La clemenza di Tito

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
LA CLEMENZA DI TITO

 

In der Morgendämmerung wachen wir alle auf. Wir gehen hinaus, auf die Wiese. Wir bewegen unsere eingeschlafenen Glieder. Nach ein paar Minuten steigen wir wieder ins Auto ein und Herr Tatar setzt die Fahrt fort.

"Wir sind in Jugoslawien.", sagt Herr Tatar.

Wann und wo und wie haben wir die Grenze überschritten? Ich habe es nicht mitgekriegt.

Dimitrov und Tito waren gute Freunde. Vielleicht deswegen?

In der Ferne sehe ich eine Schafsherde. Ist der Hirte eine Hirtin? Sehe ich nicht so genau. Hunde laufen.
Ich vermisse Fabriksgebäude und hohe Schlotte.

Ländliche Gegend. Ich sehe keine Städte.

Die Landstraße ist Asphalt und sehr gepflegt. Vereinzelt Urlaubsrückkehrer aus der Türkei. Auf Autodächern hohes Gepäck.

Wir fahren noch eine Weile. Eine große Wiese. Rechts und links sitzen die Leute am Boden. Überall sind Tücher ausgebreitet. Die Leute essen. Kinder spielen… Picknick?

Ich habe vergessen: Heute ist Sonntag.

Ein bisschen weit von der lärmigen Menge hält Herr Tatar an. Wir steigen aus. Eine bunte Bettdecke wird ausgebreitet. Gekochte Eier. Oliven. Gekochte Händelteile. Gefüllte Teigtaschen. Sogar eine große Wassermelone. Schwarzer Tee aus der Thermosflasche.

Tataren essen also gut. Ich kann mich nicht beklagen.

Vielleicht achtzig Meter von uns glänzt ein kleines, weißes Gebäude. Einige Leute in Schlange warten davor. Das dürfte eine Toilette sein. Ich gehe langsam dorthin.

Etwa fünfzehn Frauen und Männer warten davor. Kein Gedränge, kein Streit. Sie scherzen und lachen. Ein friedliches Volk diese Jugoslawen. Ich stelle mich hinten an.

Das Haus hat keine Tür. Wenn man hinein geht, ist auf der linke Seite ein Waschbecken. Danach kommen zwei Pissoire. Davor stehen zwei Männer und machen ihre Geschäfte. Danach sind zwei offene Türen, halb offen, nicht einmal angelehnt. Auch sie sind ständig besetzt.

Ich war fast überall in der Türkei. Theater Tourneen, Forschungsreisen, politische Arbeit. Ich habe mir ein "Vorurteil" eingebildet: Erscheinungsformen sind verschieden, aber die Menschen sind überall gleich.

Hier verkünde ich die größte Weisheit von mir für die nachfolgenden Generationen:

"Alle Menschen scheißen!"

Zumindest solange sie gesund sind.

In viele Orten in Anatolia waren die Wohnhäuser ohne Toilette. Mann benutzte die große Toilette der Natur.
Bei dem Thermenbezirk Sandikli in der Provinzstadt Afyon fließt ein dampfend heißer Bach. Darauf waren nebeneinander fünf Toiletten angebracht. Mit einer dünnen Holzwand voneinander getrennt. Die Tür könnte man schließen, aber die Geräusche der Nachbarn nicht.

Viele Jahre später war ich in den "Wildalpen" in der Steiermark. Genau dieselbe Anlage war hier eins zu eins kopiert. Nur der Fluss war nicht heiß, sondern eiskalt. Mein Nachbar hat nicht nur urlaut geschiessen, sondern gleich danach zum Jodeln angefangen.

Im Jahr 2008 habe ich ein Haus in Niederösterreich gekauft. Dort war weder eine Toilette noch eine Kanalisation. Nur ein Loch am Boden, angeschlossen an einem kurzen Betonrohr welches durch die Mauer zum Garten geleitet wurde. Bei den Minusgraden im Winter konnte man dort nach draußen scheißen und im Frühjahr, wenn der Schnee schmilzt, sich auf seine Winterproduktion freuen.

Einige tausend Jahre bevor die Germanen aus Baumästen auf die unten wartenden Wölfe schissen, bauten die Griechen die offenen Toilettenanlagen, um dort über den Sinn des Lebens zu diskutieren.

1453 besetzten die Osmanen nach einem großen Massaker Konstantinopel. Die unvorstellbaren Errungenschaften der Zivilisation, wovon sie bisher nur gehört hatten, beschränkten sich nicht nur auf Gold und Seide.
Wie ich Istanbul verließ, war dort in jedem Wohnhaus, nicht nur in den Amtshäusern, wo die rote Fahne des Faschismus wehte, eine Toilette.

Hocktoilette am Bahnhof in Varenna, Italien
 

 

Wichtigstes Bestandteil eines Klosetts war ein Loch im Boden. Daneben links und rechts waren die verkehrt abgebildeten Sohlen von einem Paar Holzschuhen. Davor war eine Erhöhung mit der Neigung zum Loch dahinter, worauf der Harn abfließen sollte. Die Ausführung hängte von dem Reichtum des Häusl Besitzers ab. Beton, Granit, Marmor…

Klomuscheln wie in Europa waren nur in den Häusern eingebaut, die mit Europa etwas zu tun hatten. In unserem neuen Haus in Erenköy, welches mein Vater baute, waren zwei Klosetten: Eine klassisch osmanisches aus Keramik, eines mit einer europäischen Klomuschel wieder aus Keramik.

Unser neues Haus hatte sogar Fließwasser. So war meistens auf der linken Seite der Anlage ein dem Boden naher Wasserhahn. Das war nicht so in allen Häusern. Wo kein Fließwasser vorhanden war, stand ein Kanister oder eine Flasche.

Somit konnte man seinen Allerwertesten waschen.

Nachher, wenn man wieder aufsteht, war ein Waschbecken in gewöhnlicher Höhe. Dort konnte man die Hände mit Seife waschen.

Hier sind in den beiden Kammern jeweils eine Klomuschel aus Keramik. Man hört oder sieht halb, dass ein Klo besetzt ist und macht sein Geschäft nicht auf den bereits auf der Klomuschel sitzenden, sondern wartet einfach.
Also, die Toiletten für Frauen und Männer sind nicht getrennt. Beide benützen dieselben Anlagen.

Noch etwas fällt mir auf: Die Frauen rauchen auch im Freien.
Meine Mutter ist Kettenraucherin. Sie raucht aber niemals im Freien. Es schickt sich nicht. In der Türkei raucht eine Frau nicht öffentlich.

Ich interpretiere alles als eine Errungenschaft des Kommunismus: Hier sind Frauen und Männer gleichgestellt.

Ich komme zurück.

"Hast du die Leute gesehen", sagt Herr Tatar, "Wie sie leben? Ohne Ehre, ohne Anstand, ohne Moral! Wie die Viecher! Es sind die Zigeuner!"

Wir fahren weiter. Langsam wird die Auto-Kolonne der Urlaubsrückkehrer immer dichter. Grenze. Gelangweilte Beamten schauen auf beiden Seiten unsere Papiere kurz an. Jetzt habe ich zwei Stempeln auf meinem Reisepass: Maribor und Spielfeld. Ich habe keine Ahnung, was diese Wörter bedeuten.

"Wir sind in Avusturya (=Österreich)" sagt Herr Tatar.
Avusturya? Sigmund Freud fällt mir ein. Jude. Arthur Schnitzler? Auch Jude glaube ich. Franz Kafka? War auch Österreicher? Ich bin nicht sicher. Ein slavisch/jüdisches Land denke ich.

"Welche Sprache wird hier gesprochen?"
"Deutsch",
sagt Herr Tatar.
"Deutsch?"

Es wird langsam Abend. Die Straße wird langsam hügelig. Ich denke gleich an Kurdistan. Rechts von uns ist ein dichter Wald. Sowas gibt es nicht überall in Kurdistan. Wir haben viele kahle Berge. Herr Tatar parkt. Wir gehen durch den Wald etwa hundert Meter steil hinunter.

Ein Gasthaus. Mein erstes Gasthaus. In der Türkei gibt es Teehäuser, Restaurants in allen Klassen. Aber ein "Gasthaus" gibt es nicht.

Wenn man die Eingangstür auf macht, schluckt uns eine Wolke aus Lärm, beherrscht vor allem vom Gelächter der Frauen. Alles voll. Wir setzen uns bei einem großen Tisch zu den anderen Leuten. Die Leute rücken ihre Sesseln enger zusammen. Manche essen. Alle trinken Bier.

Die Kellnerin kommt. Sie ist meine erste Kellnerin. In der Türkei servieren nur Männer.

Sie ist über 40. Sie hat rote Haare. Auch in der Türkei gibt's rothaarige Menschen, auch wenn nicht oft. Die Haare der Kellnerin schauen aber gefärbt aus. Städtische Frauen in der Türkei färben ihre Haare nicht mit Henna. Henna verwendet man um die Opfertiere zu markieren, oder am Land die Brautpaare vor der Hochzeit markieren sich damit. Wahrscheinlich betrachtet man auch sie als Opfertiere.

Auf jeden Fall denke ich nicht an Henna. Anscheinend es ist mit der Hippie-Bewegung von Indien nach Europa gekommen und ist hier derzeit Mode. In die Türkei kommt alles von Europa, aber viel später.

Im Gasthaus sitzen auch Frauen, gemischt mit den Männern, aber die Männer sind in der Mehrheit. Es gefällt mir, dass hier auch Frauen anwesend sind und ohne Séparée.

Was für eine Rolle spielen die Frauen in Europa? Und wie soll ich mich hier ihnen gegenüber als Kommunist verhalten? Diese Fragen werden mich eine Weile beschäftigen.

Ich habe zwar in Istanbul genug Doris Day-Filme gesehen, aber in meinem kommenden Leben werde ich kaum einer Doris Day begegnen.

Herr Tatar liest die Speisekarte.
"Es gibt gegrillte Hühner ohne Schweinefleisch.", sagt er. Auch gegen die Hühner mit Schweinefleisch habe ich nichts einzuwenden. Ich habe Hunger.
Er bestellt für jeden von uns ein halbes Grillhänderl.

Wahrscheinlich ist die Massentierhaltung noch nicht in die Türkei gekommen. Auch in Istanbul hat es Grillhänderlgeschäfte gegeben, aber sowas war derart teuer, ich könnte es mir nicht leisten.

Her Tatar bestellt für jeden ein Glas "Kola". Ich will lieber ein Glas Bier aber ich sage auch "Kola". Coca-Cola kenn ich aus der Türkei. Coca-Cola ist es nicht. Aber ein ähnliches schwarzes Zuckerwasser fast ohne Kohlensäure.
Ich rauche ein paar Zigaretten, die ich von dem Faschistenland mitgebracht habe.

Das Essen kommt. Die Kellnerin serviert gebeugt über die gegenüber sitzenden Leute zu uns. Sie ist fast gestolpert. Ich spüre ihre roten Haare auf meiner Stirn. Ich spüre ihren Atem in meinem Mund. Ich schrecke mich und ziehe meinen Kopf zurück.

Neben unserem Haus ist ein Kreisler. Wenn er anderswo beschäftigt ist, seine Frau ist die Verkäuferin. Sie sind aus Makedonien. Flüchtlinge. Sie sind Muslime.

Wenn ich dort etwas kaufte und bezahlen sollte, hat sie ihre Hand zwanzig Zentimeter unter meiner Hand geöffnet und ich habe die Münzen in ihre Hand hinein fallen lassen. Man darf die Hand einer Muslimin nicht berühren. Auch meine Mutter sagt, dass sie Muslimin ist, aber solche Probleme hat sie nicht.

Das Essen war sehr gut. Die Grillhänderln waren frisch und knusprig. Pommesfrites in dieser Form sind auch für mich neu, aber sie schmecken mir sehr gut. Nur der Salat ist komisch: Weiße Bohnen mit Gurkenscheiben und Tomaten. Das passt ja nicht zusammen. Noch dazu gezuckert.

Wenn man mit einer Gruppe wohin geht, bezahlt in der Türkei der "Chef". Also in diesem Fall sollte der Herr Tatar bezahlen. Er lebt aber seit einiger Zeit in Deutschland. In der Türkei gibt es aber einen bekannten Begriff: "Bezahlen nach deutsche Art." Angeblich zahlt dort jeder für sich extra. Sogar wenn man mit einer Freundin ausgeht, darf man für sie nicht bezahlen. So glaubten wir damals in der Türkei.

Ich habe meine "Tausend Türkische Lira Banknote" schön gefaltet in meiner Geldbörse. Aber auch ein bisschen Kleingeld.
"Darf ich mit TL bezahlen?"
"Kein Problem", sagt Herr Tatar und rechnet um.

Er fragt die Kellnerin nach einem "Privatzimmer".
Es ist schon dunkel draußen. Aber es gibt Straßenlaternen.
Wir kommen zu einem kleinen Haus. Im Garten blühen große Rosen.

Wir läuten an und gehen in das Haus. Eine schwarz haarige Frau, schaut ziemlich ähnlich aus wie meine Mutter, aber ein bisschen mollig und jünger. Hinter ihr ein neunjähriges Mädchen. Die Frau ist sehr freundlich. Sie zeigt uns unsere Zimmer.
Wo ist ihr Mann? Ist sie geschieden? Hat sie nie einen Mann gehabt?

Ich bekomme ein Einzelzimmer. Von der Türkei kenne ich Bettdecken gefüllt mit Wolle oder Baumwolle. Hier bekomme ich meine erste Daunendecke und Daunenpolster. Alles glänzend weiß. In Anatolia habe ich in vielen kleinen Hotels geschlafen. Überall gibt es Läuse, oder Flöhe, oder Wanzen oder alles zusammen. Hier gibt es so etwas nicht.

Ich weiß es nicht, in was für einem Land ich gelandet bin. Auf jeden Fall bin ich sicher, dass zumindest keine uniformierten türkischen Soldaten oder Polizisten nach mir durch die Grenze gekommen sind. Mein Gefühl sagt, heute Nacht kann ich schlafen, ohne zu erwarten, dass die Uniformierten jeden Moment die Tür brechen. Die Daunendecke wird mich beschützen. Gute Nacht Faschismus! Gute Nacht neue Welt!

 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017