Meine Stimme

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
MEINE STIMME

 

Ich wache auf. Vierzehn Uhr ist bereits vorbei. Sehr lang habe ich geschlafen. Trotzdem habe ich Kopfschmerzen. Ich habe zu viel getrunken und vor allem die Getränke durchgemischt.

Zuerst mache ich mir einen Kaffee. Mit Filterautomat. Wie immer schwarz, ohne Zucker und anderen Zusatz

Ich trinke Kaffee und rauche. Und denke.

Habe ich gestern eine Anna kennengelernt oder habe ich davon nur geträumt?

Hat sie mir die Telefonnummer von Daphne aufgeschrieben? Ist das möglich nach so vielen Jahren?

Ich hole meine Geldbörse.

Tatsächlich ist ein Zettel drinnen mit einer Telefonnummer, davor ist die Vorwahl von Lustenau.

Verrückt.

Soll ich davon Gebrauch machen? Was bringt das?

Daphne war ein nicht zu Ende gelesener Roman. Sie selbst hat dieses Buch zu geschlagen. Hat das einen Sinn das wieder aufzuschlagen?

Sie könnte damals sagen: "Lieber Memo! Bitte schreib mir von dort, wo immer du hinkommst."

Dann würde jetzt alles anders ausschauen. Sie hat das aber nicht gesagt. Sie hat bei meinem Abschied nicht die geringsten Zeichen dafür gegeben, dass ich ihr etwas bedeutete.

Was kann passieren, wenn ich sie jetzt anrufe?

Wahrscheinlich hebt ihr Mann ab. Was sage ich dann?

"Entschuldigung. Falsch verbunden."

Oder ein Kind hebt das Telefon ab. Soll ich sagen: "Bitte hole die Mama."

Und was ist, wenn sie selbst mir entgegenkommt?

Kann sie sich an mich erinnern?

Und was soll ich antworten, wenn sie sagt: "Ich kann mich an dich wage erinnern. Aber was willst du von mir nach so vielen Jahren?"

Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Ich merke nur meine aufsteigende Erregung. Ich habe wieder Herzklopfen. Ich kann mich nicht mehr festhalten und weiterdenken. Irgendetwas in mir zwingt mich: "Ruf sie endlich an."

Wie in Trance, mit spontanen Bewegungen wähle ich die Nummer.

Eine kristallklare Sopranstimme sagt: "Hallo!"

Ich schieße sofort los: "Daphne!"

Danach folgen ein paar Sekunden Stille der Ewigkeit.

"Memo?"

"Ja."

"Wo bist du?"

"In Wien."

"Sag mir deine Telefonnummer."

Ich sage. Sie legt ab. Stille.

Ist das möglich? Seit ich Lustenau verließ, sind dreiundzwanzig Jahre vergangen. Das ist exakt die Hälfte unseres Lebens. Also eine lange Zeit.

Ich habe nichts gesprochen als ihren Namen. Ist es möglich, dass sie nach so langer Zeit sofort meine Stimme erkennt?

Ich habe es nicht nötig, mich mit nicht zu mir gehörenden Eigenschaften aufzublasen, oder meine Fähigkeiten mit einer vorgespielten Bescheidenheit zu verstecken.

Ich weiß, dass ich eine sehr besondere Stimme habe. Oder besser gesagt "hatte".

Nach mehrmaligen Lungenentzündungen, Lungenkrebs Erkrankungen mit diversen Therapien und zuletzt mit COPD habe ich vor einigen Jahren meine Stimme verloren. Derzeit reicht die Stärke meiner Stimme nicht, ein längeres Telefongespräch zu führen. Aber bis vor ein paar Jahren habe ich eine sehr markante Stimme gehabt.

Ich bin Schauspieler. Ich bin Sänger. Ich habe eine sehr gepflegte Stimme.

Ich bin ein sehr tiefer Bass, aber kann ich auch Baritonpartien singen.

Ich singe nicht nur in der Badewanne. Ich singe jede Woche mindestens einmal auf der Bühne.
Aber auch sonst singe ich fast immer ununterbrochen, außer dass ich einer Rede, einer Musikinterpretation oder irgendwelchen Geräuschen aufmerksam zuhöre.

Ich singe während einer Zugfahrt, beim Gehen auf der Straße, nicht sehr laut, aber hörbar.
Immer wieder kommen fremde Menschen zu mir und sagen: "Bitte nicht aufhören!", und begleiten meinen Gang eine Weile.

Manchmal rufe ich aus dem Telefonbuch eine Firma an, weil ich etwas bestellen will. Die Dame auf der anderen Seite sagt: "Sie haben so eine schöne Stimme. Ich will sie unbedingt kennenlernen."

Aber das bringt immer eine Enttäuschung. Weil sie hinter meiner Stimme einen Berg aus Beton erwarten. Ich bin aber nur eine schmächtige Bohnenstange.

Ist meine Stimme nur eine glückliche Gabe der Natur? Wenn das so wäre, würde ich nicht stolz darauf sein. Ich arbeite täglich hart daran. Atemübungen, Stimmübungen. Außerdem unterrichte ich Gesang. Ich habe sehr viele Schüler und Schülerinnen. Auch da lerne ich sehr viel, vor allem was ich nicht machen darf.

Also, ist es keine Überraschung, dass sie meine Stimme erkannte?

Erstens, meine Stimme hatte damals nicht die heutige Reife. Zweitens, dreiundzwanzig Jahre ist eine sehr lange Zeit. Drittens, obwohl ich ein sehr gutes Gehörgedächtnis habe, hatte ich ihre Stimme nicht sofort erkannt, wenn sie mich angerufen hätte.

Seit einer viertel Stunde ist Stille. Ich traue mich nicht noch einmal anzurufen. Was hat sie vor?

Endlich läutet das Telefon. Ich hebe den Hörer sofort ab.

"Memo! Morgen sechzehn Uhr dreißig. Westbahnhof. Warte auf mich!"

Ich bin sprachlos.

Bin ich der Zauber Lehrling? Was habe ich getan?


 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017