Einladung zum Tanz

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
EINLADUNG ZUM TANZ

 

Ich wache jede Stunde auf. Ich habe Angst, zu spät zu kommen.

Dreizehn Uhr. Ich stehe auf.

Obwohl ich keine Möglichkeit habe mein Gesicht zu waschen, ziehe ich meinen Maßanzug an. Meine Samtkordhose rolle ich zusammen und stecke sie unter meine Axel.

Jetzt habe ich eine Adresse von einem "türkischen" Arbeiterheim. Ich möchte mir das anschauen, ob ich dort wohnen kann. Außerdem versuche überall, wo ich bin, die Arbeiter für die Revolution zu gewinnen.

Ich gehe zum ersten Mann, den ich auf dem Gehsteig begegne. Er ist um die vierzig, Ich sage "Excuse me, sir!", und zeige die Adresse. Er schüttelt seinen Kopf und geht weiter.

Ich gehe zu dem nächsten Passanten, er ist auch in diesem Alter. "Excuse me!", und er geht einfach weiter.

Jetzt kommt ein achtzehnjähriger Junge. "Excuse me!". Er lacht sehr laut, zeigt auf mich mit seinem Zeigefinger und läuft davon.

Es gab damals in Lustenau keinen Tourismus. Jemand, der die Passanten englisch anredet, war nicht etwas Alltägliches.

Jetzt kommt eine für meinen Begriff "sehr alte" Frau mit schneeweißen Haaren. Sie lächelt mich an. Ich zeige ihr die Adresse. Sie holt eine Brille aus ihrer Handtasche und schaut den Zettel an.

Sie lächelt mich wieder sehr freundlich an.

Dann geht sie auf meine rechten Seite. Sie greift meine rechte Hand und streckt meinen rechten Arm nach vorne, mit dem Handrücken nach oben. Dann legt sie ihre linke Hand auf meine Hand und wir gehen.

Was bedeutet dieses Ritual?

Ich bilde mir ein, dass ich sowas in einem Kinofilm gesehen habe. Was war das für ein Film? Ein türkischer Film war das nicht. Wahrscheinlich war das eine Hollywood-Produktion. Wo spielte es sich ab? In Russland? In Deutschland? Vielleicht Frankreich? Oder habe ich es geträumt? Ich kann mich nicht mehr erinnern.

In einem Saal saßen viele gut gekleidete Damen und Herren.

Ein Herr kam zu einer der sitzenden Damen, verbeugt sich und ladet sie zum Tanz ein. Ich glaube, er war uniformiert. Sie steht auf und geht zu seiner rechten Seite. Er streckt seinen Arm aus und stellt seine Hand mit dem Handrücken nach oben. Sie legt ihre linke Hand darauf und sie gehen so zu der Tanzpiste.

Sie sagt irgendetwas. Ich verstehe "Grad us." Ob sie es wirklich so gesagt hatte? Ich merke, dass manche Wörter mit Englisch verwandt sind. Ich nehme an, dass "Grad", die "Degree" eines Winkels ist und "us" für die Bezeichnung für diesen bestimmten Winkel. Wir gehen aber gerade aus.

Die Dame schaut ziemlich geschrumpft, aber sehr süß aus. Nur, sie geht sehr langsam und auch ich. Wir gehen in konstantem Schneckentempo schweigend vorwärts.

Nach einem langen Marsch stehen wir. Sie zeigt mir ein Haus, macht einen Knicks soweit ihre Knien erlauben und dreht sich um. Ich gehe ein paar Schritte in die Richtung des Hauses und drehe mich und schaue sicherheitshalbe zurück. Sie winkt mir mit der Hand. Ich tue dasselbe und gehe zum Haus.

Das gleiche Ritual habe ich in Lustenau mehrmals wieder erlebt. Nach dieser Erfahrung bin ich, wenn ich eine Adresse suche, immer zu einer alten Dame gegangen. Es waren verschiedene Damen, aber alle freundlich. Sie haben mich angelächelt, sind zu meiner rechten Seite gegangen, meinen Arm ausgestreckt, haben ihre Hand auf meinen Handrücken gelegt und…

Es war niemals eine leise Andeutung an irgendetwas unanständiges.

Das habe ich später weder in Wien noch in Woanders wieder erlebt.

Damals hatte ich keine Ahnung von der Geschichte des Ortes. Lustenau war nach dem Ende des zweiten Weltkrieges von französischen Truppen besetzt.

Es gab keinen Widerstand. Vielleicht waren die jungen Damen damals mit den französischen Soldaten befreundet. Vielleicht haben sie gute Erfahrungen gemacht. Daher haben sie keine Scheu vor den Fremden. Und diese Gangart ist vielleicht etwas Französisches? Vielleicht höchstpersönlich von dem Sonnenkönig eingeführt?

Ich stehe vor dem Haus. Ein Haus? Das ist höchstens eine Scheune.

Zum Unterschied zu den meisten Gebäuden hier, ist das mindestens hundert Jahre alt. War es irgendwann verputzt? Jetzt steht die Mauer ziemlich nackt. Große und kleine Steine, Ziegeln, Lehm, sie haben mit allem wahllos zugemauert, was sie fanden.

Ab einer gewissen Höhe überlässt die Mauer seine Stelle den Holzbrettern. Bis zum Dach gehen die Holzbretter weiter und das Dach ist sehr hoch.

Unten ist eine Art aus Steinen zugemauerter Sockel, vielleicht in achtzig Zentimeter Höhe. Ich steige die wenigen Stufen hinauf.

Die hölzerne Doppeltür ist weit offen. Die Tür hat keine Verzierung oder Behübschung. Sie ist sehr primitiv aus Holzbrettern zusammengenagelt. Im Lauf der Zeit so sehr von den Holzwürmer gefressen, wenn man sie berührt, kann sie sich in Staub auflösen.

Ich trete ins Haus hinein. Der Boden besteht aus Holzbrettern. Mit meinem ersten Schritt klingt das Holzbrett wie eine Geige beim Stimmen. Kann das brechen? Ich werde nicht sehr tief hineinfallen.
Ich lasse die Geige immer wieder neu stimmen und gehe weiter.

Noch einmal eine Doppeltür. Der linke Flügel ist zu. Ich drücke den rechten Flügel hinein. Jetzt spielt Herr Paganini persönlich.

Ich gehe in den Raum hinein. Das ist ein riesiger Saal. Die Länge ist mindestens zehn Meter, die Breite mindestens sieben. Es gibt keine Decke, eine Konstruktion aus Holzbalken beginnt mit den Stehern am Boden und geht bis zum Dach hinauf.

Das ist kein Wohnhaus. Hier gibt es keine Zimmern. Was war hier früher?

War das der Geräteschuppen des Bauers? Ist es nicht zu groß dafür? Oder war das eine Werkstatt? Vielleicht eine Weberei?


Rechts und links stehen jeweils fünf Betten hintereinander gereiht, alle Betten sind vierstöckig und alle haben eine Holzleiter. Fast alle Betten sind leer, weil die Leute bei der Arbeit sind. Nur in einigen davon schlafen ältere Männer oder sitzen.

In der Mitte des Durchgangs hat ein Mann einen Gebetsteppich auf den Boden gelegt und absolviert darauf sein Namaz-Gebet. Für mich besteht es aus Pensionisten-Gymnastik-Übungen.

Normalerweise darf man nicht vor ihn gehen. Sonst gelte ich für ihn als Gott. Aber ein paar Meter vor ihm stehen sowieso ein größerer, uralter Holztisch und rundherum vier Sesseln. Bereits sitzen zwei Männer dort. Also habe ich keine Skrupel Gott Nummer drei zu sein. Ich gehe weiter.

Die sitzenden Männer sind sicher über vierzig, also für mich "alte" Männer.

Wie ich ihnen näher komme, sage ich: "Selamin aleyküm!"

"Aleyküm selam!", sagen die Männer. Ich geselle mich zu ihnen.

"Ich suche ein Zimmer.", sage ich.

"Ein Bett?" sagt einer der Männer.

"Eigentlich ein Zimmer."

"Mit dem türkischen Reisepass bekommst du hier nicht einmal in einem Hotel ein Zimmer."

"Wir sind seit langer Zeit komplett.", sagt der andere Mann. "Viele Leute warten darauf, dass ein Bett frei wird!"

Nach dem Tisch steht ein alter Küchenherd aus Gusseisen. Denn kenne ich aus meiner Kindheit von der Schule. Obwohl das Wetter warm ist, brennen drinnen einige Holzscheite. Drauf stehen zwei Teekannen übereinander, unten eine größere mit Wasser, oben eine kleinere mit gekochtem Tee. Die obere Kanne hat einen Deckel.

Einer der Männer steht auf, holt die Kannen. Auf dem Tisch stehen ein Karton, halbvoll mit Würfelzucker und ein paar türkische Teegläser. In den Gläsern sind auch kleine Löffeln.

Anscheinend werden die Gläser niemals gewaschen. Er gießt zuerst ein bisschen Tee, dann Wasser in ein Glas und schiebt es zu mir. Ich gebe ein Stück Zucker hinein, rühre um und nehme einen Schluck. Der Tee ist so lange nachgekocht, schmeckt nicht mehr nach Tee.

"Früher waren wir mit Schwertern da, wir schlachteten sie, und es gehörte alles zu uns. Jetzt bekommen wir nicht einmal ein Zimmer.", sagt er.

"Früher?"

"Unsere Ahnen."

"Wieviel Miete zahlt ihr?"

"Vierhundert Schilling."

"Alle miteinander?"

"Pro Person."

Wieviel seid ihr?"

"Vierzig."

"Das macht 16.000 Schilling im Monat. Mit diesem Geld könnt ihr ein Haus kaufen."

Sie schauen mich verwundert an.

"Ich möchte euch etwas fragen."

Dann erzähle ich von der Dame, die mich hier gebracht hat und von der Zeremonie.

"Das sind die Kriegswitwen.", sagt einer der Männer. Der andere sagt: "Ihre Männer sind im Krieg gestorben. Seit Jahrzehnten haben sie keinen Schwanz gesehen. Jetzt kommt ein junger, türkischer Schwanz. Sie machen für dich alles."

Der andere sagt "Wie kommst du mit den Huren aus?"

"Welche Huren?"

"Gehst du nicht zu den Huren?"

"Bis jetzt bin nicht auf die Idee gekommen."

"Es gibt bildhübsche Huren. Du kannst dich verlieben. Sie sind aber nicht halal (=islamisch erlaubt). Sie rasieren ihre Schamhaare nicht und waschen nach dem Scheißen ihre Ärsche nicht. Aber in der Not wird der Gott uns verzeihen."

"Wo sind eure Frauen?"

"Sie bleiben im Dorf und kümmern sich um Kinder, Acker, und Viecher. Ist das nicht selbsverständlich?"

"Und, was denkt ihr über die politische Lage in der Türkei?", frage ich.

"Was sollen wir denken? Dort ist alles in Ordnung. Unsere Paschas sind an der Macht, Gott soll ihnen lange Leben schenken. Sie bringen die Kommunisten der Reihe nach um. Solange sie an der Macht sind, machen wir uns keine Sorgen. Wir denken nur daran, Geld zu sparen und später in der Türkei ein Haus zu bauen."

"Was esst ihr hier?"

"Wir kochen Kartoffeln, hier auf dem Herd."

"Habt ihr hier Wasser?"

"Unten gibt's einen Mann, der hat einen kleinen Garten. Dort gibt's einen Wasserhahn. Wir holen Wasser mit Kanistern. Jeder von uns gibt ihm monatlich einen Schilling."

Ich frage nicht nach dem Klo.

Ich wünsche ihnen einen schönen Tag und laufe hinaus.

 

 

 


 

 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017