Zurück nach Lustenau

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
ZURÜCK NACH LUSTENAU

 

Ich bin ziemlich spät angekommen. Da ich Kettenraucher bin, hat mich die sechs Stunden lange Zugfahrt vollkommen benebelt.

Daphne holt mich vom Bahnhof ab. Ein langer Marsch beginnt.

Es wird langsam dunkel. Überall sind Betonhäuser wie Schuhschachteln. Ich kann gar nichts wiedererkennen.

Nach einem langen Marsch kommen wir zu ihrem Haus. Das ist eine sehr, sehr kleine Schuhschachtel. Davor liegt auch ein sehr kleiner Garten. Das gleiche Gebilde wiederholt sich links und rechts von uns vielmals.

Daphne holt eine leichte Jause. Ich habe eine Flasche Wein mitgebracht.

Wir trinken ein paar Gläser und legen uns ins Bett. Ich bin sehr müde. Ich spüre ihre angenehme Körperwärme auf meinem Rücken. Ich schlafe sofort ein.

Wir stehen früh auf. Daphne macht einen kräftigen Kaffee. Es gibt Butter, Schwarzbrot, Käse.

Sie sagt: "Wenn du denkst, dass ich das Gasthaus verkauft habe, irrst du dich. Ich habe mein Haus selbst finanziert. Aus meinem Einkommen als Kindertante.

Sie geht zum Kindergarten. Sie gibt mir die Hausschlüsseln.

Ich betrachte jetzt ihr Haus von innen. Ihr Haus besteht eigentlich aus nur einem Zimmer.

Hier gibt es ein Doppelbett, das man an der Wand aufklappen muss. Eine schmale Küchenzeile, aber immerhin mit Warmwasser, Geschirrspüler und Gasherd.

Den Esstisch und zwei Sesseln kann man zusammenklappen und irgendwohin stellen.

Einen antiken Gegenstand, ein Erinnerungsstück, einen Schmuck, sogar ein kitschiges Bild von einer Madonna mit Kind gibt es nicht. Nicht einmal ein Kreuz hängt an der Wand.

Hier ist alles neu, alles in weiß und vor allem alles extrem sauber.

Ich sperre die Haustür zu und gehe in den Garten.

Der Garten ist so klein, dass da nicht einmal zwei Kinder zusammenspielen können. Hier gibt es ein paar kniehohe Jungbäume, die ich nicht identifizieren kann. Ein paar verblühte und ein paar noch blühende Kleinblumen.

Ich mache die kleine Gartentür zu und beginne noch einmal Lustenau zu entdecken.

Ohne Landkarte, ohne Anweisung, gehe ich einfach los. Ich werde bestimmt Irgendetwas wiedererkennen.

Was ist das Denkmal des falsch verstandenen sozialdemokratischen Kollektivismus innerhalb des Kapitalismus, welches sich später als Denkmal der Korruption entpuppen sollte? Konsum!

Ich suche den alten Konsum in Lustenau.

Ich gehe Stunden lang ziellos herum. Ich finde den Konsum nicht. Alles schaut überall gleich aus. Nur die nicht unterscheidbaren Schuhschachteln haben sich zum Schaden der inzwischen verteilten kleinen Waldflächen vermehrt.

Ich gehe weiter und weiter. Oder kreise manchmal um dieselben Orte weiter. Ich kann mich an nichts erinnern.

Auf einmal steigt vor mir wie eine Filmkulisse aus Hollywood Gasthaus Schwanen vom Boden empor.

Das kann nicht wahr sein. Wahrscheinlich träume ich. Stundenlang nichts vertrautes und auf einmal Schwanen.

Das Haus schaut unverändert aus wie von gestern. Auch der Holzschuppen dahinter, wo Daphne die Birnen stampfte, ist unverändert da.

Nur an den Fenstern des Raumes, wo Ernst und Pia schlafen, schauen zwei junge Frauen mit Kopftüchern hinaus.

Ich bekomme plötzlich eine ungeheure Wut.

Hier wohnt eine Familie aus Lustenau. Sie haben eine Tochter. Sie heißt Daphne.

Hier wohnt auch ein junger Flüchtling. Er heißt Memo. Memo liebt Daphne über alles.

Hier ist ein Gasthaus. Hier wird Schweinefleisch gegessen. Hier wird Bier und Wein getrunken. Ihr habt kein Recht unser Haus zu besetzen und uns hinauszuschmeißen.

Ich werde jetzt einen großen Stein suchen und eure Schädel einschlagen, bis ich euch töte.

Dann wache ich wieder auf und schaue noch einmal hinauf.

Das Haus ist unverändert da. Auch der Schuppen.

Der Lindenbaum links ist auch noch immer da. Aber die Tische und Sesseln im Gastgarten sind nicht da. Auch fehlt das Holzschild mit der Aufschrift "Gasthaus Schwanen".

Jetzt ist eine andere Zeit. Das ist nicht mehr unser Haus.

Das ist ein Miethaus jetzt. Wem es gehört weiß ich nicht. Daphne hat gesagt, sie hat nichts mehr mit dem zu tun.

Diese Frauen sind wahrscheinlich Gastarbeiterinnen hier, oder Frauen und Töchter von Gastarbeitern.

Sie haben uns nicht vertrieben. Sie sind unschuldig.

Dann setze ich mich auf den Gehsteig gegenüber dem Haus auf den Boden und heule lautstark.

Die Frauen am Fenster ignorieren mich und ich ignoriere sie.

Nach einer langen Heulsession um meine Jugend stehe ich wieder auf.

Ich drehe mich um. Hinter mir, wo damals die "Metzgerei" stand, ist ein Gemüsegeschäft.

Vor dem Geschäft stehen am Gehsteig Holzkisten. In einer Kiste sehe ich prächtige Lauchstangen. Wie ich ein kleines Kind war, kochte meine Mutter immer wieder Porree. Ich habe seit langem so etwas nicht gegessen. Jetzt habe ich Lust, so etwas zu kochen. Ob es mir gelingt?

Zu den zwei großen Stangen kaufe noch ein halbes Kilo Zwiebeln und zwei Zitronen.

Dann sehe ich daneben in Plastiktöpfen ganz kleine Rosenstöcke. Auch drei davon gebe ich zu meinem großen Einkaufssack.

Den Konsum habe ich nicht gefunden. Wo ich noch ein Baguette, Olivenöl und eine Flasche guten Weißwein gekauft habe, kann ich mich nicht mehr erinnern.

Nach einem langen herumirren bin ich wieder in dem kleinen Garten von Daphne.

Da ich öfters auf der Bühne stehe, bekomme ich viele Blumen geschenkt. Auch ich schenke öfters Blumen an meine Lieben.

Weil ich kein treuer Partner seien kann, schenke ich niemals langlebige Pflanzen, sondern vergängliche Schnittblumen, damit niemand sich später an mich erinnern und traurig werden soll.

Warum schenke ich diesmal Rosenstöcke? Weiß ich nicht. Vielleicht schaut der Garten von Daphne so leer aus.

Ich stelle meinen Einkaufsack auf den Boden und beginne mit bloßen Händen in der Erde Löcher auszugraben.

Ich stelle mit einem Meter Abstand meine Rosen sorgfältig in die Erde und decke die Löcher wieder zu.

Ich gehe in das Haus. Fülle eine kleine Plastikkanne mit Wasser und begieße meine Blumen.

Jetzt mache ich den Kasten unter der Einbauküche auf und schaue hinein.

Ich hole einen relativ flachen Topf heraus. Ich schneide die Lauchstangen in Stücken gleicher Höhe und stelle sie senkrecht nebeneinander in den Topf. Erst die breiten weißen Stücke. Dann stecke ich die schmalen grünen in die Löcher dazwischen.

Dann schneide ich viele Zwiebeln sehr klein und streue sie darauf.

Dann wasche ich die Zitronen gründlich, schneide sie mit der Schale in Scheiben und verteile sie auf die Masse.

Ich gebe ein paar Löffeln Rundkornreis dazu. Dann kommt ein Kaffeelöffel Salz und ein Löffel Kristallzucker in den Topf. Jetzt begieße ich alles mit Wasser, ein Finger hoch über die Speise.

Ich stelle den Topf auf den Gasherd und decke ihn zu.

Ich lasse das Ganze auf kleiner Flamme köcheln.

Dann gebe ich die Reste in den kleinen Mistkübel in dem Kasten und putze die Küchenplatte sorgfältig. Bevor ich ein Krüppel wurde, war ich die beste und pedantischste Hausfrau in meinem Umkreis.

Sobald mein Topf Lebensgeräusche von sich zu geben begann, beginne ich mit meinen täglichen Atem- und Stimmübungen.

Ich lasse mein Gericht abkühlen und stelle es in den Kühlschrank.

Daphne kommt. Es gibt kein Wort über meine Rosenstöcke. Anscheinend hat sie sie nicht bemerkt.

Ich entkorke die Weinflasche, breche das Baguette und serviere meine kalte Suppe.

"Ich habe so etwas niemals gegessen.", sagt sie. "Wie kannst du so fein kochen? Das ist fein. Das ist fein. Du bist so fein."

Ich stehe auf, verbeuge mich vor ihr, stehe wieder auf und singe für sie exklusiv.

Mein Programm ist nicht lang aber besteht aus einem Repertoire quer aus dem Gemüsegarten.

Ein paar Lieder von Schubert, ein paar Jazzstandards, Ein Lied von Oswald von Wolkenstein und am Ende ein Lied von Sultan Selim dem dritten.

Gerade die Interpretation dieses Liedes ist eine Meisterleistung. Mit seinem neun achtel Rhythmus ist es nicht nur ein Zungenbrecher, sondern fordert durch seine sehr schnell wechselnden Stimmregisterwechsel eine außerordentliche Treffsicherheit der Intonation.

Ich beuge mich respektvoll vor meinem Publikum. Ich bekomme eine lange standing ovation.

Sie lobt mich danach lange.

"Deine Stimme ist unglaublich schön und enzigartig. In deiner Interpretation ist keine Spur von Schmalz, Kitsch, Pathos und Übertreibung. Trotzdem geht die Musik direkt in mein Herz. Weil sie so schlicht und ehrlich ist."

Sie klappt das Doppelbett hinunter und wir liegen jetzt dort. Besser gesagt, sind wir beide splitternackt und ich sitze vor ihr, zwischen ihren Beinen.

Ihre wunderschönen langen Finger streicheln meine Brust und ich genieße das.

"Du weißt, dass ich gläubig bin. Ich glaube aber nicht, dass Jesus etwas gegen die Sexualität der Frauen hatte. Ich bin eine ganz normale Frau. Ich habe nichts gegen die Männer. Ich habe auch mit verschiedenen Männern zu tun gehabt. Aber keiner war so schön, so intelligent und so fein wie du. Vor allem hat keiner mir das Gefühl gegeben, dass er meine innere Welt so mitfühlt wie du. Darum habe ich immer auf dich gewartet. Jetzt gehöre ich volkkommen dir. Ich möchte, dass du davon endlich Gebrauch machst. Wir werden bald sehr schöne, sehr intelligente Kinder auf die Welt bringen. Ich bin eine sehr erfahrene Mutter. Kinder von so einem liebevollen Mann wie du werden bestimmt sehr glückliche Kinder"

"Ich habe ein einziges Kind. Das ist die Musik. Noch ein Kind kann ich nicht verkraften. Meine Familie besteht aus Mitgliedern meines Ensembles. Ich muss weiter komponieren. Ich muss üben. Ich muss Pressekontakte aufrechthalten. Ich muss Konzerte organisieren. Zusätzlich unterrichte ich. Ich kann nicht noch eine Familie gründen. Es wäre verantwortungslos."

"Memo, mein liebster. Es gibt viele großartige Musiker, die verheiratet sind."

"Das ist richtig. Daphne! Ich liebe dich nicht nur deswegen, weil du so schön bist. Ich liebe dich vor allem deswegen, weil du so weise bist. Warum willst du nicht mein Dasein wahrhaben? Wovon du sprichst, sind richtige Männer. Ich bin aber nur ein Schmetterling. Wenn du mich in deiner Hand festhaltest, bleibt von mir nur eine Prise Staub übrig."

 


 
 
 
was bisher geschah
weiter lesen
start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017