Am Strand

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
AM STRAND

 

Sieben Uhr. Der große Wecker tanzt und tobt auf dem Betonboden des Flachdaches. Stöhnend wachen wir alle auf. Toilette gehen, duschen, rasieren. Alles schnell schnell.

Zwei Jeeps fahren zum Zollamt. Mit dem dritten Jeep fahren Mustafa und ich zur Uray Straße. Mittlerweile ist Mustafa mein Privatchauffeur.

Mein Vater ist schon weg. Meine Mutter und meine Schwester sind schon wach. Mein Bruder schläft noch. Ich halte meine Schwester an ihrer Hand und wir gehen zum Strand.

Mein Kopf dröhnt. Meine Schwester kennt den Weg und schleppt mich.

Wir sind am Strand. Keine Kasse, kein Zaun. Ein schmaler Sandstreifen und gleich das Meer. Ich habe eine Badehose geliehen. Meine Schwester hat unter ihrem Zweiteiler einen Badeanzug angezogen.

In Istanbul, wenn man zum Schwimmbad geht, bezahlt man zuerst bei einer Kasse einen Einritt und bekommt einen nummerierten Kabinen-Schlüssel. Dort wechselt man seine Kleider. Es gibt eine ziemlich große künstliche Sandfläche mit aufgestellten Sonnenschirmen.

Gleich nach der Markierung des Badestrandgebietes im Meer beginnen die kleinen Boote. Ein bisschen weiter kleinere und noch weiter größere Schiffe. Wenn man in die Ferne schaut, sieht man die Silhouetten der Inseln.

Hier am Strand gibt's keine Sonnenschirme und bei der Hitze liegt kein Mensch auf dem Sandstrand.

Das Meer scheint unendlich zu sein.

Im Wasser sehen wir nahe am Strand nur einige Gruppen von Kindern, die spielen oder schwimmen.

Keine Erwachsenen.

Meine Schwester hält mich an der Hand und bringt mich zu einer Gruppe im Wasser. Es sind vier Buben, alle vierzehn oder fünfzehn und ein Mädchen, etwa neunzehn Jahre alt. Alle kennen meine Schwester. Sie macht mich mit ihnen bekannt. Das Mädchen heißt Eva und interessiert mich besonders. Denn sie hat solche Augen, wenn ein junger Mann hineinschaut, kann er den Boden unter seinen Füßen nicht mehr spüren.

Warum sage ich ein junger Mann? Weil ich seit einigen Jahren im Rollstuhl sitze, mein linkes Bein ist amputiert und der rechte Fuß spürt den Boden sowieso nicht mehr. So kann ich ohne Angst in ihre Augen schauen. Ja, ich habe ein Foto von ihr und der ganzen Gruppe. Vorne sind vier Buben, dann Eva, ganz rechts meine Schwester. Hinten bin ich, viel größer als alle anderen stehe ich wie eine Bohnenstange und rauche eine Zigarette.

Ich werde aber dieses Foto hier nicht veröffentlichen. Wahrscheinlich hat sie jetzt Enkelkinder und womöglich sind sie im Internet aktiv, und mit ein bisschen Fantasie kommen sie darauf, dass ihre Oma dieses junge Mädchen ist. Dann werden sie fragen: "Oma, was hast du mit diesem wilden Kurden gehabt?"

Die Buben bespritzen mich mit Wasser, ich spritze zurück, aber bemühe mich, das Spiel nicht in einen Machtkampf zu verwandeln. Eva bleibt ernsthaft. Meine Schwester ist noch ein Kind. Eva benimmt sich aber wie eine Dame.

Das Wasser ist mehr salzhaltig als in Istanbul und hebt mich auf. Ein bisschen schwimmen, und es wird bereits fad. Ich werde Eva am Nachmittag allein treffen.

Obwohl ich mich immer mehr langweile, bleibe ich bis Mittag am Strand, wegen meiner Schwester. Dann halte ich sie an der Hand und wir gehen gemeinsam zum "Republik" fressen.

Bis sie neun Jahre alt war, lebte ich mit ihr bei den Eltern. Danach verlasste ich die Familie und Jahre lang war ich ein Straßenkind. Obwohl ich mit den Eltern wieder versöhnt war, war ich seit Jahren fast immer unterwegs. Theater-Tourneen, Feldforschungsreisen, politische Arbeit… Zwischendurch war ich immer wieder zuhause und sah jedes Mal staunend, wie meine Schwester wuchs.

Ich kann nicht behaupten, dass ich sie gut kenne, aber vielleicht die Sehnsucht verbindet uns. Auf jeden Fall lieben wir uns jetzt sehr, sie lässt meine Hand nicht gerne los, und ihre Hand erwärmt mein Herz.

Jetzt bin ich für eine kurze Zeit wieder mit ihr. Aber ich will, sobald sich eine Möglichkeit ergibt, ins Ausland flüchten. Außer dass ich durch einen Zufall erfahre, wo Genosse Mahir Çayan (=Tschayan) sich befindet und ich zu ihm gehe.

Aber was ist dann? Ich weiß, dass die Faschisten gegen die Kommunisten Sippenhaftung ausüben. Ich weiß außerdem, dass die Polizisten verhaftete Genossinnen nicht nur foltern, sogar vergewaltigen. Ich glaube nicht, dass die Soldaten zivilisierter sind.

Was ist, wenn ich im Ausland bin und höre, dass meine Schwester verhaftet wird? Mich schauderts. Ich muss sie befreien. Aber wie? Ich kann nicht an die Grenze gehen und sagen "Hallo! Ich bin zurück!"

Ich weiß es nicht. Aber ich schwöre in Stille vor mich hin, dass ich versuchen werde sie zu befreien, wenn mir das auch das Leben kosten sollte.

Nach dem wir im Republik-Kebap die übliche Zeremonie absolviert haben, bringe ich meine Schwester nach Hause.

Jetzt gehe ich zu Eva. Diesmal treffen wir uns im Bogenschieß-Klub. Das ist ein Privatklub und anscheinend ist die Mitgliedschaft ziemlich teuer. Es schaut alles sehr gepflegt aus, die Rasen sind gemäht, die Gebäude weiß ausgemalt, das Personal gut angezogen usw.

Eva empfängt mich an der Tür und ich muss keinen Eintritt zahlen.

Wir gehen gleich zu dem Übungsplatz. Das ist so etwas wie ein Tennisplatz, jedoch ohne Netze. Am Ende des Platzes stehen runde Zielscheiben mit mehreren Kreisen ineinander gezeichnet. Hinter der rechten Schulter von Eva hängt ein "Sadak" (=Tasche für die Pfeile). Sie zieht einen Pfeil heraus, spannt ihn, zieht den Bogen an, und schießt los. Fast zwölf.

Rechts von uns sind vier Männer. Alle über fünfundzwanzig. Sie ist die jüngste, und sie ist die einzige Frau. Hinten sind die Laufburschen. Sie lösen den Pfeil heraus und bringen ihn zu ihr zurück.

"Jetzt bist du dran!", sagt Eva und gibt mir den Bogen. Ich, als alter Ingenieurkandidat, untersuche den Bogen. Wahrscheinlich aus übereinander gelegten Bambusscheiben gebaut. Aber mein Interesse lässt bald nach: Wahrscheinlich werde ich mit diesem Apparat nie mehr wieder zu tun haben. Das ist keine geeignete Waffe, um gegen die Faschisten zu kämpfen.

Ich nehme einen Pfeil aus ihrem Köcher und versuche den Bogen zu spannen. Es schaut so leicht aus, wenn Eva das tut. Es bewegt sich nichts. Ich versuche noch einmal. Nein, es bewegt sich nicht. Ich sammle alle meine Kräfte und versuche noch ein mal. Meine Zunge hängt hinaus. Aber der Bogen bewegt sich nicht.

Ich schaue Eva an. Ihre Oberarme sind so stark wie meine Schenkel und voller Muskeln. Das gefällt mir. Ich schaue ihre Augen an und es gehen Wellen durch mein Hirn.

"Eva!", sage ich, "Bist du Armenierin?"
"Frechheit!", sagt sie, "Ich bin eine Türkin!"
"Dann müsstest du Hawwa heißen. Im Koran heißt die Frau von Adam Hawwa."
"Ich bin aber eine Türkin und heiße Eva!", sagt sie. "Ich bin nicht Muslimin. Ich bin Katholikin!"
"Türke heißt Konvertit.", sage ich. "Es gibt zwei Arten davon: `Devschirme´ heißen die Zwangskonvertiten und ´Dönme´ sind die freiwillig Konvertierten."
"Ich verstehe nicht!", sagt Eva. "Warum kann ich nicht Türkin und Katholikin sein?"
"Du kannst nicht ein Büffel und zugleich ein Spatz sein.", sage ich.
Sie schaut mich vergrämt aber verständnislos an.

"Was sagst du zu der Militärregierung?"
"Politik hat mich nie interessiert.", sagt sie, "Politik ist nicht die Sache der Frauen."
Aber Bogenschießen, denke ich, aber sage nichts.

Wenn Eva versuchen würde mich zu küssen, würde ich mich wahrscheinlich nicht dagegen wehren. Ich habe es aber nicht versucht. Nicht nur allein wegen ihrer kräftigen Arme.

Zwischen uns ist sonst nichts passiert. Warum schreibe ich alles? Weil ich nach fünfzig Jahren mein Archiv durchstöbere. Ich hätte damals sicher nicht gedacht, dass ich nach fünfzig Jahren dieses Foto am Strand anschauen und mich an sie erinnern würde. Ich gebe zu, sie hat wunderschöne Augen.

Am Abend vermeide ich den täglichen Familienbesuch. Wahrscheinlich meine Mutter, selbst Konvertitin, wird anfangen mit "Kommt nicht in Frage! Eine armenische Braut kommt nicht in dieses Haus!"

Ach, diese Konvertiten!

 

 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017