Konsum

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
KONSUM

 

Vormittag habe ich unter den Sklaven einen von ihnen gespielt, was auch mit meinem physischen Status identisch ist.

Jetzt möchte ich mich unter die Sklavenhalter mischen, noch dazu als Devisen bringender Tourist. Dazu brauche ich einen Kostümwechsel. Ich gehe zu meiner Scheißkapelle.

Ich bin sicher, dass niemand mich aus der Türkei verfolgt hat. Daher, seit ich hier bin, wenn ich irgendwohin gehe, gehe ich zielgerade. Jetzt aber wissen einige Arbeiter aus der Türkei, dass ich Kommunist bin.

Es gibt sicher irgendwo eine türkische Botschaft. Wie weit ist die nächste? Weiß ich nicht.
Es ist durchaus möglich, dass irgendein Idiot vom Lustenauer Bahnhof dorthin rennt und sagt: "Hallo! Wir haben einen Kommunisten in Lustenau."

Was ist die Aufgabe einer türkischen Botschaft? Erstens, bei jeder Angelegenheit von den Arbeitern Devisen kassieren.

Zweitens, die Oppositionellen im Ausland verfolgen, wenn möglich, umbringen.

 

Carlos Marighellas
 
 

Der Vater von Carlos Marighellas war ein italienischer Arbeiter in Brazilien. Seine Mutter war eine afrikanische Sklavin.

Er war seit 1934 Mitglied der Partido Comunista Brasileiro. 1946 war er bei der Verfassungsgebende Versammlung Bundesabgeordneter aus Bahia. 1964-1985 herrschte in Brasilien eine Militärdiktatur. Seine Antwort dagegen war die "Bewaffnete Propaganda". Er gründete die Gruppe der "Stadtguerilla".

Er wurde 1969 in einem Hinterhalt von Militärs ermordet. Ohne seine Taktiken könnte das früher geschehen.

Sein Handbuch für "Stadtguerilla" ist posthum 1970 in der Cuba-nahen Zeitschrift Tricontinental in USA erschienen und wurde prompt ins Türkische übersetzt.

Selbstverständlich habe ich das Buch sofort verschlungen.

Also ab jetzt bin ich vorsichtig. Nunmehr gehe ich nicht mehr zielgerade, sondern kehre zu meiner Gangart der letzten Jahre in Istanbul zurück. Wenn ich die Stadtguerilla-Taktiken damals nicht praktiziert hätte, wäre ich heute nicht so alt.

Das heißt, da bin ich eine kurze Strecke in die Richtung meines Ziels gegangen, bei der nächsten Ecke, je nach dem nach links und rechts gebogen, noch eine Ecke in dieselbe Richtung umgegangen, dann habe ich meinen Körper an die Mauer gepresst, und vorsichtig zurückgeschaut.
Erst nach ein paar Minuten, wenn ich sicher war, dass ich nicht verfolgt bin, bin ich bis zur nächsten Ecke weiter gegangen.

Es ist möglich, dass irgendwelche Leute zufällig denselben Weg hatten. Woher kennt man einen türkischen Geheimpolizisten?

Sie ziehen sich an wie ihr berühmter Kollege James Bond und tragen dunkle Sonnenbrillen. Auch wenn schlauere unter ihnen sich als Bankangestellte tarnen, bleibt eines immer fix: Sie haben immer Sümer-Bank Schuhe an.

Es ist nicht so leicht zu erklären, was Sümer-Bank Schuhe sind.

Ziel von Atatürk war, aus den Resten der vom osmanischen Reich übrig gebliebenen mehr als fünfzig Völkern eine "türkische Rasse" zu konstruieren. Diese Rasse musste möglichst alt sein. So machte er geniale "wissenschaftliche" Entdeckungen:

Die antike Zivilisationen wie Sumerer und Hethiter waren "Türken". Sumerer waren nunmehr Sümer -Türken und Hethiter Eti -Türken. Um seine wissenschaftlichen Thesen zu untermauern, begründete er zwei staatliche Banken: Eti-Bank und Sümer-Bank.

Sümer Bank war Träger einiger neu gegründeten staatlichen Industrien, darunter Textilindustrie. Merkwürdiger Weise wurde die Sümer-Bank mit einem Kredit von Wladimir Iljitsch Lenin finanziert und nach sowjetischer Planung konstruiert. Die Sümer-Bank hatte in vielen Orten Verkaufsgeschäfte. Die Staatsbeamten konnten dort günstig einkaufen und der Kaufbetrag wurde von ihren Gehältern in kleinen Raten abgezogen. So kauften alle Polizeibeamte ihre Schuhe von Sümer-Bank.

Die Schuhe waren schwarz, aus glänzendem Leder und langlebig. Sie hatten nur einen einzigen Makel: Sie wurden, auch nach Jahrzehnten später, nach einem Modell von der Sowjet-Union der 1930er Jahre produziert.

Also, wenn die Polizisten sich als Marilyn Monroe tarnen müssten, hatten sie immer Sümer-Bank-Schuhe.

Wenn ich in der Türkei länger leben wollte, musste ich auf solche Kleinigkeiten gut auspassen.

Auf jeden Fall, ich gehe nach Scheißkapelle nicht mehr in der Zielgerade, sondern folge den Weg von Mickey Mouse in dem "Wie kommt er hier hinaus"- Rätsel.

Ausgestattet mit meinem Maßanzug und Englisch sprechend, bin ich wieder ein Mensch. Ziellos, sehr vorsichtig und immer wieder um die Ecken Kreise ziehend gehe ich herum. Immer wieder begegne ich irgendwelchen Männern und sage sofort: "Excuse me! I look for a room to rent."

Die Leute, die ich kurz sehe, kann ich mir nicht merken. Sie schauen für mich so aus, wie die Asiaten für Europäer: Alle gleich.

Umgekehrt, bin ich anscheinend bereits wohlbekannt und berühmt. Sie sagen, bevor ich meinen Mund aufmache: "No room! Kein Zimmer!"

Und ich gehe weiter. Jetzt kommt aber ein alte Frau mir entgegen. Mit den Omas habe ich bis jetzt gute Erfahrungen gemacht. Während die Männer ein Gesicht wie der Gesichtspanzer eines Kreuzritters haben, haben die alte Frauen ein durchsichtiges Gesicht.

Obwohl ich selbst aus einer patriarchalen Gesellschaft komme, wusste ich damals nicht, dass hier der Männlichkeitswahn in manchen Aspekten traditionell eine tiefere Dimension als bei uns hatte: Die Buben wurden so erzogen, dass sie keine Emotionen zeigen dürften. Vor allem vor einem ausländischen Arbeitssklaven nicht.

Anderseits dachte ich damals sicher nicht daran, obwohl ich ein Internationalist bin, mich sehr bemühte, dass die "Fremden" mein Leid nicht sehen.

Darauf beruht das Narrativ in der Türkei, dass die Europäer "kalt" sind. Im Laufe der Zeit, nachdem ich die Sprache halbwegs beherrschte, habe ich genug Österreicher kennen gelernt, die für mich viel zu "heiß" sind.

Diese Oma wird heute mein Tagesliebling. Ihr Gesicht ist geschrumpft wie eine ägyptische Mumie. Aber ihre kleinen, blauen Augen leuchten noch immer und sie lächelt mich sehr herzhaft an.

Ich versuche bei ihr, mein frisch gelerntes Deutschvokabular auszuprobieren: "Guten Tag! Ich suchen ein Zimmer. Fremdenzimmer."

Sie sagt etwas Lustenauisch aber sehr leise. Ich verstehe es nicht. Wenn sie ein Zimmer für mich hätte, würde sie anders klingen.

Da ich bereits mit dem Rituell anvertraut bin, drehe ich mich um, gehe auf ihre linke Seite und strecke sofort meinen rechten Arm aus.

Sie legt ihre rechte Hand auf meine und wir gehen. Wohin? Wir beide wissen es nicht.

Ihr Hand ist voller Altersflecken, aber wiegt nicht mehr als ein Schmetterling.

Sie ist zwei Köpfe kleiner als ich. Sie hat nicht mehr viele Haare und zwischen den schneeweißen Büscheln sieht man ihre Kopfhaut.

Aber wir gehen. Sie geht sehr langsam aber doch gleichmäßig und stabil.

Wenn jemand vorbei kommt, halten wir ihn sofort an und fragen: "Room?" "Zimmer?"

Ich kann von meiner Anführerin nicht verlangen, dass sie wie ich Zickzackbahnen verfolgt. Aber wir gehen sowieso wie die Schildkröten. Ich drehe mich immer wieder um und schaue zurück.

Die Faschisten sind langsam. Die ersten Sümer- Bank Schuhe habe ich nach drei Monaten im Innsbrucker Bahnhof gesehen. Da ich gerade einen Kunden porträtierte, war ich leider zu spät. Von vier Meter Abstand leerten sie ihre Ladungen auf meinen Kopf aus und liefen sofort davon. Wie ich mich umdrehte sah ich, dass sie mit ihren Kugeln an der Mauer hinter meinem Kopf einen Heiligenschein gezeichnet hatten.

Wir gehen weiter. Jetzt kommt eine Frau mit einem kleinen Hund, erteilt ihm lautstark Befehle. Da sie so laut war, halten wir sie nicht an.

Ich habe hier bereits vorher ein paar Mal sowas gesehen. Hier arbeiten verhältnismäßig bestimmt viel mehr Frauen als in der Türkei. Aber es gibt einige, die statt zu arbeiten mit kleinen Hunden diskutieren.

Wenn sie in Istanbul einen Köter an der Leine führen sollte, würde man sie festnehmen und in eine Irrenanstalt einsperren. Dafür habe ich hier keine herumstreunenden Katzen und Hunde gesehen. In Istanbul sind die bettelnden Katzen sehr lästig. Aber wenn man in der Nacht einem Hunderudel begegnet, kann das sehr gefährlich sein.

Wir gehen und gehen. Mein rechter Arm wird langsam träge und schläft langsam ein.

Es sind sogar auch die kleinen Gassen asphaltiert. Aber nirgends sehe ich Kinder mit Drahdiwaberln, Murmeln oder als Fußball dienenden Blechbüchsen.

Nach einem ziemlich langen Marsch sind wir plötzlich auf einem großen Platz. Anscheinend ist das hier der Ortskern.

Hinter einem großen Parkplatz steht ein großes, einstöckiges Gebäude. Das ist genauso eine in der letzten Zeit entstandene Schuhschachtel aus Beton, aber fast die ganze Vorderfassade ist aus Glas.

Oben stehen auf Leuchtwürfeln aus Milchglas die einzelnen Buchstaben: K. O. N. S. U. M.

Jetzt stehen wir vor diesem Geschäft. Ich habe bis jetzt hier Fleischerei und Gemüsegeschäfte gesehen. Das gibt's auch in Istanbul. In Istanbul gibt's aber um jede Ecke auch einen Kreisler. Sowas habe ich hier nirgends gesehen. Wo kaufen die Leute Zucker und Salz zum Beispiel?

Was Konsum bedeutet, kann ich von meinen Englischkenntnissen ableiten. Aber was heißt das hier? Hat das mit der Sozialdemokratie etwas zu tun? Was?

Hinter dem Glas fallen mir zuerst die vielen Schaufensterpuppen auf. Ich kenne sie aus der Türkei. Sie sind barfüßig, haben aber Klumpfüße ohne Zehen. Genitalien haben sie nicht. Sie sind glatzköpfig und haben eine Hautfarbe wie die Indianer, wie ich sie mir als Schulkind vorstellte. Warum macht man sie so komisch?

Manche Puppen haben Miniröcke, andere Bikinis. Aber manche haben Anzüge, weiße, gelbe, aber nicht schwarze. Keiner davon ist so schön wie mein Maßanzug.

Schuhe und Socken stehen daneben am Boden. Am Boden gibt's auch Fußbälle, Töpfe, Schulsachen und Bügeleisen.

Ich glaube, jetzt habe ich Europa entdeckt. Ich will hier bleiben und es weiter erforschen.

Ich bedanke mich bei meiner Tagesfreundin und nehme von ihr Abschied.

 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017