Ott Julius Strickerei Fabrik

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
OTT JULIUS STRICKEREI FABRIK

 

Morgendämmerung.

Es ist nicht kalt, aber frisch.

Ich stehe auf der Straße. Eine Skizze von dem Weg zum Bahnhof in der Hand, mein schweres Gepäck am Boden, stehe ich allein im Niemandsland.

Kein Kaffee, kein Frühstück.

Kein Lebewesen zu sehen. Ich komme mir wie der kleiner Prinz in der Wüste vor.

Ich packe meinen Koffer und gehe zwanzig Meter in die Richtung Ungewissheit und kehre wieder zurück, um den Zeitungsball mitzunehmen.

Nach einer Weile biege ich nach der Skizze rechts ab. Jetzt ist die Straße viel breiter. Ich bleibe an dem rechten Rand. Vereinzelt fahren Autos neben mir in den beiden Richtungen.

Ich biege wieder ab. Dann wieder. Der Weg bekommt kein Ende. Ich habe Angst, zu spät in der Fabrik zu erscheinen.

Nach einem ziemlich lang dauernden Marsch komme ich zu einem relativ großen Gebäude hinter einer breiten Straße. Vor dem Gebäude parken ein paar Autos.

Bahnhof Bregenz, 1971

 

Das ist kein Repräsentationsgebäude des Industriezeitalters. Keine riesige Glaskuppel, keine Eisenkonstruktion wie bei dem Eifelturm.

In der Türkei sind die Eisenbahn und Bahnhöfe mit Einsatz der christlichen Zwangsarbeiter im neunzehnten Jahrhundert vom Osmanischen Staat gebaut worden. Bahnhöfe waren etwas besonders und sollten den Reichtum des Staates präsentieren.

Waren früher die Architekten des Hofes Armenier, wurden jetzt die Deutschen bevorzugt.

Im Hauptbahnhof von Sirkeci in Istanbul zeigte man die Grenzen der Machbarkeit.

Bahnhof Sirkeci, Osmanische Jugendstil

 

Hier ist kein Bahnhof der großen Architekturkunst oder technischen Wunder. Einfach ein relativ großes Gebäude.

In der Mitte ist eine breite Doppeltür offen.

Dadurch komme ich zu einer Halle. An der Wand ist ein Schalter. Wieder eine Glasscheibe mit einem runden Loch. Dahinter sitzt ein Mann mit Brille. Ich zeige meinen Zettel: Lustenau. Und ich gebe meine Geldbörse. Ich bekomme ein Ticket.

Ich gehe durch diese Halle und komme zu einer Betonplattform. Darunter sind mehrere Schienen. Ich gehe zu einem Mann mit Uniform und zeige meinen Zettel. Er zeigt mir, wo ich warten soll.

Ich gehe dorthin, stelle mein Gepäck auf den Boden und warte. Es sind nur ein paar alte Menschen außer mir da. Und Kinder, mit Schultaschen auf ihren Rücken.

Ich habe als Schulkind meine schwere Tasche aus Leder in der Hand getragen.

Ich zünde mir eine Zigarette an und warte auf das "Tschu! Tschu! Tschu!"- Geräusch eines schwarzen Monsters, genannt Dampflokomotive.

Auf einmal steht vor mir ein längliches Gefährt ohne Geräusch und ohne Dampflokomotive. Wie wird das getrieben? Mit Benzin? Mit Strom?

Jemand macht die Tür auf und steigt ein. Ich folge ihm und hole auf mehrere ein- und aussteigen mein Gepäck.

Ich hänge vom Fenster hinaus und schaue.

Ein uniformierter Mann bläst in eine Trillerpfeife, und hebt ein rundes Schild hinauf. Wir fahren.

Kinder sind überall gleich: Machen unnötig Lärm. Ich habe die Kinder gerne. Nur bin ich jezt sehr gespannt und der Lärm stört mich.

Ich versuche mehrmals meinen Zettel zu verstehen: Ott Julius Strickerei Fabrik. Fabrik dürfte "factory" sein. Somit habe ich noch ein Wort gelernt. Aber den Rest verstehe ich nicht.

Was muss ich dort machen? "Textil" habe ich verstanden. Soll ich dort nähen? Mit der Hand? Mit der Singer Nähmaschine von meiner Mutter?

Oder soll ich die Stoffe schneiden? Wahrscheinlich liegen viele Stoffe übereinander und man schneidet alles auf einmal mit einer Maschine.

Ich war öfters in verschiedenen Fabriken als Streikunterstützer. Meine Aufgabe war Agitation und Propaganda. Das habe ich sehr gut gemacht. Gesungen, Gedichte vorgetragen, Parolen skandiert. Aber ich habe noch nie in einer Fabrik gearbeitet. Wie schaut die Arbeit in einer Fabrik aus? Gibt's dort ein Fließband?

Ich denke an die "Modernen Zeiten" von Charlie Chaplin.

Sind die Kollegen freundlich? Gibt's dort auch Frauen? Werden sie mich, den "Fremden", als Arbeitskollege akzeptieren?

Wir halten einige Male an und es steigen jedes Mal einige Kinder aus.

In meine Gedanken versunken merke ich nicht wie die Zeit vergeht. Wir sind schon in Lustenau.
Ich steige aus.

Bahnhof Lustenau. 1971

 

Hier ist der Bahnhof ein kleiner Betonklotz.

Ich sehe ein Schild vor einem kleinen Laden: Bahnhof Restaurant. Davor stehen ein paar Tische im Freien. Da sitzen ein paar alte Männer und Frauen und trinken irgendetwas. Ich habe einen Löwenhunger.

Das Wort "Restoran" kenne ich von Istanbul. Wenn ich einmal Zeit habe, werde ich hierherkommen und essen.

Ich halte meinen Zettel vor einen uniformierten Mann:
"Ott Julius Strickerei Fabrik
Augartenstr. 27"

Nach dem er mitkriegt, dass ich nicht Deutsch verstehe, erklärt er mir den Weg mit Hand und Fuß. Ich verstehe nicht ganz. Er zeigt mir den Weg noch einmal.

Ich habe Angst, zu spät zu kommen.

Dann beginnt der mühsame Marsch samt schwerem Gepäck wieder in Höchstgeschwindigkeit. Ich schwitze.

Endlich erscheint ein länglicher Betonklotz in weißer Farbe. Einstöckig. In der Mitte vom Dach ist ein Mansardenzimmer.

Vor dem Gebäude ist ein großer betonierter Parkplatz. Darauf parken fast hundert Autos. Gehören alle den Fabrikanten? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Fabrikarbeiter ein Auto besitzen kann.

Es kommen immer mehr Autos und parken. Es kommen meistens Männer zwischen dreißig und fünfzig, aber auch sehr wenige Frauen um die dreißig heraus und rennen hastig in das Haus.

Wenn ich den riesigen Parkplatz mit vielen Autos übersehe, schaut das Gebäude wie ein Gefängnis im modernen "Atatürk-Still" aus. Trostlos und Beton.

Das Mansardenzimmer dürfte der Wachturm sein. Es fehlen nur die türkische Genozid-Fahne und Stacheldraht.

Ich habe Angst hier einzutreten.

 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017