Trennung

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DIE TRENNUNG

 

"Ich bin so weit. Wir können fahren.", sage ich.

"Gut.", sagt Ernst. Wir tragen dein Gepäck ins Auto."

"Fahren wir jetzt?", fragt Ernst.

"Ich möchte noch von Daphne Abschied nehmen."

"Gut.", sagt er. "Wir gehen zu ihr."

Wir gehen in die Richtung Scheune. Was soll Daphne in einer Scheune suchen, wo es außer eine Badewanne und tonnenweise Birnen nichts gibt?

Daphne wird mich bald fest umarmen. Sie wird sicher weinen. Vielleicht küsst sie mich zum ersten Mal. Ich bekomme wieder heftiges Herzklopfen.

Ernst macht die Tür auf und ich sehe sie.

Die Badewanne ist halbvoll mit den Birnen. Darauf steht Daphne barfüßig und stampft sie mit aller Kraft. Sie hat nur ein dünnes Nachthemd. Von ihrer Stirn rinnen Schweißtropfen hinunter. Das Hemd ist waschelnass, dadurch durchsichtig und klebt an ihrem Körper. Am liebsten will ich ihre nassen Füße küssen und schlecken.

 

 

Die Muskeln an ihren Waden und Schenkeln bewegen sich heftig wie die Triebstangen einer Dampflokomotive.

Ich bin so erregt, bekomme ich einen steifen Penis. Ich fürchte mich, dass ich mich zu einem wilden Stier umwandeln werde.

Sie sieht mich. Hebt den Zeigefinger ihrer rechten Hand hinauf und sagt: "Hi!"

Auch ich presse ein "Hi!" aus mir mühsam.

Sie dreht sich sofort mit dem Rücken zu mir und stampft weiter wie ein Verrückter.

Auf einmal fällt die gesamte Trauer des Himmels auf meinen Kopf. Bin ich für sie nicht einmal Wert, Abschied zu nehmen?

War ich für sie immer derart gleichgültig? Hat sich die ganze Liebe nur in meiner Fantasie abgespielt?

Wir haben bis jetzt nicht einmal uns geküsst, aber einige Male uns umarmt und gemeinsam geweint. Das sollte zumindest eine Abschiedszeremonie Wert sein. Sie hat mit mir nicht einmal Händegeschüttelt.

Ich erstarre wie gelähmt an der Tür und kann mich nicht mehr bewegen.

"Beeile dich!", sagt Ernst. "Sonst verpassen wir den Zug."

Ich kann schreien aber sage ich nichts.

Ab jetzt sehe ich sie für immer als Verräterin. Ich bin nicht nur sehr traurig, sogar böse.

Erst im Zug nach Innsbruck beginne ich laut zu heulen. Und das bis zum Ziel.

Auch in den folgenden Jahren dachte ich immer wieder an sie. Jedes Mal wurden meine Augen nass.

Gleichzeitig versuchte ich sofort, etwas anderes zu denken. Sie war die Verräterin.

Das war Mitte Oktober 1971.

Nach mehr als fünfzig Jahren schreibe ich darüber.

Jetzt denke ich ganz anders.

Was sollte die arme Frau tun?

Ich habe nur Ernst erzählt, dass ich wegfahren will, und angenommen, dass er die ganze Familie davon benachrichtigt hat. Vielleicht wusste sie nichts davon. Vielleicht dachte sie, wir fahren zum Birnen pflücken.

Vielleicht genierte sie sich, dass sie halb nackt war. Oder genierte sich wegen ihrer minderwertigen Tätigkeit.

Sie könnte mich in ihrem Zustand nicht umarmen. Sie müsste von der Wanne heraussteigen, sich duschen, abtrocknen und umziehen. Das würde lang dauern. Dann würde ihr Vater wegen der nicht beendeten Arbeit ihr böse sein. Außerdem wollten wir uns beeilen.

Aber wenn das heute wäre, würde ich ganz anders handeln.

Ich habe die Zimmermiete für den ganzen Monat Oktober bezahlt. Ich könnte noch zwei Tage dortbleiben. Ich könnte sie irgendwann allein treffen und alles erzählen. Ich könnte ihr sagen "Ich liebe dich!"

Ich könnte ihr von Innsbruck eine Postkarte schicken und irgendwann wieder zurückkommen.

Ich könnte vieles anders machen.

Das ist die Alters-Weisheit. Aber gleichzeitig habe ich die Altersschwäche. Ich kann nicht mehr handeln.

Die Zeit kehrt niemals wieder zurück.

Wenn ich damals so denken könnte wie jetzt, würde ich nicht sie als Verräterin beschuldigen, sondern selbst Verantwortung übernehmen und noch zwei Tage dortbleiben. Da könnte vieles passieren.

Weil ich noch sehr unerfahren und unvorsichtig war, wäre es möglich, dass ich heute meine verrückten Geschichten nicht niederschreiben, sondern meinen Enkelkindern erzählen würde.

 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017