Die Entdeckung Europas

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DIE ENTDECKUNG EUROPAS

 

Nach der Arbeit laufe ich sofort zum Konsum. Wenn Lustenau in Europa ist, habe ich bis jetzt von diesem viel gerühmten Europa und deren Modernität nicht viel gesehen. Ist vielleicht der Konsum Europa?

Jetzt sind vor dem Konsum viele Autos geparkt. Menschen gehen ein und aus. Vor allem junge Frauen, manche mit Kleinkindern.

Ich stehe vor dem Geschäft und betrachte wieder das Schaufenster. Am Glas kleben große Plakate, die meine Sicht verkleinern. Was darauf steht kann ich nicht lesen, aber es gibt Bilder von Allerlei und daneben Preise. Und immer wieder steht geschrieben "Aktion!".

Was heißt Aktion? Bei uns heißt Aktion, wenn wir eine Bank ausrauben oder einen Streik oder eine Demonstration organisieren.

Links von mir draußen stehen hunderte von Einkaufswagen ineinandergesteckt. Sowas habe ich noch nie gesehen.

Die Leute stecken einen heraus und schieben ihn vor sich her. Ich mache das gleiche.

In der Mitte der Fassade ist eine Doppeltür aus Glas. Kaum stehe ich vor der Tür, geht sie plötzlich nach hinein auf. Ich habe die Tür nicht einmal berührt. Ich gehe ein bisschen zurück. Die Tür geht wieder zu.

Ich nähere mich wieder der Tür und sie öffnet sich wieder.

Ich schaue, ob jemand dahintersteckt und für mich die Tür auf macht. Niemand ist dahinter. Also öffnet sie sich automatisch.

Vielleicht besteht Europa aus solchen Taschentricks?

Jetzt bin ich drinnen. Waschmaschinen sehe ich.

Wir haben eine "Miele" gehabt, ein Kessel mit einem sternförmigen Hammer in der Mitte. Der Hammer hat die Wäsche so lange verprügelt, bis sie den Geist aufgibt. Danach wurde die Wäsche zwischen zwei Zylinder gesteckt und eine Stahlkurbel musste von kräftigen Männern gedreht werden, bis das Wasser ausgewürgt war.

Dann hängten wir sie im Garten an die Leine.

Diese Waschmaschinen schauen ganz anders aus. Ich betrachte sie sorgfältig. Es gibt hier auch Gestelle zum Wäschetrocknen.

Dann entdecke ich die Regale. Es ist Selbstbedienung.

Die Frauen füllen Unmengen von Lebensmitteln in die Wagen, tragen sie hinaus und verstauen sie in den Kofferraum ihres Autos. Ja, alle Frauen fahren Autos.

Mir fallen die vielen verschiedenen Konservendosen auf. Vielleicht ist das die Sozialdemokratie: Die Frauen müssen dank der Konserven nicht stundenlang kochen und können arbeiten gehen.

Dann gibt's Kühlschränke. Wenn die Leute so viel einkaufen, muss das Lebensmittel haltbar gemacht werden.

Hier gibt's auch Jeanshosen. Ich will irgendwann sowas kaufen.

Es gibt aber Obst und Gemüse. Leider keine Feigen, keine honigtropfenden Riesenpfirsiche, und keine Wasser- und Honigmelonen. Dafür aber Trauben, Birnen, Äpfel… Von allem in Hülle und Fülle.

Und Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten… Ich kann kaufen so viel ich will. Am Ende muss ich zur Kassa. Dort ist eine Waage, es wird dort gewogen.

Dann entdecke ich einen großen Kühlschrank mit Vitrine. Das ist nicht mehr Selbstbedingung.

Beim Kreisler in Istanbul hat es zwei Arten von Wurst gegeben. Knoblauchwurst und Frankfurter. Eine einzige Art Rindspeck. Schafkäse, griechischen Feta und eine Art Imitation von bulgarischer Kaschkawal. Hier gibt's unzählige Arten von Wurst und Käse.

Eine Frau packt sie in Papier, wiegt sie ab, und schreibt den Preis auf die Papierpackung. Ich kaufe ein Paar Frankfurter und eine Semmel. Sie werde ich bald roh essen.

Ich verbringe mindestens zwei Stunden im Konsum, obwohl ich weiß, dass es auf Kosten meines knappen Schlafens geht. Wenn ich bald zurückkehre, habe ich auf den Bergen Kurdistans genug zu erzählen an meine Genossen über Europa.

Das allerwichtigste ist, dass hier alle Männer und sehr viele Frauen arbeiten, niemand schläft auf der Straße und alle haben mehr als genug zum Essen.

Ist das alles mit der sozialdemokratischen Regierung zu erklären? Als Marxist denke ich, das ist eine Laune der kapitalistischen Konjunktur. Das kann jeder Zeit umkippen.

Hier gibt's alles, was ein Mensch brauchen kann. Aber ich habe weder ein Auto, die Sachen weg zu tragen, noch einen Platz, sie zu lagern.

Aber ich kaufe ein paar wichtige Sachen. Es gibt Pendeluhren aus Kunststoff. Die brauche ich nicht. Es gibt riesige Wecker wie in der Türkei. Ich finde aber einen sehr kleinen "Miniwecker". Ich kurble ihn. Er macht ordentlichen Lärm für seine Größe. Und wenn ich ihn irgendwohin stelle, hupft er herum wie ein Zwergaffe. Er hupft weiter in meinem Einkaufswagen.

Ab jetzt heißt er nicht "ein Wecker", sondern "Tarantel".

Dann entdecke ich noch ein paar nützliche Sachen: Eine kleine Aluschüssel, eine Rasierseife, eine Rasierbüste, einen Nassrasierapparat und die gleichen Rasierklingen wie ich in Istanbul verwendete: Wilkinson.

Dann entdecke ich die Flaschen, worauf "Hohes C" steht und eine halbe Orange abgebildet ist. Da es in der Türkei keinen "Tenorkult" gibt, denke ich nicht an Höhenakrobatik der Tenöre, sondern an hohen Gehalt an Vitamin C. In Istanbul ist fast um jede Ecke ein Stand, wo man Toast mit Knoblauch Wurst und einen frisch gepressten Orangensaft bekommt. Bald werde ich erfahren, dass Hohes C keine Fasern des Orangenfleisches hat und nach Zuckerwasser schmeckt.

Dann stelle ich die Sachen auf ein Fließband wie es die anderen Leute machen. Auch das ist neu für mich. Die Kassiererin tippt einige Ziffern in eine Rechenmaschine, die Maschine sagt "Klong, Klong!" und spuckt einen Zettel aus. Ich bezahle und gehe.

 

 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017