Die Wandlung

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DIE WANDLUNG

 

01. 09. 1971, Dienstag

Arbeitsschicht: 8.00- 16.00 Uhr

 

Ich stehe vor der Fabriktür und habe Angst hineinzugehen. Ich will zuerst überlegen. Aber kaum eine Sekunde stehe ich dort still, schiebt mich die Menschenmenge hinter mir hinein.

Kaum bin ich drinnen, werde ich weiter nach rechts verschoben. Da ist ein Raum, dessen Tür derzeit kaum zugemacht wird. Einige Leute kommen heraus und einige gehen hinein.

Ich halte mein Saz hoch und kämpfe mit Ellbogen buchstäblich, mein restliches Gepäck nachzuholen. Es dauert einige Minuten und jetzt liegt mein Hab und Gut am Boden und ich stehe schützend davor.

In dem Raum herrscht großes Gedränge und Lärm. Etwas macht ganz laut: "Ping! Ping! Ping".

Ich sehe, an der Wand ist ein Kasten. Daneben ist eine Tafel mit vielen Fächern in mehreren Reihen montiert. Alle gehen an diese Tafel, holen von einem Fach eine Karte, schieben diese in den Kasten, der Kasten macht "Ping!", dann holen sie die Karte wieder heraus und geben sie in das Fach zurück, wo sie sie herausgenommen haben.

Die meisten Leute sind brünett oder dunkelblond. Hin und da sind auch richtige Blonde. Aber hin und da auch Dunkelhaarige. Sind die Dunkelhaarigen Türken? Oder Jugoslawen? Ich weiß es nicht.

Ich lerne zwei neue Wörter: "Guten Morgen!"

Dass dürfte "Good morning!" heißen. Nur, ich höre zwei Varianten: Eine ist "Guten Morgen!" und "Morgen" mit einem "g" wie im "Gehen". Zweite Variante ist "Gutn Morgn!" und "Morgn" mit einem "g" wie im "Garten". Die zweite Variante klingt für mich besonders Deutsch. Ich entscheide mich dafür und begrüße die Luft mehrmals als Lernübung.

Ich stehe an die Wand gedrückt bewegungslos und warte, dass das Gedränge weniger wird und dass ich alles in Ruhe untersuche.

Es kommt nicht dazu. Ein großgewachsener Mann in kurzem Leibl, um die dreißig, dunkelblond, ein bisschen beleibt, er könnte in der Türkei ein Ringkämpfer sein, kommt auf mich zu.

Deutet mit seinem Zeigefinger auf mich und sagt: "Du!" Ab jetzt werde ich beginnen, meinen Namen zu vergessen. In dieser Fabrik bekomme ich einen neuen Namen: "Du!"

Er schaut mich so an, wie man einen Straßenköter anschaut. Ich schaue ihn mit meinen Falkenaugen an, woher unser Familienname kommt. Er schaut mir aber nicht in die Augen.

Ich versuche mich vorzustellen, aber er hat kein Interesse. Er gibt mir eine Karte. Darauf steht bereits mein Name wie auf dem Reisepass. Er zeigt mir, dass ich diese in den "Ping-Kasten" stecken soll. Und sagt: "Du! Stempeln! Somit lerne ich noch ein Wort: "Stempeln".

Ich tue was er will. Der Kasten macht: "Ping!". Dann hole ich sie heraus und stecke sie in ein Fach an der Tafel. Dieses Fach und meine Karte haben dieselbe Nummer. Ich merke mir diese.

Er zeigt mir auch einen Blechspindel. Mehrere solche Kästen stehen nebeneinander an der ganzen Wand. Der obere Teil gehört mir und hat darauf auch dieselbe Nummer.

Er gibt mir auch einen kleinen Schlüssel und zeigt mir mit Handbewegungen, dass ich mich schnell umziehen soll. Es ist nicht möglich, dass ich alles in den Spindel hineinbringe. Ich bringe meinen Zeitungsball und Sakko und Hose von meinem Maßanzug hinein, mache meinen Koffer auf, hole meine Samtkordhose heraus und ziehe sie an.

Er schaut mich weiterhin von oben herab an und macht Bewegungen, die darauf deuten, dass ich schneller sein soll.

Dann sagt er: "Pass!"

Will er meinen Reisepass? Soll ich ihn den geben?

Dann schreit er laut "Pass! Du! Pass! Passport!".

Bis jetzt ist mit dem Pass abgeben nichts schief gegangen. Ich gebe ihm meinen Reisepass. Aber ich habe diesmal ein komisches Gefühl. Er geht hinaus.

Hier erinnert mich alles an Militärdienst. Ich habe keinen Militärdienst geleistet. Aber genügend Männern zugehört, die das hinter sich gebracht haben. In der Türkei wurde ein Junge erst dann ein Mann, wenn er den Militärdienst absolviert hat. Diese Männer haben immer ganz stolz ihre Erinnerungen erzählt.

Wie sie beleidigt, beschimpft, mit Kieselsteinen in ihren Militärbooten und mit dreißig Kilo Gewicht auf ihren Rücken viele Kilometer zum Marschieren gezwungen waren, wie ihre Fußsohlen mit Bastonade verarbeitet wurden… und dass sie alles vertrugen, im Namen der Treue zur Heimat. So wurden sie ein richtiger Mann und übten diese Militärpraktiken auf ihren Frauen und Kindern weiter aus.

Wie schaut der Militärdienst in diesem Land aus? Keine Ahnung.

Auf jeden Fall schaut dieser Sklaventreiber sehr verweichlicht aus. Er ist sicher körperlich stärker als ich, aber ich habe Übung damit, noch stärkere Polizisten übel zuzurichten.

Seit ich von der Fabriktür hineingetreten bin, ist die Welt radikal umgewandelt. Die Welt? Ich glaube, ich selbst. Was ist mit mir passiert? Ich verpasse ihm nicht einmal ein blaues Auge.

Ich, von Natur aus ewiger Rebell, beginne zum ersten Mal zu gehorchen.

Ich bin nicht mehr in dem Land der faschistischen Diktatur. In diesem neuen Land bin ich nicht frei?
Nein. Ab jetzt bin ich eine Geisel, weil ich frei bin.

Früher rechnete ich jeden Moment mit Verhaftung, Folter und Tot. Dafür durfte ich mich gegen jegliche Autorität wehren. Jetzt rechne ich mit einem unversehrten Weiterleben in Freiheit und dafür bin ich bereit, mich jeglicher Autorität zu unterwerfen. Weil ich nicht will, in die Türkei zurück geschickt zu werden.

Nein. Ich habe nicht vor, auf Kosten meiner Genossen längere Zeit hier die Freiheit zu genießen. Ich will ein paar Monate bleiben, meine Mission erfüllen und sobald ich die Nachricht bekomme, dass die Revolution voranschreitet und meine Genossen mich brauchen, werde ich zurückkehren und weiterkämpfen.

Aber wenn ich jetzt hier auffällig werde, kann ich an die türkische Polizei oder Militär geliefert werden. Das wäre glatter Selbstmord für nichts.


So bin ich jetzt bereit, mit mir alles machen zu lassen und mich nicht zu wehren. Und dieser Zustand ist völlig neu in meinem Leben.

Der Sklaventreiber kommt wieder. Aber bringt mir meinen Pass nicht zurück. Ich kann nicht Deutsch und er kann nicht Englisch. Wie soll ich ihn fragen?

Er zeigt mir, dass ich hinausgehen soll. Ich gehe hinaus.

Gleich nach links gedreht, gibt's eine größere Tür. Er macht die Tür auf. Ein plötzlicher Höllenlärm macht mich wie gelähmt.

Er legt seine Hand auf meine Schulter und schiebt mich hinein, wie wenn ich ein Tier wäre.

Spätestens in diesem Moment sollte ich mich umdrehen und sein Knödelgesicht ordentlich herrichten.
Ich tue aber nichts.

Ich tröste mich damit, dass auch in der Türkei jedes Dorf einen Dorftrottel hat. Er ist sicher ein Sonderling und ich darf ihn nicht ernst nehmen.

Ich nehme an, dass, wenn wir weiter gehen, meine künftigen Kollegen zu uns kommen und sich vorstellen werden. Es kommt aber niemand zu uns.

Es ist ein großer Saal. Wir gehen in einem breiten Gang vorwärts. Rechts von uns sind große Maschinen. Ich schätze, dass jede Maschine drei Meter hoch und zwölf Meter lang ist. In der Tiefe sind sie höchstens eineinhalb Meter.

Zwischen den Maschinen sind jeweils zwei Meter breite Gänge.

Bei jeder Maschine steht ein Mann, manchmal stehen aber zwei Männer.

Ich versuche meine neusten Deutschkenntnisse zu üben. Ich begrüße jeden: "Gutn Morgn!"
Keiner erwidert meinen Gruß.

Bei der fünften Maschine schubst mich der Sklaventreiber weiterzugehen und schreit etwas. Ich gehe weiter und trotzdem begrüße ich jeden: "Gutn Morgn!"

Niemand schaut mich an. Niemand achtet mich.

Was ist los? In diesem neuen Land waren bis jetzt alle Menschen freundlich. Was ist jetzt geändert?
Gut, dass ich bereit bin mich nicht mehr zu wehren. Ist das der Grund? Sie können ja das nicht wissen.
Ich verstehe die Welt nicht mehr.

Ich denke an alles Mögliche aber an Rassismus denke ich nicht. Ich habe unter dem türkischen Rassismus sicher mehr als genug gelitten. Jahrelang in der Schule musste ich jeden Tag in der Früh vor Unterrichtsbeginn schreiend schwören:
"Ich bin Türke!

Ich opfere mein Dasein für das Dasein des Türkentums!"
Wir haben in der Schule gelernt, dass wir zur türkischen Rasse gehören, welche aus Zentralasien stammt.

Jeder Schüler oder Schülerin sprach einen anderen Dialekt, sogar eine andere Sprache zu Hause. Und niemand schaut wie ein Chinese aus.

Bereits in der Schule wusste ich, dass sie uns betrügen.
Ich habe mich niemals als "Türke" gesehen.
Seit ich durch die Fabriktür hinein gegangen bin, habe ich eine neue Identität bekommen: Jetzt bin ich ein "Türke".

Wie ist das passiert?

Seit ich hier bin, gehe ich im Maßanzug herum und spreche ich nur Englisch. So war ich ein Tourist und daher willkommen.

Ich habe mich bemüht, jeden Tag zwanzig Wörter zu lernen. In der Fabrik versuche ich Deutsch zu sprechen und merkt man von meinem Akzent sofort, dass ich ein "Fremder" bin.

Dazu kommt, dass sie jetzt meinen Reisepass haben und darauf steht "Republik Türkei".

Aber alles das habe ich nicht sofort, sondern erst in etwa drei Wochen verstanden.

Damals hatte ich nicht die geringste Ahnung, wo ich gelandet war. Heute, nach fünfzig Jahren weiß ich natürlich einiges darüber. Damit auch meine LeserInnen verstehen können, warum das und jenes hier so abläuft, werde ich einiges über Lustenau schreiben.

Älteste urkundliche Erwähnung des Namens Lustenau steht auf einem vom karolingischen Kaiser Karl III. unterzeichnetem Schriftstück vom Jahr 887. Dort steht die Bezeichnung "Lustenoua".
Ich hatte diesen Namen bis dahin nie gehört. Damals wusste ich nicht einmal, wie man dieses Wort ausspricht: "Luschtnoua".

Lustenau wurde mehrmals völlig ausgebrannt. Vor allem der benachbarte Fluss Rhein verwüstete öfters durch Überschwemmungen die ganze Siedlung.

Erst zwischen 1843 bis 1848 wurde der Rhein reguliert und die landwirtschaftliche Nutzbarkeit großer Teile Lustenaus ermöglicht. Aber erst ab 1890 wurden die Rheinüberschwemmungen endgültig verhindert.

Lustenau überlebte auch mehrere Kriege und wechselte öfters den Besitzer.

Die Habsburgische Armee besetzte die Gemeinde bereits 1814, aber Lustenau gehörte erst 1830 offiziell zum Habsburger Reich.

Bereits während der bayerischen Zeit begonnen, wurde die lebensgefährliche Schmugglertätigkeit zwischen Schweiz und Österreich bald Hauptbeschäftigung in Lustenau und dauerte auch im zwanzigsten Jahrhundert an.

In diesem rückständigen Agrarland lebte die Bevölkerung als armselige Leibeigenen.

Erst im neunzehnten Jahrhundert geschah ein Wunder. In der Schweiz war bereits eine Stickerei-Industrie entstanden. 1869 nahmen die Brüder Johann und Josef Hofer die ersten Plattstich-Handstickmaschinen in Vorarlberg in Betrieb. Dann wurden die modernen Schiffli-Stickmaschinen erfunden. Lustenau war Vorreiter: Kleine Familienbetriebe sind entstanden. Das war aber noch kein Wohlstand. Inklusive Kinder arbeiteten die Familienmitglieder fast Tag und Nacht. Aber das veränderte den wirtschaftlichen Zustand der Gemeinde. Lustenau war nicht mehr Armenhaus von Vorarlberg.

1914, mit dem Ausbruch des Weltkrieges brach die Stickerei-Industrie zusammen. Für das Luxusgut Stickerei war im Inland kein Absatzmarkt und exportieren war nicht mehr möglich.

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wollten die Lustenauer in der Volksabstimmung 1919 mit 89,9 % sich an die Schweiz anschließen. Das war aber politisch nicht möglich.

Während der anhaltenden Wirtschaftskriese in den 1930er Jahren wurden die Lustenauer wieder erfinderisch. Sie zündeten ihre baufälligen alten Häuser an und kassierten Entschädigungen der Versicherungen.

In dieser Zeit wurde Lustenau Hochburg der illegalen NSDAP.

Während des dritten Reiches war an die Stickerei nicht zu denken. Hauptsächliche Arbeitgeber war C. A. Steinheil & Söhne aus München und erledigte Rüstungsaufträge.

Ab 1942 wurden in Lustenau auch Zwangsarbeiter eingesetzt, und nicht nur in der Rüstungsindustrie, sondern auch in der Landwirtschaft und kleinen Familienbetrieben.

So kommen die Lustenauer zum ersten Mal in ihrem Leben in den Genuss des "Herrenmenschen"- Daseins.

Am Ende des zweiten Weltkrieges besetzten die französischen Truppen das Land und die Herrenmenschen leisteten keinen Widerstand.

Nach ein paar Jahren nach dem Krieg beginnt die Stickerei wieder aufzublühen.

Jetzt wurden die ehemaligen Schmuggler und Brandstifter zu neureichen Fabrikanten.

Bereits 1960 kommt der Wohlstand nach Lustenau und beginnt gleichzeitig auch eine blühende Bauwirtschaft.

So wurden wieder die "Zwangsarbeiter" benötigt.

So kamen die offiziell Gastarbeiter genannten Fremdarbeiter aus Jugoslawien. Sie waren Slaven oder Zigeuner. Entweder Kommunisten oder eigenartige Christen, die die katholische Kirche nicht besuchten.

Auf jeden Fall sind sie Untermenschen. Man nennt sie ohne die Herkunft dieses Begriffes zu kennen "Tschusch".

Gleichzeitig wurden als Fremdarbeiter viel mehr als die jugoslawischen auch die sogenannten "türkischen" auf Europa losgelassen.

Und was ist ein "Türke" für die deutschsprachigen Arbeiter in dieser Fabrik?

Bis ich die Bedeutung des Begriffes verstand, brauchte ich zusätzlich einige Monate.

Zuerst einmal weiß hier jeder, dass irgendwann eine Türkenbelagerung stattgefunden hat.

Die osmanischen Streitkräfte haben Wien zwei Mal belagert. Das hier noch lebende Narrativ betrifft die zweite im Jahr 1683. Die Habsburger nannten die Osmanen "Türck, Erzfeindt Christi". Für die Lustenauer, die sich eher nach Schweiz zugehörig finden, war das Schicksal von Wien völlig egal.

Aber interessant war für sie, dass diese "Türkische Rasse" gefährlich, wild und brutal war.

Nicht nur das: Die Türken waren so dumm, dass sie den falschen Propheten Mahomet anbeteten. Also sie sind die untersten Untermenschen.

Und jetzt kommen sie wieder zurück als "Zwangsarbeiter".

Man könnte sie als Lastentier benutzen, aber niemals wie Menschen behandeln, damit sie nicht aufmüpfig werden.

Wie ich erfuhr, was der Türk für Österreicher war, erfuhr ich auch, was die Österreicher für die Türken waren.

Die Nachfahren von mehr als fünfzig osmanischen Ethnien waren seit Jahrhunderten gewöhnt, sich jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung ohne Widerstand zu unterwerfen. Sie waren nicht aus den Industriearbeitern, sondern aus den ehemaligen Knechten der Großgrundbesitzer rekrutiert und sie konnten kaum lesen und schreiben. Sie akzeptierten auch die neuen Herren als Brotgeber und waren bereit, sich zu unterwerfen. Sie waren bereit, mit sich alles machen zu lassen. Die neuen Herren waren ja "Giawur", die Ungläubigen. Weil sie ungläubig waren, wurden sie in der Hölle sowieso für alle Ewigkeit verbrannt. Warum sollte man mit ihnen streiten?

Und was war meine Aufgabe in dieser Konstellation?

Bei den beiden Lagern Klassenbewusstsein des Proletariats aufzuwecken und sie im Sinne der ersten Internationale solidarisch umzuerziehen!

Habe die Ehre und Mahlzeit!



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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017