Trauertage

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
TRAUERTAGE

Ich schreibe diese Zeilen am 19. Dezember 2020. Jahrestag des Massakers an Aleviten und Kommunisten in der Provinz Marasch in der Türkei. Organisiert vom Geheimdienst des Staates und durchgeführt von den Grauen Wölfen. Nach offiziellen Angaben 111 Tote, 552 Häuser und 289 Werkstätten geplündert. Nach Schätzungen wtwa 1.000 Opfer!

Gibt es noch einen Staat auf der Welt, auf dessen Jahreskalender ausschließlich alle Tage eine Hinrichtung, ein Pogrom, ein Massaker oder einen Genozid markieren? Und dafür genügt allein die Berücksichtigung des zwanzigsten Jahrhunderts.

Und gibt es noch einen Staat auf der Welt im einundzwanzigsten Jahrhundert, wo die Jahrestage der diversen Genozide als Nationalfeiertage bejubelt werden?

In der sogenannten "Republik der Türkei" ist der 19. Mai ein Nationalfeiertag: "Fest der Jugend und des Sports".

Was geschah an diesem Tag?

Der Erste Weltkrieg ist mit dem Sieg der Alliierten beendet. Die Hauptstadt des Osmanischen Reiches Kostantiniyye ist unter Besatzung der United Kingdom Truppen.

Osmanische Dynastie und Staat, bereits eine Konstitutionelle Monarchie, ist nicht aufgelöst. Das Parlament ist noch aktiv.

Jedoch hat der osmanische Staat die Niederlage akzeptiert und sich mit der Besatzungsmacht arrangiert.

Mit dem Genozid 1915 sind die Armenier in Anatolia fast ausgelöscht. Bei dem Genozid spielten mehrere Räuberbanden eine große Rolle. Eine der schlimmsten von ihnen ist die Topal (=hinkende) Osman Bande. Osman, sehr reich geworden durch den Raub, befehlt bereits ein Regiment und ernennt sich selbst als Miralay (=Regimentskommandant) und setzt seine Raubmorde mit den christlichen Griechen auf der Südküste des Schwarzen Meeres fort.

Der Sultan und die britische Besatzung bekommen Nachrichten darüber und wollen die Unruhen unter Kontrolle bringen. So wurde der osmanische Pascha Mustafa Kemal (später Atatürk) beauftragt als Militärinspektor, die Lage zu inspizieren.

In einem bestimmten Gebiet der Nordanatolischen Küste am südlichen Schwarzen Meer wurde vor 3000 Jahren das Königreich Pontus gegründet. Laut Volkszählung des Osmanischen Staates leben hier im Jahr 1910 sechshunderttausend Pontus-Griechen.

Mustafa Kemal Pascha fährt mit einem Schiff über das Schwarze Meer und kommt am 19 Mai 1919 in der Provinz Samsun an Land.

Und was macht er hier? Er ernennt Topal Osman und seine Truppe zu seinem persönlichen Beschützer. Und sofort gibt Osman den Befehl, die Pontus Griechen von Baby bis Greis ausnahmslos zu vernichten.

Historiker beziffern die Genozid Opfer mit 353.000.

Atatürk schenkt den "Türken" den Tag des Genozid an den Pontus Griechen 19. Mai, als Nationalfeiertag: "Fest der Jugend und des Sports."

Was geschah mit Topal Osman? Er nahm weiter mit seiner Truppe an verschiedenen Genoziden an den Anatolischen Völkern Teil. Nebenbei beseitigt er verschiedene Rivalen von Mustafa Kamal Pascha.

Nachdem seine Macht als Alleinherrscher des Landes befestigt wurde, ließ Mustafa Kemal Pascha ihn umbringen und seine Leiche wurde an dem Eingangstor des sogenannten "Parlament" des Diktators aufgehängt.

Ein anderer verfluchter Tag, den ich in der Schule feiern musste, ist der 23. April.

Was geschah an diesem Tag?

Kostantiniyye (seit 1930 Istanbul) ist nach wie vor unter britischer Besatzung. Einige Länder des ehemaligen osmanischen Reiches sind bereits unabhängig. Die Alliierten planen Teile des Rest Gebietes nach Ethnien zu teilen. Dem Sultan bleibt sein Hof und ein Teil Anatoliens übrig. Sultan und Parlament sind mit allem einverstanden.

In West Anatolia leben seit Jahrtausenden mehrheitlich Griechen. Dieses Gebiet wird an Griechenland angeschlossen. Griechische Truppen besetzen die Stadt Smyrna (Heute Izmir).
Mustafa Kemal wurde in Thessaloniki in der Privatschule von Schimon Zwi mosaisch erzogen. In seinen späteren Aussagen bezeichnet er die Religionen als "Aberglaube". Seit 1919 versucht er sich als Anführer der islamistischen Jihadisten zu etablieren. Von "Türkentum" ist noch keine Rede.
Er und über einhundert Jihadisten Führer verschanzen sich in der mittelanatolischen Provinz Angora (heute Ankara). Es sind ein paar osmanische Paschas, die sich bereits bei den vergangenen Genoziden profilierten, einige bereits zu Tode verurteilte War Lords der Genozide und zahlreiche Hass-Prediger.

 

Sie begründen ein "Büyük Millet Meclisi"(=Große Versammlung der -sunnitisch muslimischen- Religionsgemeinschaft). In der Schule haben sie uns betrogen und das als "Große Versammlung der Nation" gelehrt. Am 23 Nisan 1923, nach dem Freitagsgebet marschieren die Jihadisten Führer "Allahu Akbar" schreiend zum selbsternannten "Parlament-Gebäude".

Dieses Gebäude ist der Angora-Club der "Einheit und Fortschritt Partei". Diese Partei kam 1908 mit einem Putsch an die Macht, führte das Osmanische Reich in den Krieg und organisierte 1915 Genozide gegen Armenier und andere nicht-Muslime.

1915 wurde das Klubgebäude auf einem armenischen Friedhof, u.a. mit Grabsteinen gebaut. Nach der Niederlage im Krieg wurde die Partei aufgelöst. Überlebende Mitglieder scharen sich jetzt um M. Kemal Pascha.

Ab 23 April 1920 wurde dieses Haus das erste "Parlament" des Kemal Pascha. eröffnet. Da er wegen seiner albanischen Mutter blond war, nannten ihn die anatolischen Bauern "Sari Pascha" (=Gelber General).

Das Parlament propagiert an die muslimischen Bauern Lügen, dass der Sultan (zugleich Kalif, Oberhaupt der sunnitischen Muslime) in britischer Gefangenschaft ist und Sari Pascha will ihm durch ein Jihad befreien.

Erste Aufgabe des Parlaments ist die Rekrutierung der Bauern als Soldaten für die Genozid Armee. Die völlig verarmten Bauern waren sehr kriegsmüde und hatten kein Interesse an neuerlichen Kriegen.

Das Parlament gründete in acht Provinzen "Istiklal Mahkemeleri" (=Befreiungsgerichte). Im Vokabular des Sari Pascha heißt Genozid, "Befreiung". Vier selbsternannte Schnellrichter reisen in Begleitung einer bewaffneten Truppe von Ort zu Ort und "richten".

Die Scharfrichter: "Schwert" Ali, "Kahlkopf" Ali, Necip Ali und Reşit Galip.

 

Am Hauptplatz werden einige junge Männer an den frisch aufgestellten Galgen aufgehängt und die Leichen werden als Abschreckung zum Fraß den Vögeln überlassen. Danach werden die "Freiwilligen" zur neuen Armee rekrutiert.

Ja. 23. April, Eröffnung der Jihadisten Führer Versammlung, schenkte der Diktator an uns als Nationalfeiertag, "Fest der Kinder".

1994 erklärte die Republik der Türkei den 23. April zum "Internationalen Tag der Kinder". Seitdem dürfen auch die deutschen Kinder, auf vom Bund finanzierten Festivitäten Genozid Fahnen aus Papier schwingend, Militär Übungen absolvieren.

Der Diktator schenkte uns viele schöne Festtage. Zum Beispiel 1. Mai: "Fest des Frühlings und der Blumen".

An diesem Tag haben alle paar Jahre Massenverhaftungen und Erschießungen stattgefunden. Bilanz des 1. Mai 1977: 34 Tote, 136 Verletzte.

Festtage des faschistischen Staates waren für mich Trauertage.

Ich kann hier nicht alle Tage des Kalenders aufzählen. Eigentlich will ich meine Trauertage, die während meines Aufenthalt in Mersin entstanden sind, erzählen.

31. Mai. Ich kann diesen Tag wegen dem nächsten Tag nicht vergessen: 1. Juni.

Aber auch am 31. Mai geschah etwas, was ich erst nach einigen Jahren erfahren sollte.
Wie ich vorher erwähnt habe, war Mahir Tschayan bemüht, die "THKP" (=Volks Befreiung Partei der Türkei) aufzubauen.

Gleichzeitig versuchten die Genossen Sinan Cemgil (gelesen Dschemgil), Hüseyin ?nan, Yusuf Aslan, Alpaslan Özdo?an (gelesen Ösdoan), Deniz Gezmis (gelesen Gesmisch) und Cihan (gelesen Dschihan) Alptekin "THKO" (=Volks Befreiung Armee der Türkei), eine Guerilla Organisation gegen Faschismus auf die Beine zu stellen.

Ich wollte mich an THKP anschließen. Aber mir war auch recht, dass ich mit THKO herumziehe. Unsere Ansichten waren nicht verschieden. THKO war hauptsächlich in Ankara organisiert. Ich war in Istanbul. Nach dem Militärputsch am 11. März 1971 verlor ich den Kontakt mit all diesen Genossen. Jetzt bereite ich mich innerlich vor, für die eventuelle Flucht nach Europa, um dort als "Botschafter der Revolution" tätig zu werden.

Wovon ich keine Ahnung hatte war, dass Sinan Cemgil mit einigen Genossen bereits in Kurdistan auf dem Nurhak Gebirge ein Guerilla Kamp errichtete.

Wir sind damals inmitten des kalten Krieges. USA errichtete in der Türkei mehrere Militärbasen, die ihre Raketen nach Moskau richteten. Bei dem ersten Funken des "Heißen Krieges" sollte die Türkei ein Pulverfass werden.

Die Guerilla Einheit unter Sinan Cemgil greift Radar Basis Kürecik an. Das türkische Militär umzingelt sie. Bei den Gefechten zwischen unverhältnismäßigen Kräften wurden Sinan Cemgil, Kadir Manga und Alparslan Özdogan getötet.

Mag sein, dass die hier vorkommenden Namen meiner Genossen für die deutschsprachige LeserInnen nur schwer aussprechbare Fremdwörter sind. Die sind aber nicht die Namen der fiktiven Romanfiguren. Sie sind für immer erloschene Sonnen auf meinem jugendlichen Himmel.

Wir waren ein paar hundert Zwanzigjährige, die gegen die zweitgrößte Armee der Nato rebellierten. Hatten wir eine Chance zu gewinnen? Diese Frage stellten wir uns nicht. Zeit und Ort, wo wir uns befanden, gab uns die Pflicht, Widerstand zu leisten.

Auch wenn ich weiß, dass sie das niemals erfahren werden, ich verbeuge mich vor der Erinnerung an meine getöteten Genossen.

Merkwürdigerweise berichteten damals die zensurierte Zeitungen über diese Sache entweder gar nichts oder sehr unauffällig. So haben weder ich noch mein Vater damals etwas darüber erfahren.
31 Mai! Ahnungslos über das Schicksal meiner geliebten Freunde komme ich von meinem Exil in der Wüste nach Mersin zurück und treffe meinen Vater im Zollamt.

"Wir gehen ein bisschen hinaus!", sagt mein Vater den Burschen und wir machen einen Spaziergang in die Innenstadt.

"Mahir und Hüseyin sind in Schwierigkeit!", sagt mein Vater.

"Die Schlagzeilen der Zeitungen sind damit voll. Das Radio macht immer wieder extra Sendungen: Die "Anarchisten" haben ein 14-jähriges Mädchen entführt und als Geisel genommen. Das Mädchen heißt Sibel."

Wir nannten uns Kommunisten. Aber seit dem Militärputsch heißen wir in den Nachrichten öfters "Anarchisten". Ich weiß nicht warum.

"Ich habe selbst eine junge Tochter.", sagt mein Vater. "Das gefällt mir nicht."

Das gefällt auch mir nicht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Mahir und Hüseyin so etwas tun.
"Komm morgen zum Republik Kebap. Die ganze Zeit ist das Radio ganz laut aufgedreht und berichtet darüber.", sagt mein Vater.

 
 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017