Marlboro und Camel

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
MARLBORO UND CAMEL

 

Ich habe noch ein bisschen Zeit. Ich gehe zwar Richtung Fabrik, aber immer wieder verliere ich mich in die Seitengassen.

Überall schaut alles gleich aus. Auch die kleinsten Gassen sind asphaltiert.

Das kann man nicht einmal von Istanbul behaupten. Auf der anatolischen Seite sind viele Gassen nur Lehm und Staub gedeckt. Auf der europäischen Seite wächst die Stadt durch die Arbeitsmigranten aus Anatolia immer weiter hinaus. In diesen Gebieten fehlt jegliche Infrastruktur. Daher bin ich noch immer ratlos, ob dieser Ort ein Dorf oder eine Stadt darstellt.

Jetzt bin ich in einer Gasse gelandet, wo es einige Geschäftsläden gibt's. In Istanbul sind die Geschäfte unter den mehrstöckigen Häusern ebenerdig platziert. Hier ist jedes Geschäft ein eigenes, einstöckiges Haus.

Das ist ein Gemüsegeschäft. Sogar stehen vor der Hausmauer wie in Istanbul Gemüsestände. Ich sehe viel bekanntes: Kartoffeln, Zwiebeln, Krautköpfe, Äpfel… In Mersin bin ich bananen- und orangensüchtig geworden. Hier gibt es sie nicht.

Danach kommt die Fleischerei. An der Fassade sind breite Glasfenster. Ich sehe durch. An der gegenüberstehenden Wand hängen halbe Schweine und Teile von Schweinskörpern. Schafe gibt's nicht.

In Istanbul, wo es Gemüsegeschäft und Fleischerei gibt, ist der Kreisler nicht mehr weit. Ich sehe aber keinen Kreisler.

Danach kommt noch ein Geschäft. An der Fassade steht ein großes Schild heraus. Das ist ein Kreis, mit einem Loch in der Mitte. Eine weiße Stange durchquert dieses Loch diagonal. In dem Kreis steht weiß auf rot mit Großbuchstaben "TABAK TRAFIK".

"Tabak" dürfte "Tobacco" heißen. "Trafik" heißt in der Türkei "Straßenverkehr". Aber diese Stange dürfte eine Zigarette abbilden. Ich gehe in das Geschäft hinein.

Was gibt es in diesem kleinen Laden nicht? Aus einem Kübel stehen gerollte Packpapiere und bunte Geschenkpapiere heraus. Tageszeitungen und allerlei bunte Zeitschriften hängen herum.

Ich sehe in den flachen Regalen viele verschiedene Zigarettenpackungen. Aber auch Zigarren, wie ich aus Che Guevera-Fotos kenne.
Hier sind viele verschiedene Zigarettenmarken, die ich nicht kenne. Aber zwei Marken sind mir gut bekannt: Marlboro und Camel.
Woher kenne ich sie?

Als mein Vater in Istanbul als Zollbeamte tätig war, hatte er mit dem ausländischen Schiffspersonal zu tun. Da er sie nicht unnötig strapazierte, bekam er immer wieder eine Schachtel Marlboro oder Camel geschenkt. Da er nicht rauchte, brachte er die Zigaretten zu mir.

Ansonsten konnte man diese Zigaretten als Schmuggelware oder in Importgeschäften kaufen. Auf jeden Fall waren sie sehr teuer und kosteten mehr als zehn Lira.

Außerdem gehörte Marlboro in Istanbul zu der städtischen Folklore.

Für einen Touristen in meiner Jugend bot Istanbul sehr viele attraktive Fotomotive: Sogenannte Volkstypen.
Zum Beispiel der Schausteller mit seinem Bär und Tambourin.

 

Aber auch der Trinkwasserverkäufer mit seiner riesigen Kanne am Rücken und Gläser auf seinem Bauchladen wurden sehr oft fotografiert.

 

 

Stattdessen habe ich im Internet einen Sturmverkäufer gefunden.

Aber auch die als Lastenträger benützten gebückten Kleinkinder oder alten Männer mit ihren geflochtenen Körben auf ihren Rücken waren für die Touristen sehr beliebte Fotomotive.

 

 

 

Was gab es damals in Lustenau zum Fotografieren? Nichts! Darum blieb ich der einzige Ausländer, der Englisch spricht.

Es gab aber in Istanbul noch einen "Volks Typ", der für die Touristen verborgen blieb. Er ist der "Tombalaci" (=Tombola Spieler).

Er trug mit sich einige schmale, längliche Karten, worauf sechs Kreise mit je einer Ziffer von eins bis hundert darauf gebildet waren. Auch wenn jede Karte verschiedene Nummern enthält, die Nummer "zwei" war bei jeder Karte zu sehen.

Er hatte aber auch ein Sackerl aus schwarzen Stoff. Drinnen waren runde Holzknöpfe, genau in der Größe, die auf die Kreise auf den Karten passten. Auf diesen Knöpfen waren rote Ziffern von eins bis Hundert. In dem Sackerl waren alle Ziffern dreimal vorhanden, aber keine einzige "zwei".

Er trug die Karten und den Sack in seiner rechten Hand. In der linken Hand trug er eine Schachtel Marlboro.

Klientel des Tombalaci waren nicht Touristen, sondern landlose Bauern, die zum Arbeit suchen frisch nach Istanbul kamen. Sie zahlten eine Lira und wollten dafür ein Paket Marlboro ergattern, was mehr als zehn türkische Lira kostete.

Dann zogen sie eine Karte los und steckten ihre Hand in das Zaubersackerl. Es fehlte aber die "zwei". Enttäuscht versuchten sie es noch zwei, dreimal und dann gaben sie auf.

Der Tombalaci musste jeden Tag viele Kilometer durch die Stadt laufen, um neue Opfer zu suchen.

Wenn er nicht vorsichtig genug war, könnte er auch einen gerissenen Strizzi erwischen. Für diesen Fall trug er ein Springmesser mit sich.
Wenn er Glück hatte, könnte er zwanzig bis dreißig Lira am Tag verdienen. Das trug er immer mit sich. Denn er könnte jeder Zeit von einem patrouillierenden Polizisten erwischt werden. Dann bezahlte er den Beamten und könnte weiterziehen. Mindestens für diesen Tag würde der Beamte ihn übersehen.

Aber was ist, wenn er Pech hatte und ihn gleich danach ein anderer Polizist erwischte und er nicht mehr bezahlen könnte? Dann bekam er für ein paar Monate ein Obdach im Knast, und der Polizist rauchte Marlboro.

Hinter dem Verkaufspult sitzt eine sehr alte Frau und lächelt.

"Eins Marlboro, eins Camel.", sage ich.

Sie schiebt mir die Zigaretten zu. Marlboro fünfzehn Schilling und Camel vierzehn.

In der Türkei rauchte ich "Bafra".

Bafra kostete eine Lira und vierzig Kuruschs. Ich habe aber nur mehr ein Packerl davon.

Marke Bafra ist fast zweihundert Jahre alt. Früher war es eine Familien Manufaktur. Mit der sogenannte "Republik" wurde alles, was mit Alkohol und Tabak zu tun hat, türkisiert und unter Staatsmonopol "Tekel" (=einzige Hand) gestellt.

Ich mache aber hier eine Entdeckung, was mich Jahrzehnte lang begleiten wird. Da ich bereits mehrere Bücher veröffentlicht habe, weiß ich, dass das Papier in der Türkei eine Mangelware und sehr teuer ist.

Auf dem Pult stehen mehrere "Schulhefte" mit dunkelgrauen Deckeln und weißen Etiketten. Ein Heft kostet nur vierzig Groschen. Ich kaufe gleich vier Stück, rolle sie leicht und stecke sie in die inneren Taschen meines Sakkos.

Im Laufe der Jahre, wenn ich plötzlich eine Lust bekomme etwas zu schreiben, ging ich in die nächste "Trafik" und kaufte insgesamt mehrere hundert "Schulhefte".

Auch ein paar einfache Kugelschreiber kaufe ich. Die sind die gleichen wie in der Türkei: Marke BIC.

Mit den Schulheften und Zigaretten sehr bereichert, gehe ich seelenruhig in die Fabrik.

 
 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017