Mario Bey

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
MARIO BEY

 

Die kurze Karriere meines Vaters als Zolldirektor ist bereits beendet. Er ist jetzt in Pension. Und das ohne Strafmaßnahmen und Abschlägen. Allein das ist ein Wunder! An seiner Stelle ist ein Aufstieg gieriger Armee-Offizier ohne Facherfahrung ernannt.

Mein Vater hat seine jungen Zollbeamten bereits pragmatisiert. Ihnen kann nichts mehr passieren. Auch das "Befreite Gebiet" bleibt ihnen erhalten.

Mein Vater schuf auch die Basis für eine kurdisch-alevitische Kolonie in Mersin: Es sind bereits mehrere Familien in neu gebaute Häuser am Stadtrand umgesiedelt.

Meine Familie hat keinen Grund mehr, in Mersin zu bleiben. Wir haben nach wie vor ein Haus im anatolischen Teil von Istanbul. Also ist meine Familie vor zwei Tagen per Eisenbahn nach Istanbul zurückgefahren.

Und es ist noch ein Wunder geschehen: Ich habe einen Reisepass!

Darauf steht:
"Republik der Türkei, Pasaport".

Pasaport ist auf "Güneş Şahiner" ausgestellt. Drinnen liegt auch ein Meldezettel: Demnach bin ich geboren und wohnhaft in Mersin. Und dieser Reisepass hat ein halbes Jahr Gültigkeit.

Ich bleibe noch zwei Nächte im befreiten Gebiet. Dann nehme ich ausführlich Abschied von allen Burschen.

Mustafa führt mich zum Flughafen in Adana. Mit dem ersten Flugzeug in der Früh bin ich unterwegs nach Istanbul.

Flughafen "Yesilköy" in Istanbul. Kein Zwischenfall. Ich bin jetzt draußen. Ich nehme ein Taxi.

"Wohin?"
"Bezirk Findikli, Meclis-i Mebusan caddesi (=Versammlung der Volksvertreter Straße), 37, Sosyal Sigortalar Is Hani (=Geschäftsgebäude der Sozialen Versicherungen)".

Dort ist das Büro von "Orient Express Dampfschiff Agentur mit beschränkter Haftung."
Und das gehört Mario Bey (=Herr Mario), der Italiener.

Das Schiff mit der griechischen Flagge heißt Senegal. In der Türkei wird es vertreten durch eine Agentur. Und das gehört dem Mario Bey, der Italiener. "Globalisierung" hat nicht erst heute begonnen.

Wie schaut ein Italiener aus? Ich habe noch nie einen Italiener kennengelernt.
Das stimmt nicht ganz. Ich kenne eine Menge Italiener: Dante, Rossini, Puccini, Mussolini…
Das meine ich aber nicht. Ich meine, ein zeitgenössischer Italiener. Wenn alles gut geht, bin ich bald in Europa. Ein Italiener ist ein Europäer. Ich bin neugierig. Wie schaut so ein Mann aus?

Dann fällt mir ein zeitgenössischer Italiener ein: Marcello Mastroianni. Schauspieler. Ich habe voriges Jahr in "Sinemathek" in Istanbul "Die Nacht" von Michelangelo Antonioni gesehen. Der Film hat mich sehr interessiert. Es waren nicht alle Verhältnisse, vor allem zwischen den Geschlechtern, alltäglich in Istanbul. Waren einige von ihnen "Ausnahmeverhältnisse" oder allgemeine zeitgenössische Verhältnisse in Europa?

Marcello Mastroianni

 

Mario Bey ist Europäer. Also er ist blond oder brünett, denke ich.

Außerdem ist er ein Geschäftsmann. Wahrscheinlich hat er einen Maßanzug. Er trägt sicher eine Krawatte oder zumindest ein Mascherl.

Das Taxi hält an. Ich bezahle und steige aus.

Eine breite Straße entlang der Küste. Außer ein paar geparkten Autos kein Zeichen des Straßenverkehres.

Links, etwa fünfzig Meter vor mir, entlang dem Meer gehen zwei Männer in mittleren Jahren langsam voran und unterhalten sich. In dieser geschützten Bucht ist das Meer glatt wie ein Spiegel. Boote, Fischerkutten, in der Weite Schiffe. Es ist alles so schön wie auf einer Postkarte.

Rechts von mir ist ein mehrstöckiges großes Gebäude. Darunter läuft ein breiter Gehsteig. Vor dem Haus ist ein Liegestuhl. Dort liegt ein Mann. Er dürfte Mitte vierzig sein.

Die Haut von meiner Mutter ist so weiß wie das Papier. Daher trägt sie den Spitznamen "Nurten" (=Licht-Haut). Ihren eigentlichen Namen benützt niemand. Auch mein Vater nennt sie "Nurten". Ich habe meine helle Haut von ihr geerbt. Mein Vater aber ist fast so dunkel wie ein Inder.

Der Mann hier hat eine Haut wie mein Vater. Am Vorderkopf fast keine, aber ab der Hälfte nach hinten pechschwarze lange Haare har er. Und er hat einen Schnurrbart wie der Kaiser Wilhelm II.


Er ist wahrscheinlich zweihundert Kilo schwer. Er hat ein Hawaii-Hemd mit großen bunten Blumen aus damals neumodischem Nylon-Stoff. Die Knöpfe sind nicht zugeknöpft. Auf seinen großen, stark behaarten Bauch scheint die Sonne. Und er trägt sogenannte Asakusa Sandalen aus Kunststoff. Die trägt man auf nackten Füßen und die Halterung steht zwischen der großen Zehe und den restlichen Zehen. Meine Mutter nannte sie "Tokio", aber sie zog sie nur im Haus oder im Garten an, niemals auf der Straße.

Tokio-Sandalen

 

Ich schätze, dass dieser Mann ein Kurde oder ein Armenier ist.

Neben ihm steht ein Klapptisch und darauf ein typisches, leeres Glas für einen türkischen oder russischen Schwarztee.

Gerade kommt ein fünfzehnjähriger Junge aus dem Haus, nimmt das leere Glas weg und stellt ein frisches Glas Tee auf den Tisch. Der Junge geht wieder zurück.

Es ist sonst niemand auf der Straße zu sehen. Ich gehe langsam zu ihm. Auf dem Gehsteig steht eine Wasserpfeife und er raucht daran.

Ich denke, er könnte nach Vorstellung der Europäer ein "türkischer Sultan" sein.

"Entschuldigen Sie, bitte. Ich suche Orient Express…"

Er lässt Rauchringe aus seinem Mund aufsteigen und sagt:
"Sie sind hier richtig!"

"Mario Bey?"

Er lacht laut stark.
"Das bin ich!"

Er spricht perfekt Türkisch, aber mit einem mir bisher unbekannten starken Akzent.
Ich stehe neben ihm und erzähle über mein Anliegen.

Er sagt:
"Ich habe vom Kapitän Kostas ein Telegramm bekommen, aus Mersin. Das geht in Ordnung. Nur, lass mich mein "Tömbeki" (=Tombak, Tabak) zu Ende rauchen."

Wir plaudern über das Wetter, Matrosenleben, Schiffsreisen und so weiter. Nach einer Weile steht er langsam auf und geht zu dem Gebäude. Er steigt die Treppen keuchend hinauf. Erster Stock. Er geht durch eine Tür hinein, ich gehe hinter ihm. Aus dem großen Fenster sehen wir die Bucht mit aller ihrer Schönheit. Er setzt sich hinter seinen Schreibtisch und ich setze mich auf einen Stuhl vor ihm.

Er spannt zwei Blätter Papier mit einem Kopie Carbon dazwischen in seine Schreibmaschine und schreibt.

Danach zieht er die geschriebenen Blätter wieder heraus und gibt eine Kopie zu mir. Ich falte das Papier zweimal und stecke es in meinen Reisepass.

Nach einigen Monaten habe ich bei der Fremdenpolizei in Wien meinen Pass abgegeben. Dieses Papier aber habe ich in einen Ordner gegeben und bis heute aufgehoben. Das ist hier unten:


 

Begleitbrief

 

Hier steht in etwa:
"Das Vorstellungsgespräch von Herrn Günes Sahiner mit dem Kapitän wurde positiv aufgenommen. Er ist am Schiff Senegal als Matrose angestellt. Bis er seine Reisepass Formalitäten erledigte, hat das Schiff Mersin verlassen. Jetzt wird er sich in Hamburg an das Schiff anschließen. Dieser Begleitbrief ist auf seinen Wunsch verfasst."

So sind mir einige Fragen an den Grenzen erspart geblieben.

Wenn ich heute noch lebe, verdanke ich mein Leben einer Reihe von gutmütigen Menschen.

Danke Mario Bey!



 
 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017