Georgi Dimitrov

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
GEORGI DIMITROV
Gedenktafel Dimitroff, Elisabethplatz, Wien
 

 

"Frechheit!", sagt Herr Tatar.
"Dreckiger Giavur (=Ungläubiger). Woher sind wir dein Nachbar? Wir haben euch massenweise geschlachtet. Wie die Viecher!"

Wer sind "wir"? Tataren? Osmanen? Muslime?

Woher hat mein Genosse Vater diesen Mann geangelt?


Anderseits wusste ich nicht mehr, wo ich mich noch ein paar Tage in Istanbul verstecken sollte.
Er war wirklich meine letzte Chance.
Ja! Ich muss ihm sehr dankbar sein.
Nur, wenn er so weiter macht, werde ich ihn irgendwann würgen müssen.

Weizenfelder...
Weizenfelder…
Essen auch die Kommunisten Weißbrot?

Ob es sich schickt oder nicht, ich will jetzt schlafen.

Plötzlich wache ich auf. Es ist sehr heiß. Das Fenster neben mir ist weit offen. Ich sehe neben mir eine Menge Autos und Menschen.
Alles durcheinander.

In einer Hauptstraße in Istanbul fahren die Autos im Schritttempo. Umkreist von Menschen, die in allerlei Richtungen "gehen". Das Ganze wird begleitet von einem Gefangenenchor, der mit dem Text "Ich ficke deine Mutter und deine Großmutter" beginnt und bis zu den entferntesten Verwandten dauert. Tausende von Autofahrern singen dieselbe Partitur. Nur, da immer wieder einer neu beginnt, während der andre bei der zweiten oder dritten Strophe ist, entsteht ein unendlicher Canon.

Gleichzeitig versuchen hunderte von Hupen, von verschiedenen Bauarten und Stimmungen, die "Wassermusik" von Georg Friedrich Händel zu spielen.

Bin ich wieder in Istanbul gelandet? Hier ist genauso so ein Chaos und kommt die ganze Kolonne von Menschen und Vehikeln keinen Schritt weiter.

Aber die Höllenmusik fehlt! Die Autofahrer und Fußgänger sprechen miteinander.
Also bin ich nicht zurück in Istanbul gelandet!

Plötzlich kommt ein Mädchen, gleichaltrig oder zwei Jahre jünger als ich, zu meinem Fenster:
"Komsi (=Nachbar)", sagt sie und einiges noch in Bulgarisch.

Sie ist blond, hat kleine Zöpfe, leuchtende grüne Augen, und süß zum Fressen.
Woher weiß sie, dass wir Nachbaren sind?
Kennzeichen?
Was hat sie mir gesagt? Hat sie mir ein Heiratsangebot gemacht? Sie lächelt mich so wunderschön an!

Ist sie vielleicht die Cinderella von Walt Disney?

Ich habe damals sehr oft mit Genosse Taner Kutlay diskutiert. Selbstverständlich meistens über die Revolutionstheorie. Aber auch über "Sexualität und Revolution".
Er war damals mit einer Genossin befreundet.

Ich sagte, "Bevor die Revolution befestigt ist, werde ich nicht an Heiraten denken. Ich will keine Witwe und keine Weisenkinder hinterlassen!"

Ich erwidere das Lächeln von Cinderella unbeholfen und sage:
"Thank you! Thank you!"

"Lächle sie nicht an!", sagt Herr Tatar. "Sie sind Huren! Sie machen sich nicht einmal die Mühe, ihr Schamhaar zu rasieren. Nach dem Scheißen waschen sie nicht ihr Arschloch, sondern putzen es nur mit Papier. Habe Geduld! In Deutschland gibt es auch halal Huren."

In dem neugebauten Haus von Erenköy hatten wir einen großen Mörser aus Marmor im Garten. Ein Erbstück von Großmutter. Damals sind die Enten drin geschwommen.
In den Urzeiten haben meine Großmutter und ihre Freundinnen drinnen in koordinierten Bewegungen gemeinsam Weizen gehauen und daraus "Bulgur" gemacht.

Ich schaue den Herr Tatar an und schicke seinen Kopf in die Guillotine des Robespierre. Ganz frisch, bevor sein Schädel zu stinken beginnt, lege ich ihn in den Mörser und sage meiner Großmutter und ihren Freundinnen:
"Also, Kinder! An die Arbeit!"

Ach, Genosse Vater! Du hast mir das beste organisiert. Ohne deine Beziehungen wäre ich jetzt schon erschossen. Ich werde diese Prüfung bestehen.

Ich habe nach seinem Namen nie gefragt. Ich weiß nicht, wie Herr Tatar heißt. Das ist gut so. Ich will mich in meinem Leben niemals an den Namen meines Retters erinnern.

Ist er wirklich der erste "Tatar" in meinem Leben? Habe ich vorher nie so einen Japaner gesehen? Außerhalb der Pearl Harbour Filme? Ich bin nicht sicher.

Plötzlich sehe ich auf der linken Seite eines Platzes eine Skulptur. Ich kenne ihn. Ich kann aus vollem Hals schreien:
"Genosse Dimitrov! Georgi Dimitrov!"

Ich schweige. Aber ich träume nicht. Es gibt außerhalb des Gefängnisses namens "Türkei" eine reale Welt. Und es gibt tatsächlich Genossen auf dieser Welt. Oder zumindest hat es sie einmal gegeben.
Wenn Dimtirov derzeit an der Macht wäre, würde ich jetzt sofort hinausspringen.

Aber Bulgarien jetzt? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Wenn ich in Deutschland bin und wenn es mir dort nicht gefällt, kann ich weiter irgendwohin. Aber in Bulgarien? Ich bleibe im Auto und schweige.

Ich habe von Dimitrov unter anderem einen Artikel mit dem Titel "Wie verhält sich ein Kommunist, wenn er gefoltert wird? (oder ähnlich)" gelesen. Ich habe mich immer an seine Anweisungen gehalten.

Plötzlich erinnere ich mich.
Diese Geschichte über "Memo, der furchtlose" ist ein paar Jahre nach meiner Flucht in den linken Zeitschriften mehrfach in verschiedenen Versionen erschienen. Ich will nicht das ganze wiederholen. Nur den Teil bezüglich dem "Herr Tatar".

Während einer Demonstration vor ein paar Jahren, mitten am helllichten Tag, erschoss ein Militäroffizier in Zivil Genosse Taylan Özgür.

An der Eingangshalle der Technischen Universität von Istanbul betreiben wir eine Siebdruckerei. Ich bin sehr oft dort tätig. Nicht zufällig gründete ich die legendäre Siebdruckerei "Memograf" in Wien, wo hauptsächlich "Außenseiter" und "Illegale" arbeiteten.

Unser beliebtestes Produkt an der technischen Universität waren die "Taylan Özgür"-Plakate. In der Nacht liefen wir immer wieder durch die Straßen von Istanbul zu dritt. Einer überwachte die Sicherheit. Einer trug einen Kübel mit Kleister mit sich und strich die Wände an. Und einer klebte ein Stück von dem Bündel auf seinem linken Arm darauf und bürstete es glatt.

In der Technischen Universität gibt es eine Kantine. Und in dieser Kantine gibt es seit einem Monat "Wiener Schnitzel". Ein dünnes Stück in Mehl gewendetes Rindfleisch im heißem Öl gebacken und daneben ein bisschen Bratkartoffeln.
Ich fahre nach ITÜ. Ich will dort ein "Wienerschnitzel" essen.

In ITÜ ist auch die "Cevapcici- Kommune" zu hause. Dort leben seit einiger Zeit einige kampferprobte Genossen.
Mustafa Ilker Gürkan kommt heraus. Ihm habe ich in einigen Gefechten meinen Rücken anvertraut. Ob er in seinem Leben einmal Karl Marx gelesen hat? Wahrscheinlich nicht. Er hat aber immer wieder geschrien "Arscherl Imperialismus! Wir kommen!"

Ich habe von ihm fünfzig Jahre nichts mehr gehört. Jetzt laut einer Google-Suche: Obmann der Rechtsanwaltskammer, Kandidat der Kemalisten…
Ist er der gleiche?
Ich weiß es nicht.

Mustafa schreit:
"Wir brauchen einen Freiwilligen!"

Ich will aber Schnitzel essen. Einige Genossen sammeln sich um ihn.
"Wir brauchen einen Freiwilligen, der genug Erfahrung mit der politischen Polizei und Folter hat."
Ich schaue in die Luft. Ich will Schnitzel essen.

Mustafa kommt zu mir. Schaut mir in die Augen.
"Wir brauchen dringend jemand!"
"Leck mich am Arsch!"; sage ich.
"Erol, der blonde ist erwischt worden. Er ist bei der politischen Polizei. Er wird gefoltert. Jemand muss ihn eine wichtige Botschaft bringen."

Ich muss eine Möglichkeit finden, in den "Sarg" zu kommen.
Aus dem Schnitzel wurde nichts. Ich habe Hunger.

So nehme ich einen halbvollen Kübel mit Kleister, drinnen eine Kleisterbürste, in meine rechte Hand.
Unter meiner linken Achsel ein Bündel Plakate, drinnen eine lange Tapezierer Bürste.

Sammeltaxi. Noch einmal Sammeltaxi. Mein Schnitzel-Geld ist weg.

Ich bin in Sirkeci. Sansaryan Han. Polizeidirektion.

Ich gehe vom Haupteingang hinein. Große Halle. Viele Leute. Uniformierte und zivile Polizisten.
Ich gehe gleich an die linke Wand. Ich stelle mein Gepäck auf den Boden. Nehme die Kleisterbürste in die rechte Hand und fange an, die Wand anzustreichen.

Ich tapeziere die ganze Wand. Ein Plakat neben dem anderen. Keine Lücke. Ich mache alles so professionell, niemand dreht sich um und schaut mich an.

"Taylan Özgür ist unsterblich! Es lebe die Revolution!"
Wie die Texte genau lauteten, kann ich mich nicht erinnern. Aber ähnlich.

Ich tapeziere fast eine halbe Stunde sehr fleißig. Die Polizei Direktion schaut aus wie der Versammlungssaal des Zentral-Komitee.

Immer wieder bringen sie einen armen Teufel in Handschellen herein und bearbeiten ihn mit Faustschlägen und Fußtritten. Niemand denkt daran, mich bei der "Arbeit" zu stören.
Bald habe ich keine Plakate mehr. Ich fange an, die früher geklebten Plakate nach zu
bürsten.

Seit einer Weile habe ich das Gefühl, dass jemand hinter mir steht und mich beobachtet. Auf einmal klopft jemand auf mein Schulter. Ist er aus China Town? Pearl Harbour?

Später erzählen mir Genossen, dass er der berühmte "Tatar" ist. Er war Folterspezialist bei der KGB. Vor ein paar Monaten ist er in die Türkei geflüchtet.

Die weitere Geschichte ist oft erzählt worden. Vielleicht schreibe ich sie auch selbst einmal aus meiner Sicht.

Jetzt komm ich zurück zu meinem Tatar.

Was kann er dafür, wenn er so ausschaut? Auch der Genosse Mao Tse-
Tung schaut so ähnlich aus. Aber bisher habe ich von ihm nur "Gutes" gehört.

Auf jeden Fall werde ich ab jetzt noch vorsichtiger sein.

Während ich in Gedanken versinke, ist es Abend geworden. Der Himmel hat sich bereits verdunkelt.

Die Straße ist nicht beleuchtet. Bei einem Rastplatz parkt Herr Tatar sein Auto.

"Macht es dir etwas aus, wenn wir im Auto schlafen?", fragt er.

"Nein! Überhaupt nicht.", sage ich. Während Theater-Tourneen in Anatolia habe ich öfters in Autos und Bussen im Sitzen geschlafen.

 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017