Gasthaus Schwanen

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
GASTHAUS SCHWANEN

 

Vielleicht habe ich mein Bewusstsein verloren. Vielleicht bin ich ohnmächtig. Vielleicht träume ich. Irgendetwas stimmt nicht.

Warum steht eine barfüßige, halbnackte Schönheit auf dem Gehsteig? Warum lächelt sie mich derart warmherzig an, so als wenn wir uns sehr lange kannten?

Im Volkshaus in Kadiköy war ein "Yurt Sinemasi" (=Heimatskino). Dort wurden nur einheimische Filme gezeigt. Jeden Dienstagnachmittag war die Frauen Matinee. Manchmal ging meine Mutter mit einigen Nachbarinnen dorthin und nahm mich mit.

So lernte ich die Kriterien, die als Qualitätsmerkmale eines Films galten: Ein Streifen musste mindestens eine Hochzeit und vier bis fünf Begräbnisse beinhalten. Am Ende musste der schirche Nebenbuhler tot sein und der hübsche Bräutigam aus reicher Familie, selbst ein junger Arzt oder Anwalt, die arme Braut mit hübschem Gesicht und Vollbusen heiraten.

Während der Vorführung spätestens nach einer Viertelstunde nach dem Anfang, verschwand das Bild auf der Leinwand und wurde der Saal ganz schwarz.

Dann schrien wir alle miteinander "Makinist!" (=Maschinenmann).

Der Filmvorführer wurde aufgeweckt, klebte die gerissene Celluloid Rolle mit Aceton und nach zwei Minuten waren die Bilder wieder zurück.

Ob ich in meinem Traum "Makinist!" geschrien habe, kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber langsam kommen die prächtigen Farben des Sonnentags und vorher dagewesene Gestalten wieder zurück.

Erst jetzt merke ich, dass hinter der Zirkusprinzessin eine große, weiße Kiste steht. Bei der vorderen Seite von dieser stecken oben kleine und große Eistüten. Die kenne ich aus der Türkei. Und darunter sind drei große Buchstaben angemalt: "EIS".

Eis? Ice? Icecream?

Ist diese Fee, die irrtümlich aus einem Traum ausgeflogen ist, nur eine einfache Eisverkäuferin?

Gleichzeitig sehe ich das ellipsenförmige Holzschild mit der schwungvollen Aufschrift "Gasthaus Schwanen".

Damals wusste ich nichts von der Existenz des Bodensees. Was suchen die Schwanen in Lustenau? Vielleicht wohnt hier ein Cellist mit der besonderen Neigung für Camille Saint-Saens?

Unter dem Schild sehe ich Heckenrosen, darunter einen lockeren Holzzaun und dahinter einen Garten. In der Mitte ein großer Baum, eine Linde? Dann sehe ich die Gartentische. Anscheinend ist hier ein Gastgarten.

Während dieser Zeit steht die Prinzessin mit vor ihrem Schoss gebundenen Händen und ihrem herzschmelzenden Lächeln still und betrachtet mich.

Erst nach dem, dass ich ihr in die Augen schaue, sagt sie leise, fast intim:

"Hi!"

"Hi!", sage ich mit erstickender Stimme.

Sie streckt ihre rechte Hand aus und sagt:

"My name is Daphne!"

"My name is Memo!", stottere ich.

Wer wird als nächstes erscheinen? Dionysos oder Pan?

Wir schütteln die Hände.

Ihre Hand ist wohlgeformt und sie hat lange, schöne Finger. Ich will sofort ihre Hand küssen aber beherrsche mich.

Ich möchte nicht, dass sie sich denkt, dass der Zweck meines Flanierens die Suche nach einem Opfer für einen Aufriss ist. Darum fange ich sofort an, wie ein Automat, mit meinem Standardsatz:
"I look for a room to…"

"Yes, I know.", sagt sie, "Everyone knows that. We are waiting on you!"

???

Da ich so hartnäckig jeden nach einem Zimmer frage, kann ich mir vorstellen, dass hier alle davon wissen. Aber was ist mit "we" gemeint? Und warum warten sie auf mich?

"Just a moment!", sagt sie und geht ins Haus.

Sie kommt sofort zurück. Neben ihr ist ein sechzehnjähriger, rothaariger Junge. Seine Haare sind wirklich seltsam rot wie ein Feuer. Er betrachtet mich freundlich aber extrem neugierig, wie wenn ich ein Alien wäre. Ich glaube nicht, dass er eine böse Absicht hat. Er prüft eher, ob ich ein geeigneter Spielkamerad bin. Er ist genauso bekleidet wie ein gleichaltriger Junge in Istanbul. Dann streckt er seine Hand aus und sagt: "Erich!".

"Memo!" sage ich.

Gleich hinter ihnen stehen eine Frau und ein Mann, im Alter meiner Eltern. Die Frau tritt hervor und reicht mir sehr freundlich lächelnd ihre Hand.

"Pia!"

"Memo!"

Sie hat ziemlich rötliche, kurze, braune Haare, ein rundes, hübsches Gesicht. Sie trägt eine von Schultern bis Schienbein hängende Schürze mit kleinen Blumenmustern, aber ohne Spitzen oder anderem Firlefanz. Sie hat auch keine Stöckelschuhe und ist nicht barfüßig.

Sie könnte durchaus eine Nachbarin von meiner Mutter in Istanbul sein. Außerdem hält sie ihre Hände wie meine Mutter, mit Anstand außerhalb ihres Körpers, wie wenn sie schmutzig oder nass wären.

Sie war mir sofort sympathisch und behandelte mich auch später, wie wenn ich ihr eigenes Kind wäre.

Der Mann ist schlank, fesch, aber hat am Vorderkopf eine Glatze und trägt eine Drahtbrille wie ich. Seine restlichen kurzen Haare sind dunkelblond. Auch er ist so bekleidet wie mein Vater am Sonntag bei der Gartenarbeit.

Er bleibt mir in zwei Meter Abstand und betrachtet mich von oben bis unten mehrmals. Er lächelt mich nicht an. Er ist sehr "ernst". Er kommt mir vor, wie ein Offizier bei einer Zwangsrekrutierungsstelle des türkischen Militärs. Ich glaube, dass er bald kommen und meinen Mund mit seinen Händen weit aufschlagen und meine Zähne aufzählen wird. Danach wird er meine Genitalien untersuchen und feststellen, dass ich beschnitten bin. Ich habe die Prüfung von vornherein verloren.

Dergleichen geschieht nicht. Nach einigen Minuten Beobachtung, noch immer sehr ernsthaft, kommt er zu mir, streckt seine Hand aus und sagt: "Ernst!".

Und er geht wieder ins Haus. Ich sehe die Erleichterung auf den Gesichtern aller Anwesenden.

Warum prüfte er mich so genau? Was hatte er mit mir vor? Ich will hier weder arbeiten noch irgendetwas Besonderes anstellen. Was muss ich für Eigenschaften haben, hier ein Zimmer zu mieten? Hat er mit mir etwas Besonderes vor?

Hier ist alles "normal" wie in einer Familie in Istanbul. Nur die Daphne ist sonderbar. So strohblond wie sie ist keine von der Familie.

Warum ist sie so halbnackt? Weiß sie, dass sie besonders schön ist und will das zur Schau stellen? Oder ist sie nicht nur Eisverkäuferin, sondern auch die Schaufensterpuppe des Gasthauses Schwanen?

Jetzt gehen alle ins Haus und ich folge ihnen.

Wir steigen die Treppen hinauf und auf dem ersten Stock gehen wir zu der letzten Tür. Ich bin sicher, dass hinter dieser Tür ein Zimmer mit mehreren Betten stehen wird und ich habe mindestens drei Mitbewohner.

 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017