Senegal

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
SENEGAL

 

Wie soll mein Leben weiter gehen?

Was ist meine Lebensaufgabe auf dieser Welt? Bin ich nach wie vor Botschafter des Widerstandes? Selbstverständlich. Ich habe mein Amt nicht zurückgelegt. Und ich bin stolz darauf.

Aber wen vertrete ich jetzt? Ich bin ganz sicher, dass meine Genossen irgendwo weiterkämpfen.

Soll ich sie suchen? Seit Monaten bringt meine Suche nach Genossen nichts. Ich erfahre alles aus den zensurierten Medien der Faschisten. Weitere Suche hat jetzt keinen Sinn.

Ich habe in Istanbul mit mehreren Genossen und Genossinnen falsche Namen vereinbart. Seit einigen Jahren arbeiten viele Staatsbürger der Türkei in Europa. Also ist der Briefverkehr mit Europa nicht auffällig. Ich muss zuerst einmal von diesem Land hinauskommen. Wenn ich in Sicherheit bin, kann ich mich um die Kontakte kümmern.

Einziges Ziel für mich ist jetzt außer Land zu kommen. Aber wie komme hier hinaus?

Als Botschafter der Faschisten wäre das kein Problem. Aber als Botschafter des Widerstands?

Wenn ein reelles Problem für mich nicht zu lösen scheint, löse ich es zuerst in meiner Fantasie. Ich kaufe mir weiße Gewänder ein. Mein Hemd, meine Hose, meine Socken, meine Schuhe… sind alle in weiß. Also, in meiner Fantasie bin ich ein Matrose.

Ab jetzt sitze ich jeden Tag auf der Brücke des Zollamts und beobachte die anlegenden Schiffe. Jetzt liegt hier ein größeres britisches Schiff. Das ist kein Kriegsschiff, sicher ein Frachtschiff. Ich habe keine Ahnung, was sie bringen oder abholen. Kommt es gerade von der britischen Insel? Wohin fährt es? Keine Ahnung. Vielleicht ist es nur für logistische Nachrüstung in Mersin.

Fünfzehn Meter von mir entfernt sehe ich einen der beidseitigen Deckgänge neben den Bauten von oben. Ich beobachte die dunkelhäutigen kleinen Männer am Gang auf dem Boden. Sie sind sieben an der Zahl. Sie haben etwas zerfetztes an ihren Länden. Ein Tuch? Kurze Kniehosen? Oben sind sie nackt. Schuhe haben sie auch nicht. Sie sitzen den ganzen Tag da und sind mit den Läusen und Laus-Eiern auf dem Kopf ihrer Sitznachbaren beschäftigt.

Die Briten nennen sie Paria. Sie sind die sogenannten Unberührbaren. Mahatma Gandhi nennt sie Dalit. Aber seine alles umfassende Liebe lässt sie und Schwarzafrikaner draußen.

Hin und da kommen auch die Briten vorbei. Meistens paarweise. Sie haben hellbraune Uniformen. Ich glaube nicht, dass sie Soldaten sind. Das dürfte die Uniform der Handelsfirma sein. Sie begrüßen die Inder nicht. Ohne sie anzuschauen heben sie ihre Füße hoch und gehen über ihnen weiter.

Warum sind die Paria hier? Nächsten Tag in der Früh sehe ich sie bei der Arbeit. Zwei von ihnen ließen Eimer ins Meer fallen und ziehen mit den Seilen das Wasser hinauf. Dann schütten sie es auf das Deck. Die anderen mit den Bürsten in der Hand liegen auf dem Boden im Dreckwasser und schrubben.

Der dritte Tag. Das britische Schiff fährt bald weg. Auf einmal verschwinden die Inder. Jetzt sind sie im Kesselraum. Unter dem Kessel ist der Heizofen. Jetzt schaufeln sie Kohle hinein.

Egal wo sie hinfahren, will ich mit diesen arroganten Briten nichts zu tun haben. Ich bin froh, dass dieser Alptraum weg ist.

Jetzt sind zwei arabische Fischkutter da. Die Araber haben lange Gewänder und helle Kopfbedeckungen. Wo kommen sie her? Ich glaube Syrien. Was kann ich in Syrien anfangen? Ich glaube, nicht viel.

Sie bleiben nicht einmal eine Stunde hier und fahren wieder weg.

Jetzt taucht am Horizont etwas Kleines auf. Ich bin neugierig. Ich sitze auf einem Festmacher Poller auf der Anlegebrücke und warte. Bevor ich mit meiner weißen Hose darauf sitze, habe ich den Poller mit meinem Stofftaschentuch ordentlich poliert.

Das Schiff ist ganz in säuberlich frisch gemaltem weiß und rundlich. Vielleicht eine Peking Ente?
Zehn Meter vor mir wirft das Schiff Anker. Es ist höchstens zwölf Meter lang und fünfzehn Mater, mit dem Schlott sagen wir zwanzig Meter hoch. Auf dem Rumpf steht in Großbuchstauben in Blau "SENEGAL".

Und da oben hängt die Flagge Griechenlands!

Griechenland?

Vor einigen Jahren ist der griechische König Paul I. unerwartet gestorben. Es war 1964. Sein Sohn Konstantin II. bestieg den Thron. Er stammt aus dem Haus Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg. Seine Krönung interessierte weder in Griechenland noch in der Türkei jemanden besonders. Das war im März.

Im selben Jahr im September heiratete "König der Hellenen" Prinzessin Anne-Marie von Dänemark. Das war jetzt aber sehr wichtig, sogar das wichtigste auf der Welt, zumindest für meine Mutter und ihre Nachbarinnen. Wöchentliche "Frauenmagazine" waren voll mit den Fotos des königlichen Paares.

Meine Mutter sammelte öfters die "Hausfrauen" aus der Nachbarschaft in unserem Gästezimmer. Da nicht alle lesen konnten, las eine und die anderen kommentierten laut und gestikulierend.

Was war für diese ungebildeten Frauen so wichtig bei dieser Hochzeit?

Auch diese Frauen hatten hübsche, "heiratsmäßige" Tochter. Es könnte jederzeit ein Prinz auf einem weißen Ros vorbeireiten und könnte sich in dieses Mädchen verlieben.

Die Griechen waren "ungläubig" und "Erzfeind der türkischen Rasse". War das nicht ein Hindernis, sich über die Hochzeit dieses Königs zu freuen? In diesem Fall war das egal. Das war ein König, ein richtiger König.

Aber was war für diese Frauen ein König? Meine Mutter zu fragen hatte keinen Sinn: Seit einer langen Zeit habe ich festgestellt, dass ich mich mit ihr verbal nicht verständigen kann. Also versuche ich mir vorzustellen, wie sie die Welt wahrnehmen.

In unserem Gästezimmer steht ein von allen Seiten sichtbarer Vitrinen Schrank. Drinnen stehen allerart Gegenstände, die man unter dem Begriff "Kitsch" subsummieren kann. Auf diesem Kasten sitzt die "Deutsche Braut".

Meine Mutter sah eine "Deutsche Braut", eine neumodische Puppe, in der Nachbarschaft aufgestellt. Nach wochenlangem hartnäckigen Gejammere zwang sie meinen Vater, von einem Importgeschäft mit teurerem Geld so ein "Statussymbol" zu kaufen.

Wenn man die "Deutschen Braut" aufstellt, war sie sechzig Zentimeter hoch. Auf ihrem Kopf klebten gelbe Haare. Sie hatte große blaue Augen und wenn man sie zum Schlafen legte, machte sie ihre Augen zu. Und wenn man auf ihr Herz drückt, sagte sie "Mama". Und sie trug ein aufgeblasenes barockes Hochzeitkleid. Meine Mutter war sehr stolz auf sie!

Sie war aber einsam. Wer könnte der Bräutigam sein?

Nur ein König!

Meine Mutter und ihre Nachbarinnen hatten noch nie einen König gesehen. Sie kannten den byzantinischen König aus den Spielkarten. Er trug ein Zepter in der Hand, aber war ein alter Mann und mit Vollbart.

Das passte zu der deutschen Braut nicht. Neben sie passte nur ein Nussknacker.

Nussknacker

Also ein Tambour Major!

Tambour Major der Leibgarde

 

An den Jahrestagen der diversen Genozide marschierten in Istanbul Militärkapellen. Einige Schritte voran ging ein fescher Soldat und warf sein Zepter immer wieder in die Luft. Wenn sein Stab ein paar Mal in der Luft Saltos absolvierte und er ihn wieder zurück fang, applaudierten die Zuschauer.
So musste ein richtiger König aussehen.

 

Konstantin II. mit seiner Ehefrau Prinzessin Anne-Marie von Dänemark, 1987
Bei der Hochzeit war das Paar noch sehr jung und knackig.

 

Also könnte man König Konstantin neben der deutschen Braut auf dem Vitrinen Schrank stehen lassen und es wären die Hausfrauen zufrieden. Er erfüllte alle Ansprüche.

Damals interessierte mich weder der König noch das auf Kosten des Volkes veranstaltete Affentheater von einer Hochzeit. Aber, das sollte sich bald verändern.

Georgios Papandreu war Anti Kommunist aber nach eigener Definition "Demokratischer Sozialist". Er hatte eine lange Karriere als Politiker hinter sich. Papandreu war bereits Bildungsminister im Kabinett von Venizelos. Während der Metaxas Diktatur floh er nach Kairo. Er gründete dort eine Exilregierung und wurde dessen Ministerpräsident. 1944, nach der Befreiung kehrte er nach Athen zurück und amtierte hier als Ministerpräsident. Nach dem Aufstand der Kommunisten wurde er 1945 abgesetzt.

1961 gründete er die Zentrumsunion "EK" und sammelte die Liberalen und Zentralisten um sich.
EK gewann Im November 1963 und im Februar 1964 die Wahlen. Papandreou wurde wieder Premierminister.

Ab jetzt wurde Griechenland für mich wieder interessant: Was würde ein "Demokratischer Sozialist" hier anrichten? Wie würde sich der König verhalten? Gleichzeitig flammte der Zypernkonflikt wieder auf.

im Juli 1965 setzte Konstantin II. Papandreou ab und verhinderte sehr lange Zeit die Neuwahlen.

Auf Druck der Papandreou-Anhänger lässt der König für Mai 1967 Neuwahlen zu. Es kommt aber nicht so weit. 21. April 1967 machte das Militär einen Putsch und riss die Macht an sich. Papandreou wurde verhaftet und unter Hausarrest gestellt. 1968 starb er hier.

Seine Beisetzung wurde die erste große Demonstration des Widerstands gegen die Diktatur.

Also seit 1967 herrscht die sogenannte "Obristen Diktatur" unter Oberst Papadopoulos in Griechenland. Ich und meine Genossen vermuten dahinter den CIA und erwarten mit dem allmählichen Aufwachsen der linken Bewegung in der Türkei das gleiche Schicksal für uns.

Hauptfeind der faschistischen Diktatur sind die Kommunisten. Tausende Kommunisten werden verhaftet, gefoltert und auf der Insel Gyaros in eine Art von Konzentrationslager eingesperrt. Auf dieser Insel lebt kein Lebewesen außer den Ratten und gibt's nicht einmal Trinkwasser.
Wer die Möglichkeit hat, flüchtet aus Griechenland.

Nach Griechenland flüchten kommt für mich sicher nicht in Frage.

Aber das Schiff heißt "Senegal". Warum? Weiß ich nicht. Vielleicht fährt es nach Senegal? Senegal ist in Westafrika und hat eine Küste am Pazifischen Ozean. Was mache ich in Senegal? Zumindest rette ich mein Leben. Und vielleicht kommen französische Schiffe dorthin. Das Schiff Senegal ist für mich doch interessant.

Während ich all das denke, kam der Kapitän an das Gittergelände vor der Kommandobrücke und betrachtet mich. Er ist schlank, ohne Bart, sehr fesch und höchstens fünf Jahre älter als ich. Und er trägt eine Brille mit goldenem Drahtrahmen wie ich.

Er starrt mich an und ich ihn. Er lächelt mich an und ich ihn. Ohne nach zu denken ertappe ich mich dabei, dass ich mit meiner rechten Hand ihn an winke. Er winkt zurück. Mit Hand und Fuß zeige ich ihm, dass er mich zu sich holen soll.

Neben dem Schiff ist ein kleines Boot angebunden. Zwei Matrosen klettern sofort wie die Eichkatzen in Höchstgeschwindigkeit hinunter. Jetzt sind sie bei mir und lächeln mich an. Die Burschen sind sehr jung und sehr fesch.

"Kalimera!"

"Kalimera!"

Wir klettern die Anlegebrücke hinunter. Jetzt sitzen wir im Boot. Ein Junge sitzt am Ruder und der andere paddelt wie ein Gondelführer in Hollywoodfilmen graziös.

Und an der Seite des Schiffs ist eine Metallleiter mit dünnen runden Sprossen. Im Nu stehen wir unter der Metallleiter.

Ich bin noch nie auf so etwas geklettert. Aber ich will mir das nicht anmerken lassen. Ich habe Angst. Wenn ich ins Meer falle und mich retten lasse werde ich mich lächerlich machen.

Ich atme tief ein und klettere die Leiter in einem Atemzug wie eine Katze, die auf der Spitze eines Tannenbaums einen Spatz sieht.

"Hi!"

"Hi!

Er leitet mich in sein Kabinett in der Kommandobrücke. Rundherum uns ist Glas. Er setzt sich hinter seinen Schreibtisch. Ich setze mich davor.

"My name is Günesch!"

"Kostas!", sagt er.

Er ist sehr sympathisch, aber ich kenne ihn nicht. Ich soll vorsichtig sein. Ich überlege, dass ich mit dem Wetter anfange und ihn antaste, bis ich seine Weltanschauung erfahre.

Aber ich ertappe mich dabei, dass ich plötzlich sage: "I am Communist!"

"I too, comrade!", sagt er… Und bringt seine Zeigefinger vor die Lippen.

Dann erzähle ich meine Lage ohne jede Vorsicht.

"Soweit ich hier verfolgen kann, bin ich über die Faschistische Diktatur in deinem Land informiert. Hier ist die Situation nicht viel anders. Die Faschisten haben bereits einige Genossen von mir umgebracht. Wenn ich hier bleibe, komme ich früher oder später dran. Ich muss hier weg. Genosse! Ich habe eine große Bitte: Ich bin jung, kräftig und fleißig. Kannst du mich bei dir als Matrose anstellen?"

Kostas sagt: "Wir sind komplett. Eigentlich brauche ich niemand. Hast du einen Reisepass?"

"Nein!", sage ich.

"Also. Wir fahren direkt nach Hamburg. Ich gebe dir eine Bestätigung, dass du dich in Hamburg an uns anschließen wirst. Mit dieser Bestätigung kannst du versuchen, einen Reisepass zu bekommen."

Und setzt sich gleich an die Schreibmaschine und schreibt in Englisch. Dann setzt er darunter einen Rundstempel in Griechisch, reist das Schreiben von der Maschine heraus und reicht es mir.

Ich halte seine rechte Hand mit meinen beiden Händen fest und sage "Thank you, comrade Kostas!"

"Wir sehen uns in Hamburg!", sagt er und wir verabschieden uns.

Ich habe ihn nie mehr gesehen.

Genosse Kostas!

Mein Kapitän!

Eye, eye, sir, mein Admiral!

Jetzt, wie ich diese Zeilen schreibe, bin ich bereits zweiundsiebzig Jahre alt. Dank dir, lebe ich noch immer.

Lebst du noch? Wo lebst du? Hast du Enkelkinder? Wie geht es dir?

Bruder! Du hast mein Leben gerettet. Danke! Danke! Danke!

Ich werde dich nie vergessen.


 
 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017