Schiffli

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
SCHIFFLI

 

01. 09. 1971, Dienstag

Arbeitsschicht: 8.00 - 16.00 Uhr

Wir gehen weiter, ich vorne, hinter mir mein Sklaventreiber. Bei jeder Maschine mache ich halt und sage ich dem jeweiligen Arbeiter: "Gutn Morgn!". Auch wenn ich keine Antwort bekomme.

Anscheinend gefällt das dem Sklaventreiber nicht. Jedes Mal gibt er mir einen Schubser und ich gehe weiter.

Ich habe bereits vierzehn Maschinen gezählt. Bei der fünfzehnten Maschine steht niemand. Nach dieser Maschine ist ein sehr breites Fenster, aber mit einem Milchglas. Nur ganz oben ist das Glas ein paar Hände breit klar und man sieht Blätter von Bäumen, vielleicht ein Teil eines Waldes.
Wir bleiben bei der letzten Maschine stehen. Vor der Maschine steht auf Sitzhöhe eine schmale Sitzbank. Er zeigt mir die Bank mit seiner Hand und ich setze mich hinauf.

Er schaut mich jetzt von oben herab an, und geht hinaus.

In einer Minute ist er wieder zurück und gibt mir zwei unbekannte Gegenstände.

Ich verstehe irgendwann, dass diese ab jetzt mir gehören und ich sie mitnehmen und gut bewahren soll.

Ich sage: "Danke!" Und er geht wieder hinaus.

Es sind aber wirklich sehr komische Dinge.

Eines davon ist ein krummer Dolch oder vielmehr eine Minisichel in etwa fünfzehn Centimeter Durchmesser. Das Messer hat einen handbreiten Holzgriff. Ganz vorne auf der Spitze ist eine kleine Kugel, damit ich mich nicht selbst verletze, wenn ich das in meine Tasche stecke.

Ich denke, dass diese Sichel zu klein ist, den Hals von meinem Sklavenhalter abzuschneiden.

Das zweite Ding ist noch merkwürdiger: Es schaut wie ein Bleistift aus Holz aus und das Holz ist unlackiert. Es ist aber halb so lang wie ein Bleistift. Statt Blei steht drinnen aber ein Stahldraht. Und kommt etwa zehn Zentimeter hinaus. Danach ist er verbogen und geht wieder fünf Zentimeter an die Seite. Ganz vorne an der Spitze hat er einen Haken wie bei einem Angelhaken.

Dieser Haken erinnert mich aber mehr als an einen Fischangel an eine Häkelnadel.

Ich kann mich wage daran erinnern, dass die Mädchen in der Schule lernten, damit irgendwelche Spitzen zu machen.

Das durfte ich nicht lernen. Dafür musste meine Mutter für mich ein Ei aus Marmor und ein Paar Socken kaufen. In der Stunde, die dafür vorgesehen war, musste ich, während die Mädchen ihre Spitzen erzeugten, Socken stopfen. Das musste ich unbedingt lernen, für den Militärdienst. Damit könnte unser heldenhaftes Heer sich die Kosten für Soldatensocken ersparen.

Ich habe beobachtet in unserem Grätzel, wenn die Mädchen in die Pubertät kommen, eifrig irgendwelche Gegenstände erzeugten, die niemand jemals brauchte. Das war für ihre Mitgift und wenn sie das nicht machen konnten, mussten sie sitzenbleiben.

Ich drehe das komische Ding zwischen meinen Fingern. Der Draht ist elastisch und federt, wenn man ihn biegt. Was wollen sie von mir? Soll ich hier Spitzen häkeln? Wozu sind diese Maschinen?

Ich sitze auf der Holzbank und versuche all das zu begreifen.

Der Sumo-Kämpfer kommt wieder zurück. Diesmal bringt er zwei große Holzkisten mit und stellt sie neben mich.

Eine Kiste ist leer. Die andere ist voll mit kleinen Gegenständen. Die sind aus Stahl und verchromt, denke ich, weil sie ganz schön glänzen.

Schiffli

 

Er nimmt ein Stück davon in die Hand, hebt es hoch und zeigt mir. "Schiffli!", sagt er und noch einmal sehr laut: "Schiff - li!"

"Schiffli", wiederhole ich und er nickt mit dem Kopf.

Ich weiß es nicht, was das heißt, aber ich denke, sowas ähnliches habe ich bei der Singer Nähmaschine von meiner Mutter gesehen.

An "ship" denke ich nicht. Es hat noch sehr lange gedauert. Dass ich begriffen habe, dass es "Schiffchen" in Luschtenaouisch hieß.

Ich habe aber diese komischen Dinge aufgehoben. Sie haben auch zahlreiche Übersiedlungen überlebt. Höchstwahrscheinlich sind sie noch immer in meiner Bibliothek in einem der oberen Regalfächer. Aber ich kann diese Fächer aus meinem Rollstuhl niemals erreichen.

Jetzt sitzt er neben mir, oder gegenüber mir auf der schmalen Holzbank. Ich denke, dass ich jetzt auf seine rechte Backe eine kräftige Watschen hauen könnte. Dann auf die linke. Dann wieder auf die rechte.

Er nimmt ein "Schiffli" in die Hand. Er zeigt mir, dass das Zeug an der Seite ein Loch mit einem Durchmesser von einem halben Millimeter hat.

Dann nimmt er die Häkelnadel in die rechte Hand. Steckt die Spitze in das Loch, zieht die Nadel heraus und es hängt ein paar Zentimeter weißer Faden heraus.

Auch ich nehme ein Stück "Schiffli" in meine linke Hand. Auch ich stecke die Nadel in das Loch und ziehe sie wieder heraus. Es kommt aber nichts heraus.

Er zeigt mir noch einmal, wie er das macht. Ich mache ihn nach. Es kommt aber wieder nichts heraus.
Zehn Mal. Zwanzig Mal. Es kommt kein Faden heraus.

Mein Sklaventreiber schreit mich an und macht komische Bewegungen. Ich verstehe nichts. Er geht hinaus.

Was geschieht jetzt? Werde ich gekündigt? Was soll ich dann essen? Wo soll ich schlafen? Was ist, wenn ich unter der nächsten Brücke schlafe? Was ist, wenn die Polizei mich dort findet? Werde ich gleich an die türkische Polizei geliefert?

Ich will nicht weiterdenken.

Ich habe keine Auswahl. Wie ein Idiot stecke ich die Nadel in das "Schiffli" hinein und ziehe sie wieder heraus. Es kommt aber nichts heraus.

Ich habe sehr begabte Hände. Ich bin Grafiker, ich spiele Saz. Wieso kann ich das nicht machen?

Ich übe hoffnungslos weiter wie ein Besessener.

Wieviel hundert Mal ich es ausprobiert habe, weiß ich nicht.

Mich schreckt ein schrilles Ringen einer Glocke wie in der Schule.

Alle gehen hastig hinaus. Ich folge den Leuten.

Jetzt sind wir in einem anderen Raum. Hier ist die Kantine.

Hinter einer Glasvitrine sehe ich Semmeln mit Käse oder auch mit etwas, das wie ein fleischfarbener Schwamm ausschaut. Dahinter steht ein Mann und verkauft fast jedem eine Flasche Bier.

Was mir aber vor allem auffiel, dass die Luft sehr übel riecht. So übel, ich kann fast speiben.

Damals hat es in der Türkei drei Sorten von Wurst gegeben. Mortadella mit Pistazien, Frankfurter und "Sucuk". Die ersten zwei waren angeblich aus Kalbfleisch. Das letzte war angeblich aus Büffelfleisch.
Meister der Sucuk war ein armenischer Familienbetrieb, "Apikoglu". Es gab auch Imitationen von anderen Firmen, aber sie bestanden aus Dachziegelmehl und Stroh.

Sucuk war eine Wurst mit scharfen Paprika und vor allem viel Knoblauch. Sucuk roch appetitanregend. Auch während des Essens war es so.

Aber wenn du in den überfüllten "Volksautobus" einsteigst und neben dir Jemand steht, der vorher Sucuk gegessen hat, benebelte er dich mit so einer Sucukfahne, könntest du speiben.

Die Luft ist stickig dicht von den Fahnen dieser Leute. Wenn ich das nicht mehr aushalte, bleibt mir nur eines übrig: Ich muss auch so etwas essen.

Ich gehe zum Schank und zeige auf eine Semmel mit Schwamm. "Leberkäse?", sagt der Verkäufer.

"One more time!", sage ich. "Leberkäse!", sagt er.

Somit lerne ich noch ein Wort. "Leberkäse".

Ich kaufe auch eine Flasche Bier.

Ich rieche meine Semmel mehrmals. Es riecht eigenartig aber nicht unbedingt so übel. Auch während des Essens genauso. Nach dem Essen verschwindet der üble Geruch in dem Raum und ich bin erleichtert.

Nach fünfzehn Minuten läutet wieder die Alarmglocke und wir marschieren hastig in die Werkhalle.

Ich setze mich wieder auf die Holzbank und setze meine sinnlose Sisyphus-Arbeit fort.

Jetzt versuche ich die Nadel nach dem Einstecken nach rechts und links zu drehen. Es ist immer dasselbe.

Diese blöde Nadel wird mir bald den Tod unter Folter kosten.

Ich drehe noch einmal kurz nach rechts und stecke sie gleichzeitig aus. Es geschah ein Wunder: Ein Stück Faden kommt heraus!

Ich versuche noch einmal. Nichts!

Noch einmal. Jetzt klappt es noch einmal.

Noch einmal: Ja! Noch einmal: Ja!

Ich kann schreien: Mein Leben ist gerettet!

Ich entjungfere alle die restlichen Schifflis.

Jetzt genieße ich in Ruhe mein Bier.

Mein Sklaventreiber mit Mondgesicht kommt zurück. Besichtigt mein Werk gründlich.

Sagt aber nicht "Bravo!", sondern deutet mir mit seiner Hand, dass ich aufstehen muss.

Ich stehe auf. Wir gehen gemeinsam zum Anfang der Maschine. Er bringt einen Schalter nach unten und das Monster beginnt zu ticken.

Kaum vergehen zwei Sekunden, macht eine kleine Glocke "Ping!".

Wir steigen auf die Holzbank und laufen dorthin, woher der Klang kommt.

Zwei Metallbalken hauen sich auf die Maschine, ein bisschen schneller als der Sekundentakt. Auf jedem Balken sind einige hundert Nadeln angebracht. Hinter den Nadeln stecken Schifflis.. Wenn ein Schiffli leer ist und die Maschine "Ping!" macht, müssen wir es schnell herausnehmen. Sofort wird der noch hängende Faden mit der "Sichel" abgeschnitten.

Ein bisschen Langsamkeit kann ein paar Finger, die ganze Hand, oder gar den Unterarm kosten.

Bei dem nächsten Takt wird das neue Schiffli hineingesteckt. Wenn man länger wartet, entsteht auf dem Gewebe ein ungewolltes Loch.

Inzwischen macht der untere Balken Ping!".

So beginnt meine Tätigkeit als Zirkusaffe auf dem Hamsterrad.

Rauf und runter, rauf und runter. Jedes Mal habe ich Angst um meine Hand. Der Gauner schaut mich fast zehn Minuten an und dann geht er schweigend weg.

Ich schwitze weiter.

Die Alarmglocke ringt wieder. Es ist sechszehn Uhr. Wir gehen wieder zu dem Raum, wo wir gestempelt haben.

Jetzt kommt ein anderer, jüngerer Mann zu mir, der anscheinend ein bisschen Englisch kann.

"You student. We have a special room for you. Private. Very cheap."

Dann gibt er mir ein Papier, dass ich unterschreiben muss. Ich unterschreibe.

Dann zeichnet er mir einen unbeholfenen Plan, wie ich dorthin gelangen soll.

Dann beginne ich mit meiner Ochsentour.

Zwanzig Meter Koffer, zwanzig Meter Zeitungsball und so weiter.

 

 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017