Der verfluchte Tag

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DER VERFLUCHTE TAG

Ich habe Angst niederzuschreiben, was am 1. Juni 1971 geschah. In dem Moment, wo sie die Tastatur berühren, können meine Fingerspitzen sich verbrennen. Oder meine grauen Haare in Flammen aufgehen.

Ja. Ich bin ein erfahrener Historiker. Ich habe viele wissenschaftliche Forschungsarbeiten veröffentlicht. Hier bin ich aber kein Wissenschaftler, sondern ein verwirrter Junge. Ich habe auch keine Quellen, die ich untersuchen soll.

Ich bin auch kein Zeitzeuge. Was in den letzten paar Monaten meines Aufenthalts in der Türkei geschah, erfahre ich nur von Zeitungen und Radio. Und sie berichten nur das, was die Generäle befehlen.

Erst heute weiß ich, was damals ungefähr geschah. Erst nach einigen Jahren berichten mir später nach Europa geflüchtete Genossen einiges. Und seit es Internet gibt, habe ich auch einige Zeitzeugen Berichte gelesen.

Ich kaufe einige Tageszeitungen. Die Zeitungen schreiben ungefähr das:
„Die zwei Anarchisten nehmen die vierzehnjährige Sibel als Geisel und verstecken sich in einem Haus in Bezirk Maltepe in Istanbul.“

Das ist eine Wohnung im zweiten Stock eines Hauses und hat zwei Fenster zu der Straße, jedes davon ist so groß wie ein Schaufenster. Die Fenster haben Gardinen und man sieht nicht, was drinnen los ist.

Die Umgebung wimmelt von Soldaten und Polizisten. Sie posieren mit Maschinengewähren. Auf den Dächern der benachbarten Häuser sind Scharfschützen aufgestellt. Und jede Menge Pöbel hat sich versammelt. Der Pöbel will die Bösewichte lynchen. Das arme Mädchen ist in Gefahr. Und all das seit drei Tagen. Heute ist der dritte Tag.

Mir wird schlecht. Was kann ich tun? In Mersin sicher nichts. Wenn ich nach Istanbul fliege, was kann ich dort tun? Das Haus ist von Soldaten und Polizisten umzingelt. Sie verhaften mich sofort. Ohnmacht macht mich kraftlos, ich kann schwer aufrecht stehen.

Und wer sind die Bösewichte? Mahir Çayan und Hüseyin Cevahir!

Ich suche seit Monate Mahir Çayan. Ich will bei der Gründung der Partei mitwirken. Ich nehme an, dass er sich irgendwo in Kurdistan auf dem Gebirge befindet. Und jetzt ist er in Istanbul!

Hüseyin Cevahir! Ich habe ihn nie gesehen. Aber ich kann mich an seine schallende Stimme heute noch gut erinnern:

„Hebt die rote Fahne hoch! Hebt sie noch höher!“

Er und Taner Kutlay waren vor ein paar Jahren meine Zellennachbarn in den Särgen. Ich könnte damals sicher nicht daran denken, dass ich dasselbe Lied ein paar Jahre später in Deutsch singen werde:

„Wir sind die Ar- bei- ter von Wien!“

Jetzt gehe ich zum „Republik-Kebap“ und fühle ich mich wie eine lebende Leiche. Hunger habe ich, aber keine Lust zum essen.

Heute sind die „Herrschaften“ früher da. Alle wollen die Nachrichten im Radio „gemeinsam genießen.“ Ich sitze wieder mit dem Rücken zur Ausgangstür. Mir gegenüber sitzt mein Vater. Neben ihm meine Schwester. Die übliche Zeremonie wird diesmal schneller absolviert.

Das Essen ist schon serviert. Ich darf nicht auffallen. Ich nehme einen Biss, aber kann ihn kaum kauen. Ich glaube, auch meinem Vater geht es so.

Ich bin ein Christ, der an der Zuschauertribüne sitzt und zuschaut, wie seine Glaubensbrüder den Löwen zum Fraß vorgeworfen werden, und dabei Zuckerbrot frisst. Ich schäme mich unendlich. Ich muss aufpassen, dass die Faschisten meine Gefühle nicht erkennen und dass ich meinen Vater nicht in Schwierigkeiten bringe.

Es ist endlich soweit. Das Radio wird hoch aufgedreht.

„Das arme Mädchen ist gerettet. Die Anarchisten sind tot!“

Alle stehen auf und applaudieren. Nur mein Vater nicht. Und ich nicht. Meine Schwester steht auf, hebt ihre Arme halb auf, dann sieht sie uns und lächelt herum und setzt sich wieder zurück.

Dann beginnen alle Mäuler der grauen Eminenz, man könnte auch sagen „grauen Wölfe“, gleichzeitig zu jaulen.

„Lyncht die Kinderschänder!“
„Es lebe der Mehmetcik (=türkische Soldat).
„Es lebe der Staat!“
„Gott soll unseren Paschas lange Leben schenken!“

Die LeserInnen, die meinen Roman „Volksschule Zihnipascha“ gelesen haben, werden wissen, dass zwischen meinem Vater und mir ein gespanntes Verhältnis herrscht. Das hat einige Gründe.
Zuerst einmal sein Pokergesicht. Er zeigte niemals Emotionen.

Alle meine Fragen über seine Vergangenheit und Herkunft ließ er unbeantwortet.

Obwohl er mich mehrmals von dem Schlamassel gerettet hat, dass ich mit meinen Kalamitäten selbst verursacht habe, dachte ich, das sah er als seine väterliche Pflicht und seine Hilfe trifft mich nicht persönlich. Er würde so handeln, auch wenn er statt mir einen anderen Sohn hätte.

Er ließ immer wieder einige von den linken Zeitungen und Zeitschriften, mit den bestimmten Artikeln oben, auffällig auf dem Tisch offen, obwohl er sonst sehr ordentlich war. Und in dieser Zeit, bevor ich mit dem Marxismus Bekanntschaft gemacht habe. Aber mit ihm diskutieren hatte keinen Sinn. Seine Antwort war immer gleich: „Ich habe meine Meinung. Du sollst deine eigene Meinung bilden.“
Ich wusste nie, was er denkt.

Er war für mich ein nicht annähbarer Fremder.

Erst seit ich in Mersin bin, beginnt langsam zwischen uns eine Freundschaft.

Er redete kaum. Außer wenn er erwachsene Gäste hatte. Er erzählte lustige Geschichten. Und er war ein gute Erzähler. Die Gäste verkrümmten sich vor Lachen, aber er lachte nie.

Weinen? Er weinte nie. Ich könnte mir ihn nicht weinend vorstellen. Wahrscheinlich weinte er niemals in seinem Leben.

Mein Vater steht langsam auf. Holt ein großes Seidentaschentuch aus seiner Innentasche. Und dreht sich mit seinem Rücken zu uns, um. Ich nehme an, dass er seine Nase putzen wird.

Er bleibt eine Weile so. Nur seine Schultern zucken leicht. Dann dreht er sich wieder zurück, aber bleibt weiter stehen. Seine Augen sind ganz rot!

Es ist etwas unmögliches geschehen: Mein Vater hat geweint. Ich starre ihn an wie versteinert. Dann denke ich, dass ich ihn verraten kann und schaue auf meine Schwester. Auch sie hat bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt. Aber was?

„Es sind junge Menschen gestorben. Ich habe selber Kinder!“, sagt mein Vater, hält meine Schwester an der Hand und geht langsam zu Tür.

Bei der Tür sagt er, ohne sich zurück zu drehen: „Mit Erlaubnis!“ Er hat sich in jeder Situation an die altosmanische Hofetikette gehalten.

Und geht er einfach hinaus.

Ich weine nicht. Ich stehe langsam auf und folge den beiden. Nach ein paar Schritten am Gehsteig bleibt er stehen. Ich höre ihn schluchzen, von seinen Wangen rinnen Tränen hinunter.

Dann nimmt er meine Hand in seine und drückt so fest, dass ich mich schwer zurückhalte, um nicht zu schreien. Ab dem Moment weiß ich, dass er mich liebt.

Ich bleibe stehen und schaue von hinten zu, wie die Beiden Hand in Hand sich entfernen.

Ich könnte laufen wie ein gehetzter Stier in der Arena. Ich könnte brüllen wie die Zirkuslöwen. Ich weine nicht einmal. Kerzengerade gehe ich langsam in die Richtung Atatürk-Platz.

Heute weiß ich bisschen mehr, als das Radio damals gesagt hat.

Jetzt versuche ich, ohne den Wissenschaftlichkeitsanspruch des Historikers, über diesen historischen Mord Akt der Faschisten kurz zu berichten.

Mahir und Hüseyin wurden von Soldaten und Polizisten verfolgt. Sie verschanzen sich in einer Wohnung. In dieser Wohnung befindet sich ein vierzehnjähriges Mädchen. Als erste Tat bringen sie das Mädchen in ein gut geschütztes Hinterzimmer.

Sie gehen in den Raum gegenüber der Straße.

Links: Zeitungsfoto, Rechts: Hüseyin Cevahir

Der Vater von Hüseyin war gerade als Gast seiner Freunde in Deutschland. Er erfuhr von der Lage seines Sohnes dort und fliegt nach Istanbul. Er landet in Maltepe inmitten des Pöbels und sieht das von schwer bewaffneten Polizisten und Soldaten umzingelte Haus. Durch die Gardinen sieht man nicht, was drinnen los ist. Irgendwann bewegt sein Sohn die Gardinen ein wenig. In dem Moment schießt ein Scharfschütze und trifft ihn.

Die Meute stürzt in das Haus hinein. Auch der Vater von Hüseyin. Sie halten Hüseyin für Mahir und behandeln ihn als Obmann der Partei besonders: Sein Vater fand auf seinem Körper dreiundachtzig Schuss Löcher. Ob sie uns besonders gehasst haben oder vor uns besonders Angst hatten?

Die Mörder verhaften als Sippenhaftung auch den Vater. Er wird Monate lang ins Gefängnis gesteckt und schwer gefoltert.

Mahir Cayan

Auch Mahir ist schwer verletzt. Er will nicht lebendig in die Hände von diesen Menschenjägern fallen. Er schießt sich selbst in das Herz. Die Kugel trifft die Lunge und er überlebt.

Mahir konnte noch bis 27 März 1972 weiter leben. Nach einigen unvorstellbaren Abenteuern verlor er sein Leben am 27 März 1972 im niemals vergessenen „Kizildere Massaker“. Das ist aber eine andere Geschichte.

Lieber Hüseyin! Lieber Mahir! Ihr habt uns sehr jung verlassen. Eure Mörder herrschen noch immer in dem faschistischen Völker Gefängnis, wo wir aufgewachsen sind. Ihr habt kommenden Generationen gezeigt, dass der Widerstand gegen Faschismus möglich ist, egal um welchen Preis. Jetzt bin ich ein alter Mann. Ich kann nicht mehr körperlich gegen sie kämpfen. Das Einzige, was ich noch schaffe, ist schreiben.

Ich verneige mich mit Liebe und Respekt vor eurer Erinnerung.

 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017