Das befreite Gebiet

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DAS BEFREITE GEBIET

Postkarte, Raffinerie von Mersin
 

 

Autobahn. Mustafa zwingt den Jeep an seine Grenzen. Wir fliegen.

Rechts und links Brachland. Kein Haus, keine Fabrik. Selten kleinwüchsige Bäume. Ansonsten nur dunkelgelbe Erde. Wenn eine Prise Wind wehen sollte, würden wir durch Staubwolken fahren. Aber hier macht auch der Wind Tag und Nacht Siesta.

Immer wieder kleine Inseln des Unkrauts. Aber nicht grün, sondern rotbraun. Und jede Menge Steine: Faustgroße, kopfgroße. Kein Hund läuft herum, keine Katze, auch kein Hase.

Nach einer langen Fahrt biegt Mustafa nach links. Jetzt steigen wir aus. Hundert Meter vor uns steht eine große Anlage. Eine Fabrik?

"Wir bleiben hier!", sagt Mustafa, "In der Nähe wimmelt es von Polizisten."

Ganz Außen von der Anlage sehe ich ein Geflecht von dicken und dünnen Rohren. Dahinter sind sehr schmale Schornsteine, oder ähnliches. Von manchen davon steigen dünne Flammen heraus und sie schauen aus wie die Kerzen auf einer riesigen flachen Geburtstagtorte. Dahinter sind dicke, große silberfarbene Zylinder.

Ich höre die Atemgeräusche eines riesigen Dinosauriers.

"Erdölraffinerie," sagt Mustafa, "gehört den Amerikanern."
"Betrachte sie gut. Du organisierst eine Kiste Dynamit und wir kommen wieder her und machen Picknick!"

"Gute Idee!", sage ich.

"Genosse Direktor wird auf uns stolz sein."
Er zuckt und kichert.

Wir steigen wieder in den Jeep ein und fahren weiter.

Benzintanker, große Laster, selten PKWs… Wir überholen alle.

Mindestens eine halbe Stunde fahren wir durch die öde Wüstenlandschaft. Dann biegen wir nach rechts und halten.

Jetzt sehe ich inmitten der Wüste ein glänzend weißes Kleinhaus aus Beton. Davor sind zwei Jeeps geparkt.

"Hier ist das befreite Gebiet", sagt Mustafa, "Genosse Direktor hat das für uns bauen lassen."

Das Haus hat ein Flachdach. Darauf ist ein großer weißer Zylinder: Der Wassertank, erfahre ich. Auf dem Dach sehe ich auch einige junge Männer. Sie sehen uns und kommen einer nach dem anderen herunter.

Wir gehen in das Haus. Links ist ein großer Raum. Hier sind fünf Betten, alle dreistöckig. Und einige Stahlspinde.

Rechts ist eine Küche. Großer Esstisch, Sesseln, Kochnische mit Flaschengasherd und Waschbecken. Hinten sind zwei Toiletten, jede Toilette hat einen Betonboden, ein Loch in dem Betonboden und einen Wasserhahn auf der linken Wand unten.

Dahinter sind zwei Duschen. Wir gehen wieder hinaus.

Hinter dem Haus ist eine schmale Stahltreppe. Einer nach dem anderen steigen wir hinauf und gehen auf das Flachdach.

Links liegen ein hoher Haufen von Bettdecken und Kopfpolstern. Die Jungs bringen in Einzelteilen einen großen Sofra (= Runder, niedriger Holztisch) herauf. Im Nu wird der Sofra aufgebaut.

Anscheinend haben die Burschen auf uns gewartet. Jetzt wird der Sofra gedeckt. Sie gehen rauf und runter. Eine große Wassermelone. Drei große Laibchen Brot. Schafskäse. Schwarze Oliven. Eine Karaffe Wasser. Drei Doppler Rotwein. Teller und Gläser. Ich schäme mich: Hier gibt es kein Republik Kebap.

Wir setzen uns nieder im Schneidersitz rundherum des Sofras. Einige hocken knapp hinter uns.

"Willkommen in dem befreiten Gebiet! Hier ist die Amtssprache Kurdisch!", sagt Mustafa.

"Hier kommt kein Polizist und kein Soldat!", sagt Hüseyin.

"Falls sie kommen sollten, haben wir gut geölte Pistolen, auf Kosten des Staates.", sagt Ali.

Die Burschen essen mit dem Appetit der blühenden Jugend. Ich habe keinen Hunger. Ich trinke billigen, aber durchaus wirksamen Rotwein des Staatsmonopols.

Wir stoßen die Gläser an. "Auf deine Ehre!", schreien die Jungs.

"Auf eure Ehren!", schreie ich.

"Es scheint mir, ihr habt nicht viel zu tun." Sage ich.

"Genosse Direktor hat befohlen:", sagt Mustafa, "Solange das Kriegsrecht herrscht, ist eure wichtigste Aufgabe den Staat nicht mit den Zolleinnahmen zu füttern!"

Dann zuckt er wie eine Taube und kichert.

"Wie kommt ihr zum Zollamt?" frage ich.

"Genosse Direktor hat einen Brief an das Lise (=Lyceum, Gymnasium) von Erzincan geschickt und die Adressen der Absolventen verlangt. Dann hat er an alle eine Einladung für die Zollbeamten-Aufnahmeprüfung gesendet.", sagt Mustafa.

Erzincan, kurdisch Ezirgan ist die Herkunft meiner Ahnen väterlicherseits. Zumindest früher war das eine Armenisch/Kurdische Stadt. 1884, noch in der osmanischen Zeit, wurde in Erzincan eine Militär "Ruschtiye" (=Mittelschule, Unterstufe) gegründet. 1923, nach Proklamation der sogenannten Republik wurde die Schule mit der Oberstufe erweitert.

"Wieviel Bewerber sind gekommen?"

"Ungefähr sechszig. Aufgenommen werden nur fünfzehn."

"Wie war die Prüfung?"

"Zuerst schriftlich. Dein Vater hat uns ein paar Blätter zum Lesen gegeben und wir sind unter den Palmen gesessen und haben gelernt. Es lebe die türkische Rasse, Atatürk ist groß, wozu ist das Zollamt gut, warum muss ein Zollbeamter heimattreu sein und solcher Schwachsinn. Unten sind die zwanzig Fragen. Danach ist dein Vater vom Mittagsessen zurückgekommen und hat uns Schreibpapier verteilt. Danach ist er spazieren gegangen. Also Schummeln war nicht verboten. Nach einer Stunde ist er zurückgekommen, hat unsere Papiere eingesammelt und uns nach Hause geschickt. Morgen in der Früh sollten wir wieder zum Zollamt kommen, für die mündliche Prüfung. Das war die schwerste Nacht: Wir hatten in Mersin kein Zuhause!"

"Wie ist es dann weiter gegangen?"

"Wer es sich leisten konnte, ist in ein Hotel gegangen. Die übrigen haben auf der Wiese geschlafen. Um neun Uhr waren wir alle wieder im Zollamt. Dein Vater hat über Nacht die Prüfungen gelesen. Fast alle haben die Schriftliche bestanden. Danach sind wir einzeln ins Amtshaus gegangen."

"Was hat er gefragt?"

"Ich war der erste.", sagt Hüseyin.
Er hat gefragt, `Was sind die Pflichten eines Muslims?´ Wir haben es in der Schule gelernt, aber ich habe alles vergessen. `Im Ramadan verhungern.´, habe ich gesagt."

Alle lachen.

"Er hat den ganzen Tag bis zum Abend, ohne Mittagspause geprüft.", sagt Chalil. "Dann sind wir zurück nach Erzincan gefahren."

"Ich habe fast alles falsch beantwortet.", sagt Ali, "Ich habe gedacht, jetzt weiß der Direktor des Staates, dass ich Kurde bin, alewitische Abstammung habe und vermutlich auch Kommunist bin."

"Das haben wir alle gedacht.", sagt Mansur.

"Nach ein paar Tagen aber haben wir einen offiziellen Brief vom Zollamt gekriegt. ´Sie haben die Aufnahmeprüfung bestanden. Wir bitten um baldigen Dienstantritt…´ Man weiß nie, was Genosse Direktor denkt. Er überrascht uns immer."

Alle lachen.

Alle wollen nach dem Militärdienst heiraten und in Mersin ein Haus bauen. Sie wollen auch ihre näheren Verwandten nach Mersin ansiedeln. Denn der Grundstückpreis in der Wüste ist sehr billig.

Da es offiziell in der Türkei keine Kurden gibt, kann ich nicht wissen, wieviel Kurden damals in der kleinen Hafenstadt Mersin lebten. Am Republik-Platz hörte ich mehr Arabisch als Türkisch. Kurdisch hörte ich nur im Zollamt.

Heute ist Mersin eine Millionen-Metropole. In den letzten Jahrzehnten wanderten aus den vom Staat bombardierten kurdischen Städten und Dörfern sehr viele Kurden in die Großstädte. Heute gibt es dort eine große kurdische Einwandererkolonie. Den Kern dieser Kolonie pflanzte in Mersin mein Vater.

Die Jungs sind langsam satt. Jetzt überrannte mich die ewige Stille der Wüste. Nicht einmal ein Wind, ein Vogel, oder ein bellender Hund, aber das ewige Zischen der Zikaden.

"Habt ihr ein Saz (=Langhalslaute) hier?", frage ich.

"Hier nicht, aber ich kann eines organisieren.", sagt Mustafa und steht auf.

Nach einer halben Stunde kommt er mit einem Saz zurück. Ich stimme. Dann beginne ich zu improvisieren. Dann singe ich ein paar revolutionäre Märsche. Dann ein paar Volkslieder. Dann singe und spiele ich ein Govend (=kurdischer Tanz) nach dem anderen. Alle Burschen stehen auf. Halten einander an der Hand und tanzen wie die Verrückten.

Immer wieder zieht einer ein "Zilgit". Die Wüste gibt aber kein Echo zurück.

Fünfzehn kurdische Jungs, einer hübscher als der andere, fern von der Heimat als Zollbeamte in der Wüste. Ich habe sie nie wieder gesehen. Was ist aus ihnen geworden?

Sind sie als Zollbeamte pensioniert? Haben sie in Mersin ein Haus mit Garten gebaut? Blühen in dem Garten duftende Rosen? Erzählen sie ihren Enkelkindern alte Geschichten? Kommt in diesen Geschichten auch "Genosse Direktor" vor?

Sind einige in die PKK gegangen? Sind sie auf den Bergen getötet worden?

Langsam sind wir alle müde. Es ist vier Uhr Nacht. Wir breiten die Bettdecken aus uns schlafen unter den Sternen.

Es kommt mir vor, es gibt hier viel mehr Sterne als in Istanbul.

 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017