Fut

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
FUT

 

02. 09. 1971, Mittwoch

Arbeitsschicht: 00.00 - 08. 00 Uhr

Ich laufe. Ich muss mein Gepäck nicht mehr schleppen. Ich habe außer Häkelnadel und Sichelmesser nichts mit. Es ist genug Zeit, ich kann auch langsam gehen. Aber ich laufe.

Ich bin unausgeschlafen. Mein Schädel brummt. Ich habe Bauchweh. Aber was soll dieses Gejammer? Ich bin nicht mehr in der Türkei und ich lebe noch. Ich bin bereit, ohne Widerstand alles auszuhalten. In ein paar Monaten werde ich sowieso zurückfahren und weiterkämpfen.

Ich laufe.

Es ist zwanzig Minuten vor zwölf in der Nacht. Ich stehe vor der Fabriktür.

Ich hocke mich nieder und zünde eine Zigarette an.

Alle Leute, die vorher in meiner Halle anwesend waren, kommen wieder. Ich sehe, dass alle mit ihren Autos kommen. Anscheinend haben alle Arbeiter hier ihre eigenen Autos. Ich verstehe das nicht.

Mitternacht ist keine Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Noch dazu, wenn man vorher gearbeitet hat.

Drei Schichten am Tag! Jeden Tag in einer anderen Zeit arbeiten und in einer anderen Zeit schlafen. Irgendwann weiß man nicht mehr, was der Tag und was die Nacht ist. Wie lange kann man das aushalten? Seit wann arbeiten diese Leute hier?

Fünf vor zwölf gehe ich hinein. Ich stemple und stecke die Karte ins Regal zurück. Ich gehe in die Halle. "Gutn Morgn" hat wahrscheinlich um die Zeit keinen Sinn. Was sagt man jetzt? Ich weiß es nicht. Ich sage nichts und gehe zu meiner Maschine.

Die Maschine ist Mäuschen tot. Das gefällt mir. Ich gehe nach links und ziehe den Schalter hinunter. Die Maschine beginnt zum Zucken. Dann kommt gleich ein "Ping!". Ich springe hinauf. "Ping!" Ich springe hinunter.

Ich habe verstanden, wenn ich nicht rechtzeitig herumspringe, dass das Gewebe ein unerwünschtes Loch bekommen würde und damit geschädigt wäre. Aber was ist, wenn ich den Schalter hinaufziehe?

Ich gehe nach links. Ziehe den Schalter hinauf. Das Monster ist wieder tot.

Somit schaffe ich ein Alibi, um meinen anarchistischen Geist zu beruhigen.

Ich gehe hinter der Maschine zu dem Brett unter dem Fenster und zünde mir eine Zigarette an. Die Halle ist so laut, dass es niemanden auffällt, dass mein Monster nicht mehr hupft.

Trotz tobendem Lärm in der Halle, genieße ich meine Zigarette in Ruhe.

Ich lösche die Zigarette zwischen meinen Fingerspitzen, es tut weh, aber was soll´s?

Ich gehe wieder zurück und folge den Befehlen von "Ping!", "Ping!"

Zwischendurch nehme ich die Zeit, das Monster durchzustudieren. Rechts von der Maschine läuft ein Lochstreifen, der anscheinend endlos durchkreist. Dieser Streifen wird bei jedem Takt der Maschine von einem Balken mit kleinen Stiften abgetastet. Somit weiß die Maschine, welche von hunderten Nadeln ein und welche ausgezogen werden. Das finde ich sehr intelligent. Ich finde aber sehr dumm, dass so viele Menschen sonst nichts zu tun haben, als Schifflies ein und auszustecken.

Vielleicht soll ich irgendetwas erfinden, das die Menschen von dieser Arbeit befreit.


Ping! Ping! Ping! Ping!

Wenn ich irgendwann diese Idiotenarbeit nicht mehr aushalte, habe ich eine Alternative hier zu existieren? Als Sänger und Schauspieler habe ich hier keine Chance, weil ich der Landessprache nicht mächtig bin.

Ich bin aber auch Grafiker. Nur bin ich jetzt in Europa. Wahrscheinlich haben sie hier ein viel höheres Bildungsniveau als in der Türkei. War ich dort beim Zeichnen hochbegabt, bin ich hier wahrscheinlich unter dem Durchschnitt.

Um zwei Uhr in der Nacht schrillt die Alarmglocke.

Ich gehe hinter den anderen in die Kantine und sage dem Verkäufer:

"Eine Semmel mit Leberkäse."

Dann bin ich wieder bei meinem "Ping!"-Monster.

Ich bringe den Schalter wieder hinauf. Ich muss scheißen!

Ich gehe zurück zum Stempel-Raum. Links geht eine Tür zu weiteren Räumen. Ich gehe hinein.
Tatsächlich komme ich zu zwei Türen. Bei einer steht ein kleines Schild mit der Beschriftung "Männer". Ich gehe hinein.

Tatsächlich ein Nassraum. Der Boden ist mit Kacheln bedeckt und alles sehr sauber. Links sind Pissoires und mehrere Waschbecken mit Spiegel. Rechts sind mehrere Türen.

Immerhin hat der Kapitalist für das Wohl seiner Arbeiter einen Patzen Geld investiert, was man von seinen türkischen Kollegen nicht erwarten kann.

Ich mache eine Tür auf.

Eine Keramik-Klomuschel. Ich gehe rein. Bei der Tür innen ist eine Art Riegel. Ich mache ihn zu.
Hebe den Deckel hinauf. Ziehe meine Hose runter und setze ich mich auf die Klobrille.

Die Zeichnungen an der Mauer fallen mir auf. Die kenne ich von Toiletten meines Gymnasiums.

Fut

 

Da zeichneten die Künstler an der Mauern gleiche Bilder wie hier und um sicher zu gehen, dass sie nicht auf ein Pantoffeltierchen wichsen, schrieben sie daneben mit Kapitelbuchstaben "AM".

Wie es ausschaut, geben die "Gastarbeiter" ihren einheimischen Kollegen Zeichenunterricht. Auch hier sind genau gleiche Zeichnungen. Nur hier steht neben den Bildern statt "AM", "FUT"

Die Türen der Toiletten im Gymnasium hatten keinen Riegel und man konnte sie nicht von innen zusperren. Damit war gewährleistet, dass jeder Zeit ein Lehrer zwecks Razzia hineinstürzen könnte. Wenn der Schüler beim Wichsen oder Rauchen erwischt wurde, wartete auf ihn eine Tracht Prügel.

Ich bin aber hier nicht im Gymnasium. Ich lasse zuerst meinen gesammelten Harn hinaus.

Bevor ich zum Scheißen beginne, klopft jemand an die Tür. Ich versuche zu husten. Das Klopfen wird noch heftiger. Ich höre draußen Schreie. So, jetzt hämmert jemand mit seinen Fäusten an die Tür.

Bevor die Tür zusammenbricht, stehe ich auf und öffne den Riegel.

Eine Gruppe von Männern sind vor der Tür gesammelt. Alle schreien gleichzeitig.
Ich verstehe nicht was sie sagen, aber übersetze den Text in meiner Fantasie:

"Du, Türk du! Klos sind nicht für die Türken! Wir bezahlen dich nicht fürs Scheißen!"

Während ich meine Hose hinaufziehe, packen mich mehrere Männer und schleppen mich hinaus. Ich werde wieder in die Werkhalle hineingeschoben und die Tür wird von draußen kräftig zu geschlagen.

Ich denke an die Toilette in dem mir zugewiesenen Haus und wehre mich nicht.

Ich ziehe den Schalter wieder hinunter und folge den Befehlen der "Ping, Ping!"- Glocke.

Gut geschulte Berichterstatter würden schreiben, "Die Nacht würde ohne besondere Ereignisse verklingen."

Ich schreibe, scheiß Kapitalismus hat noch eine Nacht von meiner Jugend gestohlen.

Acht Uhr. Die Alarmglocke ringt. Ich stemple und laufe hinaus.

Ich laufe bis zum nächsten Wald. Ich gehe tief hinein.

Nein, ich will hier keine Trüffeln suchen.

Wie ich lesen gelernt habe, brachte mein Vater mir unter anderen Lesestoffen ein dickes Buch: "Gesammelte Märchen von Gebrüder Grimm."

Da gab´s in den Wäldern Wölfe und Bären. Das war in Deutschland. Aber Deutschland ist nicht sehr weit. Kann ich hier in Ruhe scheißen?

 

 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017