Unterwegs nach Tatarstan

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
UNTERWEGS NACH TATARSTAN
 

 

Wenn man von unserem Haus nach Sahra-i Cedid kommt, gibt es auf der linken Seite ein großes Teehaus. Davor gibt es auch eine überdachte Terrasse. Gleich unter der Terrasse, auf der Straße ist eine Art Haltestelle ohne jegliche Markierung für die privaten Omnibusse.

Wie ich dorthin komme, hält sofort ein vorbeifahrender an. Der Hilfsjunge (Muavin= Stellvertreter) hängt von Tür hinunter und hebt meinen Koffer und den schweren Ball von Zeitungen auf und zwängt alles zwischen zwei dicke Frauen. Mein "Saz" (*) gebe ich ihm nicht und halte es in der Hand. Dann hebe ich mich hinauf und setze mich auf meinen Koffer. Mein Saz halte ich schräg zwischen die Köpfe der vorderen Fahrgäste, mit den Akkordwirbeln hinauf. Der Fahrer schaut mich über den Spiegel an und schreit:
"Pass auf, dass du das Dach nicht zerkratzt!"

Mein Kopf berührt das Dach. Ich mache mich so klein, dass ich keine Luft mehr bekomme. Der Hilfsjunge zählt mein Kleingeld auf. Bedankt sich für Trinkgeld.

Gebäude und Wartesaal der Anlegebrücke im Kadiköy-Hafen. Foto bekam ich von meinem Feacebookfreund Celal Reha Özpulat

Endlich sind wir im Kadiköy-Hafen.
Mit meinem schweren Gepäck dauert es eine Weile, bis ich in der zweiten Klasse einen Sitzplatz finde. Es wird sehr peinlich, wenn ich knapp vor der Freiheit hier erwischt werde. Ich halte mein Gesicht zwischen beiden Händen und schaue die ganze Fahrtdauer, etwa eine halbe Stunde, zum Boden.

Anlegebrücke und Wartesaal am Karaköy hafen. Foto: Googlesuche.

Hafen am Karaköy. Europäischer Teil von Istanbul. Ich schleppe meine Sachen über die tragbare Holzbrücke.

Jetzt bin ich auf der Straße. Mein Vater hat mir nur gesagt, dass eine Tatarische Familie in Karaköy auf mich warten und mich nach Hamburg bringen würde.

Ich hebe meinen Kopf auf. Auf der andern Seite der Straße steht ein Auto. Aus dem Fenster schaut ein Mann, um die 40, hinaus. Er dürfte ein Japaner sein.

"Sind sie der Sohn des Herrn Direktor?"
"Ja!"
"Selamin Aleykum!"
"Aleykum Selam!"

Also der Japaner ist Muslim. Vorsicht!

Er steigt aus. Macht den Kofferraum auf. Nur mein Saz(*) lasse ich nicht aus der Hand.

Tataren? Was weiß ich darüber? In der Schule haben wir keine Tataren gehabt.

Ich habe gehört, dass sie ihre Pferde fressen.

In der Geschichte hat es in Kirim ein tatarisches Khanat, eine Art Königreich gegeben. Sie waren in inneren Angelegenheiten frei gewesen, aber im Krieg mussten sie die Osmanen mit ihren Reitern unterstützen.

Bei der zweiten Belagerung von Wien schlachteten sie die Pferde der anderen osmanischen Reiter und fraßen sie. So sorgten sie für großes Chaos in dem Heer.

Ansonsten wusste ich, dass sie im zweiten Weltkrieg den Hitler unterstützten. Daraufhin vertrieb sie Stalin nach irgendwo in Zentralasien.

Ich bin aber Internationalist. Es gibt in jedem Volk gute Menschen. Erstens hat ihn mein Baba Yoldas (=Genosse Papa) für mich ausgesucht, zweitens ist er bereit, mich nach Hamburg zu bringen. Er ist Muslim? Es geht mich nichts an. Hoffentlich ist er nicht Anti-Kommunist und Hitler-Anhänger.

Leider ist er! Leider ist er!

Ich bekomme einen Ehrenplatz: Ich sitze am Beifahrersitz neben dem Herr Tatar.

Hinter mir sitzt seine Frau, 35, mollig, vollbusig. Ein zehnjähriges Mädchen und ein fünfjähriger Bub. Alle schauen wie die Japaner in den Pearl Harbour- Filmen der USA aus.

Damals habe ich viele Touristen in Istanbul aus Europa, vor allem aus Deutschland kennen gelernt. Ich bin aber nie einem japanischen Touristen begegnet.

"Wohin will ich in Deutschland?"

"Ich habe mein Schiff verpasst… Hamburg… und so weiter."

Sie sprechen untereinander Tatarisch.

Nach den Rassenideologien des 19. Jahrhunderts sind die Tataren ein "Turkvolk". Ihre Sprache ist eine "Turksprache". Zumindest habe ich es Jahre später an der Wiener Universität, Institut für Turkologie, so gelernt.

Wenn sie untereinander sprechen, verstehe ich nur ein Wort:
"Allah". Das ist aber aramäisch, Predigtsprache des Jesus und bedeutet Gott.
Ich bin so aufgeregt. Wenn alles gut geht, bin ich bald in Freiheit. Also interessiert mich im Moment nicht was sie sprechen. Auch aus dem Fenster hinaus schaue ich fast nie. Ich bin in meinen Gedanken versunken.

Aber was ist, wenn sie mich nach Tatarstan führen? Sind sie dort noch immer so komisch gekleidet wie in den historischen Miniaturen? Essen sie nur Pferde?

Aber nein. Genosse Stalin hat dafür gesorgt, dass sie mich nicht entführen können. Außerdem würde ich dort sofort den kommunistischen Dichter "Nazim Hikmet" aus der Türkei besuchen.

Damals wusste ich noch nicht, wie dieser Stalin "unsere" Revolution, letzte Hoffnung der Menschheit, vernichtete. Damals war er noch ein hoch ehrenwerter Genosse für mich.

Ich wache aus meiner Paranoia auf: Wir sind an der Grenze zu Bulgarien!

Türkische Zollbeamten.

Herr Tatar zeigt die Papiere aus dem Autofenster. Auch meine.

Der Beamte sagt:
"Er kommt heraus!"

Gemeint bin ich. Auch mein Gepäck kommt heraus. Ich halte mein Saz noch immer in der Hand.
Werden sie mich sofort erschießen? Werde ich nach Istanbul geschickt und eingesperrt? Wie lange und wie schwer werden sie mich foltern?

(*) Ein vom Byzantinischen Reich übernommenes Musikinstrument wurde während des osmanischen Reiches in der Volks- Sakral- und Kunstmusik in einer großen Geographie sehr verbreitet. Langhalslaute.
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017