Vorschuss

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
VORSCHUSS

 

07. 09. 1971, Montag
Arbeitsschicht: 8.00 - 16.00 Uhr

Mein nervöses Monster schreit immer wieder "Ping!, Ping" und ich füttere es. Zwischendurch rauche ich Stuyvesant.

Schtefan kommt.

Er bringt endlich meinen Reisepass zurück. In der Mitte liegt ein gefalteter "Mestschete".

Es beruhigt mich. Er dreht sich um und will weggehen. Ich schreie nach:
"Schtefan, Du! Ich essen, ich trinken, ich rauchen. Alles Geld. Ich kein Geld. Ich wollen Geld."

Er schaut mich an. Dann nickt er mit seinem Kürbiskopf, und geht.

Ich zeichne weiter an meiner Maschine. Ich werde bald die Menschheit vom Schiffli-Übel befreien.
Leberkässemmel-Pause. Für ein Bier ist kein Geld mehr.

Ich arbeite: "Io lavoro"

Du arbeitest: "Tu lavori"

Er arbeitet: "Lui lavora"

Sie arbeitet: "Lei lavora"

Schtefan kommt. Er legt auf die Holzbank vor dem Monster ein maschingeschriebenes Blatt und zeigt mir unten eine Stelle, wo mein Name steht.

Ich mache ein Kraxl.

Er gibt mir ein hellblaues, offenes Kuvert. Drinnen ist Geld.

Ich zähle. Eintausend und fünfhundert Schilling. Das ist aber sehr viel Geld. Das ist der Monatslohn von einem Fabriksarbeiter in Istanbul.

Nur, dort habe ich ein Lira und vierzig Kurusch bezahlt für ein Paket Zigaretten, hier kostet das gleiche fünfzehn Schilling.

Kaum denke ich dran, ob der Ismail mich tatsächlich besuchen wird, ist er da.
Anscheinend ist er sehr gut gelaunt.

"Hallo, Memo!", sagt er. "Du hast versprochen, dass du mir den Gominis- mus erzählst. Aber nicht nur ein bisschen, ich will alles wissen."

Er erinnert mich nicht nur wegen seinem Dialekt, an Ömer Reis. Mit "Reis" gemeint ist ein Piratenhauptmann. Den der Ömer Reis, der alte Laz war an dem schönsten Strand in dem anatolischen Istanbul, viel gelobtes Objekt der Lieder und Gedichte "Kalamisch" zuhause.
Dort parkten die reichen Leute ihre Boote und Jachten. Ömer Reis bewachte diese und bekam dafür Almosen.

Ich glaube, das war neunzehnachtundsechzig. Mit vier weiteren Genossen mussten wir uns wieder vor der Polizei verstecken. In dem Grätzel der Superreichen würde man uns sicher nicht suchen. So gingen wir zu Ömer Reis.

Er hatte sich zwar dort eine Art Hütte von Uncle Tom gebaut, aber er selbst passte dort allein schwer hinein.

So entschlossen wir uns, hundert Meter von der Küste entfernt eine Schatzinsel aufzubauen und dort auf Moby Dick zu warten.

So holten wir Felsen von der Küste ab, aufpassend um nicht zu kentern, trugen sie hundert Meter weiter ins Meer und warfen sie dort ab.

Bald war dort ein Insel entstanden mit eine Oberfläche von zwanzig Quadratmetern. Darauf bauten wir aus allerlei Müll ein "Einfamilienhaus".

Meine Aufgabe war Eintauchen und von den Beinen der Anlagebrücke Miesmuscheln zu sammeln. Die Haut von meinen Händen war voller Risse von den scharfen Schalen der Muscheln, aber war ich damals ganz gesund und sie heilten von selbst bald. Andere Genossen fingen kleine Fische.

Mete war auch ein Kurde wie ich, aber sein Vater war kein Hirte oder Bauer ohne Grund, sondern ein Architekt und konnte sich leisten in der Küste von Kalamisch zu wohnen. Mete´s Aufgabe war uns mit Rotwein und Brot zu versorgen.

Ömer Reis hatte damals schon einen weißen Bart und weiße Haare. Er schrie immer wieder: "Ich habe nur einen Allah: Er heißt Karl Marx!"

Es war sehr aufbauend.

Nach drei Wochen habe ich meine Genossen dort verlassen und meine Odyssee in Kurdistan fortgesetzt.

Ömer Reis habe ich nie wieder gesehen.

Erst vor ein paar Jahren habe ich durch Internet erfahren, dass gleich nach dem Militärputsch März 1971, bevor ich den Faschismus verlassen habe, haben die sogenannten "Grauen Wölfe" ihn überfallen. Er hat geschrien "Es lebe der Kommunismus". Wir waren lautstark, aber unbewaffnet. Die Faschisten haben das Leben der wehrlosen lazischen Eiche mit einem Kopfschuss aus unmittelbarer Nähe beendet.

Wenn ich jemals ein Miesmuscheln sammelnder Pirat wäre, würde ich nur die Hauptmannschaft des Piraten Ömer Reis akzeptieren. Ruhe in Frieden Ömer Reis. Ich bin stolz darauf, dass ich einmal in deinem Piratenmannschaft sein durfte.

Wer und wie aus Ömer Reis einen Kommunisten gemacht hat, weiß ich nicht. Wie ich Ismail den Marxismus erklären kann, weiß ich auch nicht.

Ich fange mit "Das Kapital" und "politische Ökonomie" an.

"Lieber Ismail! Hier hat der Ot Yunus diese Maschinen gekauft. Also er hat Geld investiert. Dieses Geld nennen wir "Das Kapital". Weil er das Kaptal investiert hat, nennen wir ihn "Der Kapitalist". Angenommen diese Maschine kostet zehntausend Schilling und kann zehntausend Meter Stoff erzeugen. Also ein Meter kostet ihn einen Schilling. Dann hat er auch Baumwollfaden gekauft. Sie kosten für einen Meter fünf Schilling. Dann haben wir gearbeitet und damit ist erst der Stoff erzeugt worden. Für die Erstellung des Stoffes hat er den Arbeitern wieder fünf Schilling bezahlt. Was hat es alles zusammen ausgemacht?"

"Elf Schilling."

"Jetzt verkauft er den Stoff um zwanzig Schilling pro Meter. Was ist mit diesen neun Schilling?"
"Das ist sein Profit. Er hat ja das Geld investiert."

"Wir Kommunisten nennen diese neun Schilling "Mehrwert". Diesen Mehrwert haben wir Arbeiter geschaffen. Aber er behält es für sich. Das nennen wir Ausbeutung."

"Ich verstehe. Er hat uns Geld gestohlen. Aber ohne diese Maschinen können wir nichts erzeugen."

"Dann nehmen wir ihm die Maschinen weg."

"Das ist aber ungerecht. Er hat dafür Geld bezahlt."

"Das ist das Kapital. Womit entsteht das Kapital? Das ist der Mehrwert, dass wir erzeugt haben. Also unser Geld."

"Ich verstehe. Aber was wird der Ot Yunus sagen, wenn wir seine Maschinen wegnehmen?"

"Es wird einen Krach geben. Diesen Krach nennen wir Revolution."

"Du hast alles sehr gut erzählt. Ich habe alles verstanden. Ich habe aber noch viele Fragen in meinem Kopf. Wenn ich ein Gominis wie du sein will, was muss ich tun?"

"Bist du beschnitten?"

"Ja?"

"Das ist aber eine gute Voraussetzung. Dann musst du nur ab jetzt fünf Mal am Tag beten. Aber nicht an Allah. Wir Kommunisten glauben an ihn nicht. Du kannst entweder an Karl Marx beten oder an mich."

Er schaut mich eine Weile an. Dann legt er seine rechte Hand plötzlich an meinen Nacken und wirft mich zum Boden. Dann fangen wir an zu ringen.

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017