Sonne scheinen.

Wenn die Sonne scheint, werde ich in der Fabrik eingesperrt sein und Schiffli füllen. Aber wenn ich fertig bin, werde ich "nach Hause" gehen. Dort wartet auf mich meine private Sonne. Sie heißt Daphne.

Ich freue mich, dass ich nicht im Gefängnis bin.

Vorgestern habe ich keine Hoffnung mehr gehabt, ein Bett in einem Arbeiterheim zu bekommen. Jetzt wohne ich in einer Fürstenkammer.

Ich bin noch jung. Jeder Tag bringt ein neues Wunder.

Ich bin sicher, dass auch heute etwas Wunderbares passieren wird. Vielleicht in der Fabrik?

Ich hebe meinen Kopf hoch und mit entschlossenen Schritten gehe zu "Ot Yunus".

 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017