Die Weltmaschine

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DIE WELTMASCHINE

 

Ich kann nicht jeden Abend im Gasthaus essen. Es hängt von meiner Arbeitsschicht ab. Jetzt muss ich schlafen.

Wenn ich am Abend im Gasthaus sitze, schaue ich gerne nebenbei das Fernsehen. Wenn ich aber schlafen muss, ist das ein Foltergerät. Auch wenn ich ein wunderschönes Bett mit Daunendecke und Daunenpolster habe, presse ich beides auf meinen Kopf und auch dann kann ich nicht schlafen. Natürlich kann ich von der Familie nicht verlangen, dass sie die ganzen Gäste hinausschmeißen und dieses Monster abschalten.

Immer wieder schlafe ich ein und immer wieder wache ich erschrocken auf. Ich höre keine vollen Sätze, nicht einmal Gesprächsteile, sondern nur zerfetzte Sprachklänge. Und das klingt "Arabisch". So wache ich immer wieder auf und glaube, dass ich mich in einem arabischen Land befinde.

Ich habe einige Jahre gebraucht, bis ich auf den Grund dieser Wahrnehmungsverwirrung komme.
Wenn ich vor dem Fernsehen sitze, es ist diese fremde Sprache, Deutsch, welche ich gerade lerne. Wenn ich dieselbe im Bett gedämpft höre, das ist Arabisch.

Ich habe von meinem Vater Osmanisch gelernt. Osmanisch schreibt man mit arabischen Lettern. Daher kann ich die Arabische Schrift lesen. Ich habe auch einen arabischen Wortschatz. Aber deswegen kann ich noch lange nicht behaupten, dass ich Arabisch "kann".

Linguist bin ich auch nicht.

Daher versuche ich die Erkenntnis, worauf ich mit der Zeit gekommen bin, möglichst einfach zu erklären.

In Arabisch, wenn ein Wort mit einem Vokal beginnen soll, das ist nicht ein von Anfang an "fließender" Vokal. Bevor der Vokal beginnt, macht der gespannte Stimmritz im Rachen einen Knacklaut. Gleich darauf beginnt der Stimmfluss.

Im arabischen gibt's dafür sogar ein eigenes Schriftzeichen. Das heißt "Hamza".

Auch in Deutsch gibt's eine Ähnlichkeit.

"Ein Ei" würde man Italienisch "Ainai" lesen. Darum ist Italienisch so fließend. Auf Deutsch ist das als "´Ein ´Ei" zu lesen.

Ein weiteres Beispiel ist "Beachten". Das lesen wir als "Be ´achten". Also vor dem Vokal gibt's ein kleines Husten. Darum klang mir alles damals aus der Ferne Arabisch.

Ach, die Sprachen! Ohne meine Englischkenntnisse könnte ich nicht einmal die Daphne kennenlernen.

Meine heutige Schicht beginnt um Mitternacht. Wie fast immer, auch heute bin ich unausgeschlafen. Ich verfluche den Kapitalismus.

Trotz meiner Schlaflosigkeit bin ich munter. Ich habe heute etwas vor.

Nach dem Unglück vom armen Salih habe ich meine Arbeit an der neuen Strickmaschine intensiviert. Mein Entwurf ist seit einigen Tagen fertig. Letzte Tage habe ich alles noch einmal überprüft.

Ich habe vor, das Geheimnis langsam zu lüften.

Ich hole die letzten vier Hefte aus dem Spindel und verstecke sie unter der Schachtel mit Schiflis. Jetzt warte ich auf Luigi. Diesmal habe ich mein Italiano-Heft nicht mit.

Das folgende Gespräch hat in mehreren Sprachen wie Englisch, Italienisch, Deutsch, Serbokroatisch, inklusiv Körpersprache stattgefunden.

Hier werde ich versuchen, es in gekürzter Fassung mit meinen heutigen Deutschkenntnissen zu übertragen.

"Lieber Luigi. Ich möchte dir etwas anvertrauen. Bitte sag niemanden etwas darüber."

"Wenn du nicht willst, ich sage niemanden davon."

"Ich habe eine neue Strickerei Maschine entworfen. Ohne Schiflis. Ab jetzt wird kein Mensch wegen Schiflis seinen Arm verlieren. Hier sind die Pläne."

Und gebe ich ihm meine vier Hefte.

"Wahnsinn! Wie kannst du so schön zeichnen?"

"Lange geübt. Ich habe nicht einmal Werkzeuge dafür. Kein Zirkel, keine Schablonen. Ich habe nicht einmal ein Lineal."

"Unglaublich. Hast du etwas dagegen, wenn ich Milan hole und dass wir gemeinsam alles anschauen?"

"Nein."

Nach ein paar Minuten kommt er mit Milan zurück.

"Schau, Milan, was Memo gezeichnet hat."

Milan blättert in einem Heft ein bisschen, dann schaut er mich an und sagt:

"Ich glaube nicht, dass du das gezeichnet hast."

"Wer sonst?"

"Das schaut wie gedruckt aus."

"Siehst du die Farbe nicht? Typisch Kugelschreiber."

Dann tauschen meine beiden Freunde die Hefte miteinander. Immer wieder fragen sie mich über Details und ich erkläre.

"Zuerst muss man einen Prototyp bauen. Nicht das ganze System. Nur eine einzige Einheit. So kann ich eventuelle Fehler beheben."

Fast eine Stunde wechseln die Hefte von Hand zu Hand.

Dann sagt Luigi:

"Ich bin kein Techniker, aber ich glaube, dass es funktionieren kann. Du bist ein Genie."

"Ich bin auch überzeugt.", sagt Milan. "Das wird funktionieren. Mein großer Respekt!"

Wenn meine Maschine in Lustenau zum Einsatz kommt, wird auch Daphne davon erfahren. Das wird ihr sicher imponieren. Vielleicht bekomme ich auch ein bisschen Geld und sogar die Staatsbürgerschaft. Soll ich ihr dann ein Heiratsangebot machen? Aber was mache ich dann, wenn meine Genossen mich zurückrufen?

Dann weckt mich Milan auf:

"Lieber Memo. Ich bewundere dich wirklich sehr. Aber wenn du auf mich hörst, bitte verbrenne diese Hefte so bald wie möglich."

Luigi nickt: "Auch ich denke so. Aber schmeiß sie nicht irgendwo in den Müll. Bitte verbrenne alles ordentlich. Sonst kann jemand sie finden."

Völlig überrascht sage ich: "Ich verstehe euch nicht?"

"Wenn die Leute von deiner Maschine erfahren, werden sie dich lynchen.", sagt Milan.

"Lieber Memo!", sagt Luigi. "Du siehst, dass hier alle Arbeiter ein Auto haben. Alle haben auch ein neues Haus oder bauen gerade eines. All das ist neu. Es sind nicht die Leute, die alles von ihrem Papa geerbt haben. Von ihren Eltern haben sie nur Hunger geerbt. Jetzt geht es ihnen plötzlich gut. Weißt du, wie? Es sind Bankkredite. Diese Menschen sind für Jahrzehnte verschuldet. Aber leben sie derzeit so gut wie noch nie seit Generationen. Es geht ihnen so gut, dass sogar wir von den Nachbarländern hierherkommen und uns freiwillig ausbeuten lassen, damit auch wir an ihrem Wohlstand teilhaben. Und jetzt kommt der Memo und erfindet eine neue Maschine. Weißt du was es heißt? Wir werden alle arbeitslos. Die Bank wird die Kredite zurückverlangen. Dann haben wir kein Auto und kein Haus mehr. Was sollen wir unseren Frauen sagen? Was sollen unsere Kinder essen? Die Leute werden der Reihe nach Selbstmord begehen. Aber sie werden vorher dich umbringen. Sogar werde ich nichts dagegen haben."

Ich habe diese Hefte nicht verbrannt, sondern ganz unten in meinem Koffer versteckt. Danach in verschiedenen Schubladen aufbewahrt. In den kommenden Jahren war ich mit mehreren existenziellen Problemen beschäftigt und habe sie vergessen.

Später war die Strickerei in Lustenau abgestorben. Somit sind meine Zeichnungen im Müll gelandet.

Zum Ärger meiner Eltern wollte ich keinerlei technisches Studium beginnen. Daher bin ich mit wissenschaftlichen Termini Technici nicht vertraut. Aber ich war der geborene Ingenieur.

Als kleines Kind habe ich begonnen, aus kindlicher Neugier Materialkunde zu betreiben. Alle Gegenstände, die mir unter die Hände kommen, wollte ich mit meinen Sinnen äußerlich erfassen. Dann habe ich begonnen, sie aufzumachen und ihre Innenleben zu erforschen.

Darüber schrieb ich einiges in meinem Roman "Volksschule Zihni Pascha".

Später durchforstete ich die Müllhalden und holte mir die ausrangierten alten Maschinen. Ich zerlegte sie und baute sie wieder zusammen. So kannte ich alle Geheimnisse der Mechanik, bevor ich aus der Türkei flüchtete.

In den kommenden Jahren habe ich in Wien viele Maschinen entworfen. Meiste waren Druckmaschinen. Viele davon habe ich eigenhändig gebaut. Im dritten Wiener Bezirk betrieben einige Freunde, die sich nicht in das kapitalistische System völlig integrieren wollten, ein uraltes Schmiedegeschäft weiter. Dort konnte ich einiges machen, auch drechseln. Wenn die uralten und ausgelatschten Lederriemen bis zu einem Millimeter unverzeihbare Ungenauigkeiten verursachten, musste ich das bei meinen Entwürfen berücksichtigen.

Die ersten Siebdruckmaschinen, die dreidimensionale Gegenstände wie würfelförmige Notizblöcke, zylindrische Riesenaschenbecher mit Aufschrift Milde Sorte und verschiedene Alufässer, T-Shirts… sogar riesige Surfsegeln bedrucken konnten, stammen von mir.

Ich habe niemals versucht Patente anzumelden. Die Maschinen haben sehr gut funktioniert und waren in meiner Druckerei "Memograf" zum Einsatz gekommen.

Ich war in den sechziger Jahren im Siebdruckteam von Dev-Genc (=Revolutionäre Jugend) tätig.

Unsere Werkstatt war die Eingangshalle von der Technischen Universität in Istanbul.

Bereits 1972 habe ich begonnen, in verschiedenen Wohngemeinschaften in Wien illegal Siebdruck zu betreiben. 1974 bekam ich mit Hilfe vom deutschen Grafiker Winfried Opgenoorth die offizielle Gewerbeberechtigung für Werbegrafik und Siebdruck.

Meine Maschinen waren im Betrieb, bis die digitale Umwälzung auch die traditionellen Familiendruckereibetriebe zum Konkurs brachte. Memograf ging nicht in Konkurs. Nur bin ich eines Tages, ohne jemanden darüber etwas zu sagen einfach weg gegangen. Nächsten Tag im Bett von einer fremden Frau aufgewacht, die meinen Körper mit angeblich potenzfördernden ätherischen Ölen einrieb. Danach habe ich weder diese Frau noch meine Werkstatt jemals wieder gesehen.

Die Maschinen habe ich dort gelassen. Meine Arbeiter haben ein paar Tage auf mich gewartet, dann sind sie zu den Konkurrenzbetrieben gegangen und haben gesagt: "Ich komme von Firma Memograf." Sie waren sofort weiter angestellt.

Ja, unglaubliche, märchenhafte Memograf inmitten von Wien war mein Werk. Wie dieses Phänomen plötzlich aus nichts entstanden ist, verschwand es auch auf einmal spurlos. Nachher dachte ich manchmal, vielleicht habe ich alles nur geträumt. Aber traf ich immer wieder Menschen, die mir erzählten, wie prägend die Begegnung mit Memo und sein Memograf für ihr weiteres Leben war.
Ab 1974 dreizehn Jahre lang in Wien hat es keine Demonstration gegeben, die nicht mit den bei Memograf hergestellten Plakaten angekündigt war. Vor allem die Plakate, die kein Impressum hatten und in der Nacht von den Leuten geklebt wurden, die mit einem Kübel Kleister und einer Bürste unterwegs waren, waren von mir und meinen Männern und Frauen gedruckt.

Für die linken Initiativen waren die Plakate gratis oder gegen Materialkosten. Finanziert wurde das Ganze durch die Werbung für Banken und Versicherungen sowie von der ihre Produkte von uns beschrifteten Industrie.

Zahllose Menschen haben bei Memograf gearbeitet. Viele davon nur ein paar Stunden oder Tage. Wenige waren angestellt. Wenige haben irgendwann die Meisterprüfung als Siebdrucker geschafft. Viele haben den Gehsteig vor dem Haus zusammengekehrt, oder Lastwagen ab oder auf geladen, oder Wein und Bier vom Kreisler geholt. Bei mir musste man arbeiten, damit kein Mensch als Bettler dastand. Wenn jemand sonst nichts taugte, habe ich ihm Kartoffelausschälen beigebracht.

 


Ich wuzle eine Zigarette vor der Traumfabrik in der Pramergasse/ Ecke Hahngasse. Meine Freunde arbeiten drinnen weiter. Sie brauchen keinen Chef dazu. Hier herrscht nicht die Hierarchie, sondern die Solidarität.

 

Die Werkstatt war in der Pramergasse. Büro und meine Wohnung war in der Berggasse, gegenüber der Ordination Sigmund Freuds, etwa dreißig Meter nach rechts, in der Richtung Rossauerlände, bergab hinunter entfernt. Hier waren viele Matratzen. Dank Memograf haben hier hunderte Menschen, vorwiegend illegale politische Flüchtlinge aus aller Herrenländer und andere unerwünschte Existenzen, in einer besonders kritischen Phase ihres Lebens ein warmes Bett, eine warme Suppe und ein sicheres Versteck gefunden. Betriebskoch war ich und ich war ein begnadeter Koch. Damals war der Spruch unter Ausländern in Wien berühmt: "Bei Memograf ist die Bezahlung schlecht, aber das Essen ist sehr gut".

Während des kalten Krieges war Politisches Asyl in Österreich ein Privileg für die Ostblockemigranten. Trotzdem haben viele Menschen mit meiner Hilfe irgendwie Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitsbewilligung bekommen und haben irgendwo eine richtige Beschäftigung gefunden.

Aber was erzähle ich da? Wenn ich an meinen Gesundheitszustand denke, bin ich mir nicht sicher, ob ich diesen Roman zu meiner Lebzeit fertig schreiben werde. Ich darf nicht weiter ausschweifen. Solange Firma Memograf existierte, habe ich mit Daphne keinen Kontakt gehabt. Ich komme zurück nach Lustenau.


 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017