Anna

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
ANNA

 

1994, Herbst.

Da ich auf dem Rollstuhl meine kleine Hütte nicht verlassen kann, habe ich seit einigen Jahren keine Chance neue Menschen kennenzulernen. Aber früher kamen jeden Tag neue Menschen zu mir. Und ich war immer leutselig. Nur bald kam die Frage der neu kennengelernten: "Was machst du beruflich?"

Diese Frage brachte mich immer wieder in Verlegenheit.

Ich war fast immer selbstständig. Vor allem war ich mehrfach handwerklicher Meister. Ich führte immer wieder Projekte durch. Wenn ein Auftrag erledigt war und ich in diesem Beruf keinen Job fand, probierte ich meine Chance in einer anderen Branche.

Ich fing immer als Hilfsarbeiter an, und beobachtete den Meister. Nach ein paar Wochen bat ich ihn, eine Teilarbeit allein machen zu dürfen. Bald sagte der Meister: "Warum hast du nicht gesagt, dass du das kannst?" So wurde ich mehrfach Meister, ohne jemals Lehrling zu sein.

Ich führte später mit meinem eigenen Team Aufträge durch. Offiziellen Stempel nach der Fertigstellung gab gegen Bezahlung irgendein Meister.

So fange ich an, meine Berufe aufzuzählen. Bald sagt mein Zuhörer: "Stopp! Du lügst. Ein Leben reicht nicht, so viele Berufe zu lernen."

Was kann ich dafür? Immer wieder war ich ein paar Tage arbeitslos. Bevor ich verhungere, habe ich einen neuen Beruf gelernt.

Im Herbst 1994 bin ich hauptsächlich Musiker. Ich singe, komponiere und leite das siebenköpfige "Hasret Ensemble". Der Raum, wo wir üben, und wo ich Konzerte organisiere, befindet sich im sogenannten "Werkstätten und Kulturhaus" in der Währinger Straße. Dort steht auch ein Konzertflügel. Hier komponiere ich jeden Tag bis spät Abend.

Unten ist ein sogenanntes "Stadtbeisl".

Wenn ich nicht mehr arbeiten kann oder will, gehe ich nach unten, um mit Freunden oder Freundinnen zu plaudern. Dabei trinke ich wie immer Bier und Whiskey.

Auch heute habe ich viel getrunken. Öfters merkt man bei mir nichts, aber diesmal bin ich ganz schön beschwipst.

Um zwei Uhr Nacht ist die Sperrstunde. Ich gehe hinaus aber habe das Gefühl, noch immer nicht genug getrunken zu haben.

Jetzt muss ich die ganze, lange Währinger Straße hinunter gehen, bis zu der Kreuzung mit der Berggasse. Dann nach Links und die Berggasse abwärts bis zu Nummer 32. Dort ist meine Wohnung.

Kaum bin ich bei der Kreuzung mit der nächsten Seitengasse, höre ich laute Discomusik.
Anscheinend haben die Veranstalter des Festes es mit den Nachbaren vorher abgesprochen. Sonst würden sie um die Zeit die Polizei anrufen.

Mit der Hoffnung, etwas zu Trinken zu bekommen, biege ich nach links.

Nach zwei Minuten stehe ich vor einem Haus. Im dritten Stock sind die Fenster offen. Die Klänge kommen von dort.

Langsam steige ich die Treppe hoch. Die Wohnungstür ist weit offen.

Ein großer Raum. Parkettboden. Am Boden stehen einige volle Aschenbecher und einige leere Bier- und Weinflaschen.

Und einige Matratzen. Auf einer Matratze schläft tief ein junges Paar.

Auf einer anderen Matratze sitzt eine zwanzigjährige Frau, raucht eine Zigarette und trinkt Rotwein aus einer Dopplerflasche.

Leise frage ich: "Darf ich kommen?"

"Aber ja!", sagt sie ohne Aufregung.

Sie zeigt mit einer Hand Platz auf der Matratze neben ihr. Ich setze mich.

"Ich heiße Memo.", sage ich.

"Ich bin Anna."

Auch meine Instinkte ändern sich mit der Zeit. Spätestens seit ich vierzig geworden bin, merke ich, dass die Frauen unter dreißig keinen sexuellen Reiz auf mich haben.

Sie hat einen kurzen Rock und Strümpfe mit schwarzen Streifen.

 

Ich sage: "Liebe Anna! Wenn ich so eine hübsche Tochter hätte wie du, würde ich ihr solche Zebrastrümpfe schenken wie deine."

"Danke!", sagt sie und reicht mir die Weinflasche.

Nach Bier und Whiskey schmeckt Wein eigenartig, aber zumindest wirkt er.

"Woher kommst du?", fragt sie. Ich versuche zu erklären.

Dann frage ich: "Du hast so einen starken Akzent. Woher kommst du?"

"Du wirst den Ort sicher nicht kennen. Ich komme aus Lustenau."

"Lustenau? Sicher kenne ich das. Ich habe seit Jahren keinen Menschen getroffen, der aus Lustenau kommt. Ich war ein paar Monate dort. Sogar habe ich mich dort in eine Frau verliebt. Aber alles vor sehr vielen Jahren."

"Wie heißt die Frau?"
"Sie ist so alt wie ich. Du wirst sie sicher nicht kennen."

"Wie heißt sie?"

"Daphne.", sage ich.

"Was?", schreit sie überrascht. "In Lustenau gibt's nur eine Daphne und sie ist meine Kindertante."

Jetzt bin ich aufgeregt. "Ja. Sie war Kindertante.", sage ich. "So eine große, schlanke Frau. Blond mit wunderschönen blauen Augen."

"Sie ist meine Kindertante. Sicher.", sagt sie.

"Anna. Hast du vielleicht eine Telefonnummer von ihr?"

"Sicher.", sagt sie und wühlt in der neben ihr liegenden großen Handtasche, holt ein kleines Telefonbuch heraus und schreibt auf einen Zettel eine Nummer.

Ich stecke den Zettel sorgfältig in meine Geldbörse.

Langsam spüre ich den Wein ordentlich.

Anna legt sich nieder. Ich gehe auf Zehenspitzen hinaus und halte das nächstvorbeifahrende Taxi an.
Schuld an allem ist nur Anna. Ich würde sicher nicht auf die Idee kommen, nach so vielen Jahren Daphne wehzutun.

 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017