Durch´s wilde kurdistan

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DURCH`S WILDE KURDISTAN


 

Wenn ich nicht mehr vor einem Spiegel stehe, verschwindet auch mein Spiegelbild mit mir.

Aber bei einem Foto bleibt die Vergangenheit kleben. Ist Fotografie dazu erfunden, alten Menschen weh zu tun?

Ich sehe hier Sachen, die nicht mehr existieren aber mich zum Weinen bringen.

Die Holztäfelungen an den Wänden, die massiven Sitzbänke für eine Gasthausausstattung waren die Höchstleistungen der Tischlerkunst in den sechziger Jahren. Was wurde aus dem Holz nach der Zerstörung der Ausstattung? Landete das in einer Müllhalde? Oder wurde das geheizt?

Der Großteil der Menschen, die einmal auf diesen Bänken saßen, liegen jetzt in einem Friedhof.

Ich erinnere mich aber noch immer an den Geruch dieses Raumes.

Am Tag wurde das Gasthaus genügend gelüftet. Die Tischtücher wurden täglich gewaschen und dufteten nach Waschpulver. Daphne sammelte jeden Tag frische Wiesenblumen und stellte sie in mehreren Vasen hinein.

Aber all das änderte den eigenartigen Geruch des Gasthauses nicht. Dieser Geruch ist noch immer auf diesem Foto klebengeblieben.

War dieser Geruch unangenehm? Kann ich nicht behaupten. Aber wenn ich es beschreiben soll, fallen mir keine Wörter ein. Es roch ein bisschen nach Franz Schubert und ein bisschen nach Vincent Van Gogh.

Vor allem am Tag. Und am Tag war es hier dunkel. Man konnte noch alles sehen. Aber wenn man ein Buch lesen wollte, musste man elektrisches Licht einschalten.

Am Abend herrschte hier Geschrei und Getöse wie bei einem Kirtag. Am Tag aber, wenn ich hier in der Stille allein sitze, spürte ich den Weltschmerz.

Sogar steht der kleine Aschenbecher noch immer auf dem Tisch. Auch damals war ich ein Kettenraucher und der kleine Behälter war schnell voll. Ich beharrte darauf, ihn selbst ausleeren zu dürfen.

Ich sehe nicht mehr so gut und meine Finger zittern so arg, dass ich immer wieder danebentippe. Auch das Schreiben ist mühsam geworden.

Jetzt muss ich aber eine Pause machen. Wenn ich am Abend unbedingt Essen will, obwohl ich keine Lust dazu habe, muss ich jetzt Geschirr waschen.

Wenn ich im Rollstuhl sitze, ist das Spülbecken in der Höhe von meiner Stirn. Ich habe mich auf meinen rechten Fuß gestützt und bin mit Schwung hoch hinaufgesprungen. Dann habe ich mich mit meiner linken Hand an dem Rand des Beckens angehalten. Dann habe ich nur mit meiner rechten Hand vier Gläser gewaschen. Mit einiger Übung geht auch das. Nach dem vierten Glas hat mein rechtes Bein so zu zittern angefangen wie vom Blitz getroffen. Dann musste ich mich wieder auf den Rollstuhl fallen lassen. So, jetzt bin ich wieder zurück und ich habe noch immer nicht meine übrigen Knochen gebrochen.

Woher ich dieses Foto habe? Natürlich aus dem privaten Fotoalbum von Daphne.

Ich habe vor der Veröffentlichung ihre Erlaubnis nicht gefragt. Warum?

Ich habe nichts, was ich vor ich verheimlichen sollte. Ich habe auch keine Angst, dass sie mich klagen könnte. Sie ist nicht die Frau, die sich durch mein Fellverhalten bereichern will.

Warum kontaktiere ich sie nicht?

Weil ich ihr genug weh getan habe. Ich hoffe, dass es ihr gut geht. Ich will sie nicht nach so vielen Jahren wieder an mich erinnern.

Ich tröste mich damit, dass es kaum wahrscheinlich ist, dass sie zu meinen Lebzeiten von meinem Roman erfährt. Das ist die Narrenfreiheit eines nicht berühmten Schriftstellers.

Ein paar Tage nach meiner Ankunft bin ich bei diesem Tisch mit Erich gesessen. Dass er Englisch-Konversation braucht, war die ausschlaggebende Argumentation für meine Aufnahme.

Seine feuerroten Haare erinnern mich an Nazim Hikmet. Nach jahrelanger Haft in der Türkei flüchtete der weltberühmte Dichter nach Moskau.
Auch ich bin als Flüchtling hierhergekommen. Erich hat keinen Grund zu flüchten. Was die Zukunft Österreichs betrifft, ist er zuversichtlich. Er will etwas Technisches studieren und zu der Entwicklung seines Landes beitragen.
Was ich nicht erwartet habe, sein Englisch ist mindestens so gut wie meines. Nur seine Aussprache klingt mir komisch.

Ich habe in der Mittelschule Englisch gelernt, aber konnte ich danach nicht viel mehr als "This is a book." zusammenbringen.

Dann bekam ich die Gesammelten Werke von Lenin in englischer Edition von der Sowjetbotschaft in Istanbul. Mit Hilfe von Redhouse Lexikon begann ich diese ins türkische zu übersetzen. Erst während meiner Übersetzungstätigkeit lernte ich richtig Englisch.

Ich habe sehr begrenzte Konversationserfahrung und kann nicht behaupten, dass meine Aussprache richtig ist.

Erich ist sehr intelligent und freundlich. Er ist an der Weltpolitik nicht besonders interessiert. Aber was mir an ihm gefällt, er ist von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gar nicht angerührt. Er ist richtig weltoffen.

Er ist noch sehr jung und ich habe nicht vor, eine Hirnwäsche vorzunehmen.

Dann erscheint die Daphne und setzt sich zu uns. Erich verabschiedet sich höflichst. Er muss lernen. Oder wollte er uns allein lassen? Mein eigener Bruder ist noch sehr klein. Ab jetzt werde ich Erich als meinen Bruder betrachten.

"Du bist kein Türke, oder?", sagt die Daphne.

"Nein, ich bin Kurde.", sage ich.

"Kennst du das Buch `Durchs wilde Kurdistan´?"

"Was ist das?"

"Kennst du Karl Mai nicht?"

Ich erzähle ihr, dass in der Türkei die Verwendung der Wörter "Kurde" und "Kurdistan" strengstens verboten ist und ein Buch, wo diese Wörter vorkommen, niemals veröffentlicht werden kann.

"Ist `Kara Ben Nemsi´ ein kurdischer Name?"

"Es klingt nicht kurdisch.", sage ich.

"Ich habe es mir gedacht. Karl Mai war ein gewöhnlicher Krimineller. Er war wahrscheinlich nie dort. Er hat alles im Gefängnis erfunden. Aber das ist unterhaltsam für die Kinder und alle Kinder haben seine Bücher gelesen."

"Wahrscheinlich der wildeste Kurde, der derzeit lebt, bin ich.", sage ich. "Auch bei uns gibt es gute und schlechte Menschen. Meiste Kurden und Kurdinnen sind Hirten oder Bauern. Meiste von ihnen sind ungebildet und sehr arm. Aber `Wild` sind sie nicht."

Ich vertrage Alkohol gut. Während schreiben trinke ich fast immer. Obwohl ich nicht mehr getrunken habe als gestern, fühle ich mich beschwipst. Am besten höre ich jetzt auf und schreibe morgen weiter.

"Morgen" war vor vier Tagen. Ich habe einige Stunden länger geschlafen als üblich. Wie ich aufgewacht bin, war keine Spur von Alkohol. Aber fühlte ich mich besonders kraftlos. Ich habe mir etwas zum Essen aufgewärmt. Kaum zum Essen angefangen, lag ich auf einmal unter meinem Schreibtisch. Wie ich hierhergekommen bin, weiß ich nicht. Ich liege auf dem Rücken und kann mich nicht bewegen Über mir sehe ich die massive Glasplatte auf dem Tisch. Wenn sie abgebrochen wäre, hätte ich jetzt gröbere Verletzungen.

Ich kann mich nicht bewegen. Auf meinem linken Arm habe ich ein Armband mit einem Knopf darauf. Das ist eine Art Funkgerät. Nach einer Weile schaffe ich den Knopf zu betätigen.

Ich liege nach wie vor unter dem Tisch. Mir tut alles weh. Ich kann diesen Zustand nicht mehr länger aushalten.

Nach einer Stunde kommt die Rettung. Eine junge Frau und ein junger Mann. Beide groß gewachsen, aber beide sind sehr dick.

Sie ziehen mich mit der Leichtigkeit hinaus, wie wenn ich ein Stück trockenes Brennholzscheit wäre. Jeweils mit einer Hand heben sie mich hoch und lassen mich langsam auf meinen Rollstuhl.

Blutdruck 109/60. Sollen sie mich zum Spital bringen? Ich will nicht. Beide waren sehr freundlich. Sie gehen.

Ich habe einen kleinen Dübel auf der Stirn. Sonst keine Beschwerden. Keine? Mir ist ständig schwindlig. Ich kann jederzeit wieder umfallen.

Folgende vier Tage habe ich im Bett verbracht. Ich konnte nicht einmal essen. Schreiben war unvorstellbar.

Nach vier Tagen Pause, versuche ich jetzt wieder weiterzuschreiben.

In den kommenden Jahren habe ich kaum jemand in Österreich getroffen, der über die Kurden etwas wusste. "Durch´s wilde Kurdistan" und "Karl Mai" kannten aber fast alle. Ich habe bis heute nicht das Bedürfnis gehabt, Karl Mai zu lesen.

Dann führen wir mit Daphne ein langes Gespräch, buchstäblich über Gott und die Welt.

Am Anfang habe ich große Angst. Ich kenne sie noch nicht. Was mache ich, wenn diese blonde Frau mit blauen Augen eine Rassistin ist? Bin ich bereit, meine noch nicht deklarierte Liebe zurückzuziehen?

Sie findet schrecklich, was USA in Vietnam macht.

Ich erzähle von Folterungen und Morden der Diktatur in der Türkei. Sie weint. Ich weine mit.

Sie will soziale Gerechtigkeit. Sie findet gut, wenn Reichtum umverteilt wird. Sie will nicht, dass jeden Tag auf dieser Welt tausende Kinder verhungern.

Nur, sie ist gegen Waffengewalt.

"Was glaubst du?", sage ich, "wenn die Mächtigen ihre Macht und Reichtum verlieren, werden sie das freiwillig akzeptieren?"

"Ohne Waffengewalt!", sagt sie.

"Sie haben Armeen, Polizei, paramilitärische Organisationen. Wie soll eine radikale Umwandlung friedlich stattfinden? Friedrich Engels sagt: ´Schießen sie zuerst, Monsieur Bourgeoisie!"

"Wir müssen einen anderen Weg finden.", sagt sie.

"Ich habe nichts dagegen, wenn du diesen Weg findest", sage ich.

Dann finden wir etwas, wo wir nicht einig werden: Sie glaubt an Gott. Nein, sie will mich nicht missionieren, sie hat keine religionsfanatischen Absichten. Aber sie glaubt an Gott.

Ich sehe sie bereits als meine Genossin. Wozu braucht sie diesen Gott?

Aber ich kann durchaus damit leben, dass meine Geliebte an den Ether betet.

Kann man gleichzeitig Kommunist und katholisch sein? Ja! Ich habe im Laufe meines Lebens einige Exemplare in Österreich kennengelernt.

"Hast du Zukunftspläne?", frage ich.

"Ich will Malerin werden.", sagt sie. "Ich will nach Wien. In die Kunstakademie. Ich will dort Malerei studieren."

"Und, wann willst du damit beginnen?"

"Wahrscheinlich niemals." sagt sie. "Mein Vater sagt, wehe du es versuchst. Ich breche deine Haxen."

"???"

"Mein Vater ist sehr streng. Du kennst ihn nicht.", sagt sie und beginnt zu schluchzen.

Ich umarme sie.

Sie sagt, "Ich muss arbeiten.", und sie befreit sich sanft aus meinen Armen.

Ich schaue auf meine Armbanduhr. Ich bin bald zu spät, in die Fabrik zu gehen. Ich laufe wie ein Jagdhund.

Ab jetzt weiß ich, dass ich in dieser Betonwüste von Lustenau eine Seelenverwandte habe.


 

 


 
 
was bisher geschah
weiter lesen
start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017