Das befreite Gebiet. Langsam sind alle Jungs satt. Nach ein paar Gläsern Rotwein traue ich mich endlich zu fragen.

"Warum sagt ihr immer Genosse Direktor?"
"Weil er unser Genosse ist.", sagt Mustafa.
"Und unser Vorbild und unser Held!" sagt Hüseyin.
"Wieso?", frage ich.
"Weil er die Sechste Flotte besiegt hat.", sagt Mustafa.

Sechste Flotte?...

"Wen hat er besiegt?"
"Die sechste Flotte."

Nach dieser Geschichte sind fünfzig Jahre vergangen. Damals hat es weder Google noch Wikipedia gegeben. Ich schaue heute nach in Wikipedia: "Die United States Sixth Fleet (deutsch 6. US-Flotte) ist die für das Mittelmeer und den gesamten östlichen Atlantik zuständige Flotte der US Navy."

Die Sechste Flotte mit ihren mächtigen Flugzeugträgern war für die Achtundsechziger-Generation in der Türkei die Armada des Teufels.

Ob diese Flotte jemals in Vietnam war, weiß ich nicht. Wir glaubten aber, sie wurde in den USA mit neuen Bomben aufgeladen und fuhr für die Massenmorde nach Vietnam.

Nach dem Militärputsch 1960 wurden unerwarteter Weise die seit Jahrzehnten gültigen faschistischen Gesetze relativ aufgelockert. Auf einmal waren linke Bücher, Zeitungen, Zeitschriften zu lesen da. Es wurde die Arbeiter Partei der Türkei gegründet und auf Anhieb wurde sie eine ernsthafte Oppositionsmacht in dem Parlament. Ich war noch im Kindesalter und es meine Aufgabe war das Reinigen der Abziehmaschine im Parteilokal der TIP im Bezirk Kadiköy in Istanbul.
Gewerkschaften sind entstanden. Streiks, Demonstrationen waren vom Alltag nicht zu trennen.
Die Bauern wurden aufmüpfig. Sie demonstrierten, boykottierten, besetzten die Länder der Großgrundbesitzer.

Waren die Anführer der linken Bewegung am Anfang die alten Kommunisten, die den Großteil ihres Lebens in Gefängnissen verbracht haben, hat allmählich die Studentenbewegung die Führungsrolle übernommen. Ich hatte die Möglichkeit, bei der Entstehung und Entwicklung der legendären Organisationen FKF (=Föderation der Sozialistischen Ideen Clubs) und DEV-GENC (=Revolutionäre Jugend) mitzuwirken.

Von Anfang an verfolgte, verhaftete und folterte die Polizei die linken Aktivisten. Aber sie brachten bis 1967 noch niemanden um.

Wegen wachsenden Protesten gegen die Vietnam-Besatzung der USA konnte 1967 die Sechste Flotte an keinem europäischen Hafen am Mittelmeer anlegen. Die Soldaten brauchten einen Sommerurlaub und Bordellbesuch vor dem nächsten Einsatz. So haben die USA-Militärs beschlossen, die Flotte in Istanbul anzulegen.

Rechte Zeitungen haben die "Gäste" mit Jubel empfangen. Die Kerhane-Sokak (=Bordellen-Strasse) wurde seit Jahrhunderten zum erstem mal neu ausgemalt. Soldaten der Türkei schützten die amerikanischen Nato-Kollegen.

Auf einmal war die Istanbuler Altstadt voll mit den torkelnden Marines.

Linke Studenten greifen sie an. Kappen und Uniformen der Marines wurden geschädigt. Einige wurden leicht verprügelt. Einige wurden ins Meer geworfen. Das war im Juni 1967.
Soldaten der Türkei holten sie heraus. Kein USA-Soldat wurde ermordet. Wir waren damals unbewaffnet und dachten nicht einmal daran, uns zu bewaffnen.

Juli 1968 verehrten die Marines wieder unsere Bordelle. Die Proteste gegen die Sechste Flotte wurden immer stärker. Der damalige korrupte Ministerpräsident hieß Demirel (=Eisenhand) und regierte tatsächlich mit eiserner Hand das Land. Er wollte die linke Bewegung unterdrücken, egal was es koste. Er konnte nicht zulassen, dass seine Herren in den USA verärgert werden. Die Studenten mussten eingeschüchtert werden.

17. Juli Mitternacht stürmten die Polizisten in das Studentenheim der Technischen Universität in Istanbul und prügelten die Studenten. Ein Student in meinem Alter, namentlich Vedat Demircioglu, fällt ins Koma. Nach einer Woche Ringen mit dem Tod starb er am 24 Juli 1968. Genosse Vedat war das erste Todesopfer der linken Bewegung in meiner Generation.

Die Regierung lässt den Leichnam von Vedat verschwinden. Eine Riesendemonstration hinter dem symbolisch Sarg fand statt.

Sein Mord feuerte die linke Bewegung noch mehr an. Arbeiter, Bauern, Studenten heizten das politische Klima im Land immer mehr an. Der Polizeiapparat wurde immer wieder nachgerüstet und mit neuen Aufnahmen vergrößert.

Gleichzeitig mit der linken Bewegung wuchs aber auch die paramilitärische Bewegung der Grauen-Wölfe.

Und noch eine starke Bewegung entstand wieder und wuchs von Tag zu Tag: Die Islamisten. Sie waren damals der Liebling der CIA, weil sie gegen den Kommunismus kämpften.

Diesmal wurde der Bordellenurlaub in den Winter verlegt. 16. Februar 1969 war ein Sonntag. Sechsundsiebzig linke Organisationen machten einen Aufruf, an diesem Tag gegen die Sechste Flotte zu protestieren. Die friedliche Demonstration sollte am Beyazit-Platz vor der Istanbuler Uni beginnen und nach einigen Kilometern am Taksim Platz mit einer Schluss- Kundgebung enden.
Islamistische Zeitungen riefen öffentlich die Muslime auf, die Kommunisten, Feinde ihrer Beschützer Nato, im Namen Gottes brutal zu schlachten. "Verein für Kampf gegen Kommunismus" und "National Türkische Studenten Organisation", finanziert von der Regierung organisierten.

Wie ich viel später erfuhr, sammelten sie sich mit Schlagstöcken und Fleischhackermessern bewaffnet am Taksim-Platz und errichteten ein Gemeinschaft-Namaz-Gebet.

Die Polizei baute unterwegs Barrikaden. Wir konnten uns nur in kleinen Gruppen weiterbewegen. Wie wir am Taksim-Platz ankommen, griffen sie mit "Allahu Ekber"- Geschrei an. Wir bildeten nur kleine Gruppen und waren unbewaffnet. Ein großer Einsatz der Polizei war anwesend, aber sie beschützten die Angreifer.

Dieser Tag ist mit mehreren Toten und hunderten Verletzten in der Geschichte der sogenannten Republik der Türkei geschrieben und ist in diesem Land unter dem Namen "Blutiger Sonntag" heute noch immer ein Begriff.

"Ja, Genosse Direktor hat die Sechste Flotte besiegt.", sagt Mustafa.