Willkommen Nachbar

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
WILLKOMMEN NACHBAR

 

Ich habe mich in der Früh glattrasiert. Ein weißes Hemd und meinen Bräutigam-Anzug angezogen.

Vor einem Jahr hat mein Vater gesagt:
"Jetzt hast du das heiratsmäßige Alter erreicht. Du brauchst einen Hochzeitsanzug!"

So sind wir zu dem "Armenier" in Istanbul (europäische Seite) gegangen. Wenn mein Vater einmal einen Handwerker brauchte, ging er immer zu einem Armenier. Er kannte einer Menge davon, und auch sie kannten ihn gut.

Ich suchte einen schwarzen Stoff aus. Ich wurde hinten und vorne gemessen.

Nach ein paar Tagen waren wir wieder dort.

Mein Anzug war halbfertig. Eine Menge Stecknadeln und Kreide- (Eigentlich Seife) Striche darauf.

Anziehen. Ausziehen.

Nach ein paar Tagen waren wir wieder dort.

Mein Maßanzug ist fertig!

Ich betrachte mich im großen Spiegel. Die Natur hat mir einen Körper wie eine Gazelle geschenkt.

"Ich fahre jetzt direkt nach Hollywood und spiele James Bond!", sage ich.
Mein Vater und Onkel Schneider lachen.

Mein Vater zahlt. Beide Herren führen eine lange Dankbarkeits-Zeremonie aus.

Da ich bis jetzt keine Hochzeit gehabt habe, habe ich ihn heute zum ersten Mal angezogen. Gibt es eine größere Hochzeit als die Vermählung mit der Freiheit?

Es kommen aus der Hütte links vor der Grenze noch ein paar Zollbeamten heraus.

Der große Ball aus Tageszeitungen liegt auf der Erde. I

Ich werde Botschafter des Aufstandes. Wie soll ich ohne diese Zeitungen nachweisen, was in der Türkei los ist?

Die Zeitungen interessieren sie nicht. Auch mein Koffer liegt am Boden. Sie machen meinen Koffer auf.

Ganz oben lag mein sündteurer, dunkelblauer Alpaka-Mantel. Denn durfte ich leider nur wenige Tage anhaben.

Die Zollbeamten wühlen meinen Koffer durch. Ein paar weiße Hemden… Socken… Alles liegt rundherum am Boden. Was suchen Sie? Soll ich sagen, dass mein Vater Zolldirektor ist?

Jetzt kommen auch ein paar Polizisten heraus. Ihre Uniformen sind nicht grau, sondern blau.

Ein älterer Beamte hat einen dicken Ordner in der Hand. Er setzt seine Brille auf und blättert lange durch. Er dürfte jetzt bei dem Buchstaben "M" sein.

Mehmet Temiz aus Tokat wird gesucht. Mehmet Günes Sahiner aus Istanbul wird gesucht. Sihoglu Mehmet Günes aus Erzincan wird gesucht.

Aber Günes Sahiner aus Mersin?

Buchstabe "G" ist längst vorbei.

Ich habe meinen letzten Gedichtband viermal gefaltet, zu gebügelt und in meinen rechten Schuh eingesteckt. Mein rechtes Bein ist zwei Zentimeter länger als das linke. Ob es ihnen auffällt?

Die Autos hinten hupen.

"Pack deine Sachen ein!" sagt der ältere Polizist.
"Danke schön!", sage ich. Was sollte ich sonst sagen?

Ich packe hastig meine Sachen ein.

Ich sitze wieder neben dem Herrn Tatar.

"Es ist lästig. Aber wir müssen Verständnis zeigen. Sie suchen die Kommunisten. Wir müssen ihnen sehr dankbar sein!", sagt Herr Tatar.

"Ich bin sehr dankbar!", sage ich.

Nach ein paar Meter stehen wir vor der Hütte des bulgarischen Zollamts.

Herr Tatar zeigt unsere Papiere.

Der Beamte sagt: "Hosgeldin Komsi!" (=Willkommen Nachbar!) in Türkisch, und wir fahren weiter.

Ich möchte mit meiner mächtigen Bass-Stimme schreien. Ich möchte so schreien, dass das Auto unter uns in seine Bestandteile zerfällt.

Ich halte meinen Hals mit beiden Händen fest und schweige.

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017