Westbahnhof Wien

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
WESTBAHNHOF WIEN

 

Nach mindestens sechs Stunden langer Fahrt wird Daphne am Westbahnhof aussteigen. Ihre Augen werden mich suchen. Ich bin aber nicht da. Sie wird sich denken, vielleicht schaut Memo jetzt anders aus. Sie wird nach mir Ausschau halten. Nach vorne, nach rechts, nach links, nach hinten. Dann werden alle Passanten weg gehen. Sie wird auf der Plattform alleinstehen.

Wie ich sie kenne, wird sie zu weinen anfangen. Aber wird sie weiter warten. Wie lange? Halbe Stunde? Zwei Stunden? Den ganzen Tag?

Das Bahnhofpersonal wird sie verwundert anschauen. Eine alleinstehende Frau am Bahnhof, die unaufhörlich heult. Sie wird sich schämen.

Fährt sie dann zurück? Gibt es noch einen Zug? Geht sie in ein Hotel? Fährt sie am nächsten Tag zurück? Oder wartet sie noch einen Tag am Bahnhof?

Sie wird weinen. Wie lange?

Na und? Ich habe auch sehr lange geweint nach ihr.

Aber an meiner Trauer war nicht sie schuld, sondern mein eigenes Missverständnis.

Wenn sie jetzt weint, bin ich ein Arschloch.

Nein. Das kann ich ihr nicht antun.

Aber um sechzehn Uhr haben wir Ensembleprobe. Das dauert mindestens zwei Stunden.

Ich rufe unsere Pianistin an und erzähle, was los ist.

"Ist sie hübsch?", fragt sie.

"Nach meinem Geschmack ja.", sage ich.

"Ich komme mit."

"Du bleibst dort, wo du bist."

"Ich will mit ihr vierhändig spielen."

"Du wirst diese Frau in Ruhe lassen."

"Warum?"

"Weil sie nicht so pervers ist wie du. Hör zu: Heute gibt's keine Probe. Geht es für dich morgen um sechszehn Uhr aus?"

"Für mich kein Problem.", sagt sie.

Ich rufe unseren Kontrabassisten an.

"Morgen habe ich im Burgtheater drei Vorstellungen und eine Probe. Für mich unmöglich.", sagt er.

Nach zwei Stunden hin und her telefonieren gelingt mir, für nächste Woche einen Probetermin auszumachen.

Bei ihren kurzen Besuchen in Wien begegnete Daphne meinen Ensemblemitgliedern und manchen mir sehr nahestehenden Menschen. Ich werde hier von ihnen nichts erzählen. Nicht weil sie für mich bedeutungslos sind. Im Gegenteil. Aber diese Begegnungen haben keinen Einfluss auf die Geschichte zwischen mir und Daphne.

Ich bin eine halbe Stunde vorher am Westbahnhof. Ich erkundige mich, auf welchem Gleis der Zug von Vorarlberg ankommt.

Jetzt marschiere ich auf der Betonplattform rauf und runter und rauche.

Es ist eine lange Zeit, dass ich sie nicht gesehen habe. Werde ich sie erkennen?

Ich habe Menschen gekannt, deren Aussehen sich in diesem Zeitraum stark verändert hat. Ich war vor einer kurzen Zeit, zum ersten und letzten Mal wieder in Istanbul. Dort habe ich eine Frau getroffen, die, während meiner Kindheit die schönste Prinzessin der Welt war. Ich habe sie erkannt. Sie mich nicht. Sie ist inzwischen eine zweihundert Kilo schwere Kugel geworden. Sie war teuer, aber sehr kitschig gekleidet. Neben ihr rollte ein weißer Pudel. Die Vorstellung, dass ich sie damals heiraten könnte, hat mich derart entsetzt, ich habe sie nicht einmal begrüßt.

Was mache ich, wenn eine dreihundert Kilo schwere Kindertante mich zu kitzeln beginnt?

Vielleicht hat sie ihre Haare gefärbt. Jetzt hat sie rote oder pechschwarze Haare? Oder ihre Haare sind jetzt Aschgrau?

Der Zug kommt und hält an. Ich gehe möglichst zurück, dass ich alle Aussteigenden sehen kann.

Jetzt sind unter den Passanten zwei blonde Frauen. Sie sind aber ziemlich kürzer als Daphne. Außerdem sind ihre Haare sicher künstlich gefärbt.

Mindestens fünfzig Leute gehen bei mir vorbei. Dann sehe ich Daphne. Sie ist etwa zwanzig Meter von mir entfernt.

Sie schaut genau so aus, wie ich sie zuletzt gestern gesehen habe.

Es dauert keine drei Sekunden, dass sie mich sieht. In dem Moment läuft sie zu mir in höchster Geschwindigkeit wie eine Dampflokomotive.

Bis ich registriere was los ist, ist sie bei mir. Sie umarmt mich mit aller Wucht, dass ich mit dem Rücken auf dem Betonboden falle.

Gleichzeitig finden ihre Lippen meine und wir küssen uns.

Ich spüre ihre Tränen auf mein Gesicht tropfen. Nicht nur ihre, auch meine Tränen rinnen über meine Wangen.

Ich weiß es nicht, wie lange lagen wir in dieser Lage. Halbe Stunde? Eine Stunde? Auf jeden Fall so lange wie ich sonst mit niemanden geküsst habe. Mir wird es schwindlig.

Erst dann halte ich ihr Gesicht mit beiden Händen und hebe es hinauf. Ich erschrecke mich.

Ihr Gesicht ist voller Falten. Es sind sehr feine Falten, fast so, wie wenn auf ihrem Gesicht ein Spinnennetz gespannt wäre. Es sind aber Falten nicht für zwanzig, sondern für vierzig Jahre.

Wegen der Falten hat sie nicht ihre Schönheit verloren. Im Gegenteil. Jetzt ist ihr Gesicht noch interessanter.

Was mich erschreckt, ist die Vergänglichkeit. Sie ist nicht die dreiundzwanzigjährige Daphne und ich bin nicht der dreiundzwanzigjähriger Memo.

Wir können nicht unsere Beziehung nahtlos dort fortsetzen, wo sie abgebrochen war. Jetzt sind wir andere Menschen.

Ich halte ihre Hand und hebe sie auf.

Hand in Hand gehen wir langsam hinaus.

Ich gehe zum Taxistand und mache die hintere Tür von dem ersten Auto auf.

"Berggasse zweiunddreißig.", sage ich. Dort ist meine Wohnung.

Jetzt sitzen wir an dem Esstisch in meinem Zimmer gegenüber wie einst im Gasthaus Schwanen.

Ich hole zwei Gläser und entkorke eine Weinflasche.

"Auf dich!"

"Auf dich!"

"Ich bin so froh, dass du mich endlich angerufen hast.", sagt sie. "Ich habe immer gewusst, dass du eines Tages zu mir kommen wirst. Du hast dir aber sehr viel Zeit gelassen."

Ich betrachte sie. Sie ist wirklich eine schöne Frau. Auch in der Jugend habe ich einen guten Geschmack gehabt.

"Warst du auch verliebt in mich damals?", frage ich.

"Verliebt? Ich bin nicht aufgeklärt worden. Ich war noch Jungfrau. An Sex habe ich sicher nicht gedacht. Aber wie du aufgetaucht bist, habe ich gedacht, ab jetzt gehören wir zusammen. Ich werde mich von ihm niemals trennen."

Ich sage nichts.

Dann reden wir wieder wie einst im Gasthaus über den Gott und die Welt.

Beide haben sich nicht geändert. Ich will nach wie vor die Weltrevolution und sie will Gleichstellung der Frauen in der katholischen Kirche. Wir sind beide aktiv, unsere Träume zu verwirklichen.

Ich hole vom Kühlschrank Wurst und Käse. Ich habe heute auch ein Baguette gekauft.

"Meine Eltern leben nicht mehr.", sagt sie. "Erich hat fertig studiert und lebt in Deutschland. Das Gasthaus existiert nicht mehr. Ich bin völlig unabhängig. Uns kann nichts und niemand mehr trennen. Ich war vor kurzem beim Frauenarzt. Ich kann auch gesunde Kinder gebären."

Ich schweige und das Gewicht auf meiner Brust wird immer schwerer.

Sie schenkt mir ihr Herz, ihren Körper, ihre Fruchtbarkeit. Kann man von einer Frau noch größere Geschenke erwarten?

Leider ist sie weder die erste noch die letzte Frau, die mir so ein Angebot macht.

Ich glaube nicht, dass alle "normal sterblichen" Männer, die nicht nach Macht und Geld streben, so oft Heiratsangebote von Frauen bekamen wie ich.

Ich gebe zu, dass es mich schmeichelt. Aber diese Angebote machen mich nicht glücklich, sondern traurig. Ich werde ablehnen. Die Frau wird weinen. Auch ich werde weinen.

Und meine Lieben waren immer besonders schöne, feine, intelligente, gebildete Frauen. Aber Ausweglosigkeit ist Merkmal der Tragödien.

Ich schlafe in einem Hochbett. Ich steige die Treppen zuerst hinauf. Sie folgt mir.

Wir fangen an, einander auszuziehen. Sie hat nicht die geringste Scheu vor mir. Sie benimmt sich so, wie dass sie seit Jahren mit mir ein Bett teilen würde.

Ich absolviere einen Akt, der seit langer Zeit überfällig war: Ich wasche ihre Füße gründlich mit meinen Tränen. Während dessen höre ich ihr Schluchzen.

Warum sie weint, weiß ich nicht. Ich weine, weil ich ihren Schmerz fühle. Ich weine wegen dem Schmerz, den ich ihr zufügen werde.

Ich habe mit manchen Menschen sehr lange Beziehungen gehabt. Aber mit niemanden so oft gemeinsam geweint wie mit ihr.

Dann beginne ich ihren Körper zu küssen. Ich mache das, so wie ein Kleinkind eine Statue der heiligen Jungfrau in der Kirche berührt. An Sex kann ich nicht denken. Sonst geht eine Luftblase auf und bleibt von Daphne nur eine Handvoll Staub und Asche übrig.

Daphne ist meine nicht gelebte Jugend, die zwischen Todesangst, Flucht, Unterdrückung, Ausbeutung… verloren gegangen ist.

Ich lege mich neben sie und betrachte ihr Gesicht. Sie wartet eine Weile darauf, dass ich meine Liebkosungen fortsetze.

Dann sagt sie:
"Ich habe keine eigenen Kinder. Aber mich lieben viele Menschen in Lustenau wie ihre eigene Mutter. Ich war ihre Kindertante. Ich bin noch immer tätig und fix angestellt. Trotzdem bin ich bereit jederzeit zu kündigen und zu dir zu ziehen."

"Ich bin nur ein Musiker. Ich kann dich nicht ernähren."

"Ich finde auch in Wien eine Beschäftigung."

"Bleib wo du bist. Ich war seitdem nie wieder in Lustenau. Spätestens in zwei Wochen komme ich dich besuchen."


 
 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017