... und scheißen

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
...UND SCHEISSEN

Kaktusfeigen

 

Ich komme zurück zum Atatürkplatz. Hier werden auf vielen Ständen allerlei von Obst und Gemüse angeboten.

Ich sehe jede Menge Bananen. Hier in der Gegend gibt es Bananen-, Orangen-, Zitronen-... -Plantagen. In Istanbul im Gemüsegeschäft gibt es Orangen, Zitronen, aber keine Bananen. Männer mit hölzernen Schiebewagen fahren durch die Stadt und bepreisen laut schreiend ihre Bananen. Man kauft sie als einzelne Stücke. Und sie kosten wie eine ganze Mahlzeit im Aschtschi. Hier kosten sie so viel wie die gewöhnlichen Äpfel. Also nach Istanbul muss man sie nicht vom Ausland importieren. Aber warum sind sie dort so teuer?

Ich esse ein paar Bananen.

Dann sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben die Kaktusfeigen. Ich frage, wie es heißt. Das hat einen arabischen Namen. Aber nach fünfzig Jahren kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Sie sind sehr billig: Zehn Stück nur eine türkische Lira. Die Haut muss man abschälen. Der Verkäufer zeigt mir, wie es geht. Ich schäle ein Stück aus und esse die Frucht gierig. Dann noch eine. Dann kaufe ich noch einmal zehn Stück. Das schmeckt mir sehr gut. Erst später merke ich, dass meine Hände voll sind mit den haardünnen Stacheln. Es juckt wie die Brennesseln oder noch ärger. Aber ich kriege sie nicht mehr heraus. Die kommenden Tage muss ich mit diesem Jucken leben.

Dann entdecke ich einen Stand, wo ein mir unbekanntes Getränk angeboten wird: Bananenfrappe. Der Verkäufer gibt Bananen und Milch in einer Maschine und es kommt dieses schäumende Getränk heraus. Und es ist eiskalt. Bei der vierzig Grad Hitze wirkt es wie ein Lebenselixier. Ich trinke ein großes Glas davon. Mache im Park eine Runde. Es ist sehr heiß. Gehe ich zurück zum Frappestand und trinke noch ein Glas. Und dann wieder ein Glas.

Abend. Ich sitze neben Mustafa und wir fahren zum Befreiten Gebiet. Ich habe Bauchschmerzen. Ich halte es schwer bis zum Haus der Zollbeamten aus. Laufe sofort ins Klo. Scheiße fließt hinaus wie Bananenfrappe. Ich verbringe fast die ganze Nacht im Klo.

In der Früh fahren wir zum Zollamt. Ich beschreibe meine Lage an Genosse Direktor. Er sagt: „Du hast ein Virus erwischt. So kannst du nicht mehr bei den Burschen bleiben. Sonst steckst du alle an. Fahre zu Madam Agavni, und bitte sie um Hilfe.”

Ich steige wieder in den Jeep ein. Wir fahren zu Madam Agavni. Sie erzählt von einem Haus außerhalb der Stadt, welches einem jungen armenischen Paar gehört. Sie sind derzeit geschäftlich in Istanbul. Mustafa schreibt die Adresse auf, und auch die Adresse, wo wir die Schlüsseln abholen sollen.

Wir kommen zu einem Haus in der Altstadt. Hier wohnt eine armenische Familie. Mustafa steigt aus, läutet an der Tür, sagt schöne Grüße und kommt mit den Schlüsseln zurück. Wir fahren.

Schon wieder Brachland. Manchmal Dornenbuschzwerge. Und Steine. Wir fahren und fahren. Kein Mensch, kein Hund, nicht einmal ein Hase.

Nach einer langen Fahrt in der Einöde kommen wir zu einem einsamen Kleinhaus. Das Haus steht nahe zur Straße inmitten der Wüste. Weiß ausgemalt, einstöckig, mit einem Flachdach und einem runden Wassertank auf dem Dach.

Mustafa sperrt die Tür auf. Wir gehen hinein und machen ein paar Schritte. Dann kommen wieder zur Tür zurück und ziehen unsere Schuhe aus. Alles glänzt von Sauberkeit.

Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Dusche. Auf dem Fenster des Wohnzimmers hängen weiße Gardinen.

In der Mitte ist ein viereckiger Holztisch und vier Stück einfachste Holzstühle. Auf dem Tisch liegt ein schneeweißes Tischtuch mit handgemachten Stickereien. In der Mitte steht eine leere Blumenvase aus Glas. Auf den Stühlen liegen handgenähte Sitzkissen.

Die liebevolle Mühe, die an dieses in der Wüste verlorenem kleinen Haus eingesteckt wurde, löst bei mir so einen Respekt aus, dass ich an eine Rückkehr denke. Ich könnte den Zauber, der diesem kleinen Liebesnest innewohnt, zerstören.

„Sei nicht blöd!“ sagt Mustafa. „Wo willst du sonst hin? Wenn du ein paar Tage hier bleibst, fügst du dieser Familie keinen Schaden zu.“

Ich gehe in die Küche. Ich will ein Glas Leitungswasser trinken. Das Wasser aus dem Tank ist warm, fast heiß. Außerdem hat es einen unangenehmen Geruch.

In der Stadt gibt’s Trinkwasser in kleinen Glasflaschen, die mit Alukapseln abgeschlossen sind. Ich bitte Mustafa, mir solche zu bringen.

Mustafa geht. Ich gehe ins Klo. Das Klo hat eine Klomuschel nach europäischer Art. Aus meinem Körper rinnt Bananenfrappe. Und das hört nicht auf. Und ich habe Bauchschmerzen.

Nach einer langen Sitzung komme ich wieder heraus.

Ich gehe in die Küche und suche einen Aschenbecher. Ich finde nur Kaffeeuntertassen. Ich nehme eine mit und gehe ins Wohnzimmer. Ich rauche eine Zigarette.

Es gibt kein Radio. Ich fange an zu singen. Mich überrascht, wie leise ich singe. Ich bremse meine Stimme unbewusst. Ich habe Angst. Ich höre auf zu singen. Was ist, wenn jemand aus einem unbewohnten Haus plötzlich Gesang hört? Ich habe Angst, dass sie mich hier erwischen. Die Zeitungen werden schreiben, „in einem einsamen Haus beim Scheißen erwischt“.

Ich habe keine Waffe. Aber was nützt eine Faustwaffe, wenn sie mit der Artillerie kommen? Zumindest könnte ich ein paar von ihnen erledigen, bevor sie mich umbringen. Wenn ich eine Waffe hätte..

Oder mich selbst umbringen, bevor ich in ihre Hände falle?

Was geschieht dann mit diesem Paar, denen das Haus gehört? Wird auch Madam Agavni verhaftet? Weiß sie, warum ich mich verstecke? Was ist, wenn sie zur Polizei geht und sagt, wo ich jetzt bin? Wenn dann, könnte sie das bis jetzt längst machen. Was ist mit dem alten Hammo? Wird er auch verhaftet? Was ist mit meiner eigenen Familie?

Ich halte meine Gedanken nicht mehr aus. Ich laufe im Kreis. Ich laufe so lange, bis es mir schwindlig wird und dass ich auf den Sessel falle.

Dann rauche ich eine Zigarette. Wasche ich die Kaffeeuntertasse sofort ab, wie ich es von Hammo gelernt habe.

Dann gehe ich wieder ins Klo. Ich produziere laufend Bananenfrappe.

Auf dem Tisch steht eine kleine Blumenvase. Ich denke daran, hinaus zu gehen und Wiesenblumen zu pflücke. Ich öffne die Gardinen einen Spalt. Draußen wächst nicht einmal Gras. Außerdem habe ich Angst hinaus zu gehen. Ich mache die Gardinen wieder sorgfältig zu.

Botschafter der Revolution? Nur ein elendiger Angsthase bin ich. Ein Stück Dreck bin ich!

Jemand klopft an die Tür. Werden die Soldaten an die Tür klopfen? Mein Herz bleibt fast still.
„Ich bin, Mustafa!“

Ich mache die Tür auf. Mustafa bringt mir eine Schachtel voll Trinkwasserflaschen, zwei Packerln Zigaretten Marke Bafra, und eine Thermosflasche.
„Madam Agavni hat für dich Diätessen gekocht.“
Ich hole einen Teller aus der Küche und wir kippen den Inhalt der Thermosflasche hinein. Reisbrei ohne Fett. Ich spüle die Thermosflasche aus und Mustafa nimmt sie mit.

Mustafa fahrt wieder zurück. Der Reisbrei schmeckt nach nichts, aber ich habe Hunger.

Dann muss ich wieder ins Klo. Nichts hat sich geändert.

Dann die Einsamkeit und Stille. Und die Angst. Ich laufe wieder im Kreis.

Ich bin ein Löwe im Käfig. Ein Löwe? Eine Labormaus bin ich, die wehrlos auf ihr Schicksal wartet. Meine kleinen Hände zittern. Mein langer Schwanz zittert.

In so einer Lage, wo ich von der Angst fast ohnmächtig bin, stelle ich mir die Frage: „Bist du bereit, die Seiten zu wechseln, bevor man dich umbringt?“

Ohne einen Augenblick zu zögern, ist meine Antwort klar: „Niemals!“.

Genauso entschieden viele Genossen. Sie bezahlten ihre Entscheidung mit ihrem jungen Leben, bevor es seine Blüten trug.

Mir ist das Schuldgefühl der Überlebenden übrig geblieben, welches mir ab jetzt nicht einmal ein Liebesglück gönnen wird. Auch wenn ich weiß, dass mein eigener Tod Niemanden zurück bringen würde.

Nach mehreren Klogängen und Läufen im Kreis bin ich langsam müde.

Das Doppelbett glänzt in weiß. Die Polsterüberzüge haben selbst gestickte Spitzen.

Ich gehe unter die Dusche. Das Wasser ist fast heiß. Ich wasche mich gründlich. Und gehe ins Bett. Ich habe nicht einmal ein Buch zum lesen.

So vergehen die Tage. Madam Agavni schickt einmal einen Reisbrei, nächstes Mal gekochte Kartoffeln.

Ich habe keine Ahnung, was in der Außenwelt geschieht, außer ein paar Sätze von Mustafa.

Vierter Tag. Heute nur drei Mal Klo.

Fünfter Tag. Einmal Klo in der Früh. Stuhl ist endlich normal.

Ich warte ungeduldig auf Mustafa. Ich bin gespannt wie die Stahlbandspiralfeder einer schweizer Uhr. Aber die Zahnräder drehen sich sehr langsam.

Endlich kommt Mustafa. Ich esse meine Kartoffeln. Wasche das ganze Geschirr sauber. Versuche, soweit wie möglich meine Spuren zu beseitigen. Wir nehmen den Restmüll mit. Sperren die Tür zu und fahren zum Genossen Direktor.

 
 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017