Die Begegnung mit Moses

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DIE BEGEGNUNG MIT MOSES

 

13. 09. 1971, Sonntag

 

Die zweite Woche in Lustenau ist zu Ende gegangen. Gestern habe ich die ganze Nacht bis in der Früh gearbeitet. Dafür habe ich den ganzen Vormittag geschlafen. Und geträumt.

Ich stand vor dem Konsum. Die große Glasscheibe des Schaufensters hat sich automatisch hinaufgezogen. Die Puppen mit Klumpfüßen standen wie immer da. Ihre Füße waren nur eingesteckt. Ich steckte sie aus. Jetzt standen sie auf der Luft.

Ich machte ihnen neue Füße aus hellem Lehm. Jeder Fuß bekam fünf Stück wunderschöne Zehen.

Gestern den ganzen Nachmittag bin ich in Lustenau herum gegangen und habe Zimmer gesucht. Mittlerweile kennen mich hier alle Leute.

Heute Sonntag habe ich keine Lust wieder zum Bahnhof zu gehen. In der Nacht habe ich mich in der Fabrik gründlich rasiert. Ich ziehe meinen Maßanzug an und gehe hinaus.

Ich wandere ziellos herum und suche nach wie vor ein Zimmer, obwohl ich alle Hoffnungen bereits verloren habe.
Ich fange an mit meinen Zickzackmärschen, um vorsichtig zu sein.

Mitte September ist Lustenau so heiß wie Istanbul im Juli. Von Schlaflosigkeit, Unterernährung und Überarbeiten bin ich so benebelt, bald vergesse ich alle Vorsichtsmaßnahmen.

Ich bin gebückt, schau nur auf den Boden und mehr schwebe als gehe ich.

Dann hebe ich meinen Kopf, schaue nach hinten. Es kommt niemand. Hier war ich noch nie.

Die Straße heißt "Reichstraße". Was heißt reich? An Staat oder Imperium denke ich nicht. Ich vergleiche die Wörter immer mit dem Englischen. Reich heißt wahrscheinlich "reach".

Dann sinkt mein Kopf wieder hinunter und ich schleppe meine müden Füße am Boden.

Dann aber sehe ich etwas, das mich vollkommen verwirrt:

Ich sehe die vordere Hälfte eines Fußes auf dem asphaltierten Gehsteig. Entweder sehe ich langsam Halluzinationen oder drehen die Kapitalisten vollkommen durch. Jetzt stellen sie die Schaufensterpuppen für Werbezwecke auf den Gehsteig.

Aber die Puppen haben Klumpfüße. Oder sind sie seit meinem Traum umgewandelt?

Ich gehe einen Schritt nach vorne und sehe jetzt den ganzen Fuß. Es ist ein großer Fuß wie meiner. Kräftig und wohlgeformt.

Moses von Michelangelo

 

Das ist aber der Fuß von Moses von Michelangelo. Das war aber in einer Kirche in Rom. Haben sie den Moses als Leihgabe hierhergeholt und auf dem Gehsteig aufgestellt? Auf jeden Fall das ist nicht der Fuß einer Plastikpuppe, sondern bestimmt aus Marmor.

Noch ein Schritt und ich sehe auch den zweiten Fuß. Diese kräftigen Füße haben eine seidige Haut und bewegen sich.
Wahrscheinlich sind sie die Füße eines Sportlers.

Eine unwiderstehliche Kraft zwingt mich, mich auf den Boden zu werfen und diese Füße zu küssen. Ich bin aber Botschafter der Revolution. Ich habe einiges über die Exilerinnerungen der alten Bolschewiki gelesen. Lenin hat sich niemals im Ausland zum Boden geworfen und irgendwelche fremden Füße geküsst.

Ich bremse mich mit meiner letzten Kraft, außer dass ich meine Augen von diesen Füßen nicht mehr trennen kann. Die einzige Tat, die ich noch schaffe, ist die Erhöhung meines Blickes Centimeter weise nach hinauf.

Diese Füße sind sehr prächtig. Die Knöcheln glänzen in der Sonne. Starke Schienbeine, starke Waden. Vielleich gehören sie zu einem Fußballer.

Die Fußballer haben muskulöse, aber unförmige Beine. Diese sind Säulen aus Marmor.

Die Stimme sagt mir, diese kräftigen Kniescheiben sind von Michelangelo persönlich poliert. Gehe hin, greif sie mit deinen Händen fest an und zeige deine Kraft.

Die schimmernde Haut der Schenkeln bringen mich fast zur Ekstase. Ich muss auf mich aufpassen. aber wie?

Jetzt habe ich richtig Angst. Wenn ich meine Augen noch ein paar Finger hinauf hebe, sehe ich die Geschlechtsorgane.

Erwartet mich ein Penis oder eine Vagina? Habe ich die Berechtigung, die Intimitäten von einem Fremden zu sehen?
Bis jetzt ist keine Spur von einer kurzen Hose oder einem Minirock zu sehen. Ist dieser Mensch wirklich splitternackt?

Dann sehe ich die Spitzen einer fast symbolischen, sehr kleinen Schürze. Ich bin erleichtert. Dahinter bemerke ich den kürzesten Minirock meines Lebens.

Also, das ist eine Frau.

Jetzt ein bisschen mutiger geworden hebe ich meine Augen noch immer sehr vorsichtig in die Höhe.

Oben hat sie das Oberteil eines sogenannten Dirndls. Natürlich hatte ich damals keine Ahnung, was ein Dirndl ist.

Nach einer Weste, die fast an ein Korsett erinnert, kommt eine weiße Bluse, die den Busen halb frei lässt. Hoffentlich hat sie keine großen Euter.

Nein, sie hat einen flachen Busen. Ist sie vielleicht doch ein Mann?

Kaum bin ich von ihrem Schwanenhals fasziniert, entdecke ich ihr längliches Gesicht und ihre kurzen, strohblonden Haare.

Ihre vollen Lippen sind auffällig rot, ohne Lippenstift. Ihr breiter Mund mit den wunderschönen Zähnen wie Perlen und ihr Lächeln und ihre Grübchen... Diese Frau nimmt mich so warm ein, wie sonst niemand bisher je getan hat.

Am liebsten umarme ich sie ganz fest und küsse und küsse und küsse.

Gleichzeitig schaue ich in ihre Augen.

Ich zittere am ganzen Körper. Mein Hals ist so geschnürt, dass ich keinen Laut aus mir hinausbringe. Ich habe keine Kontrolle mehr über mich.

Ich oszilliere im Himmel ihrer blauen Augen wie ein Herbstlaub und kann mich nicht mehr wehren.

Es ist mit mir geschehen.


 

 

 


 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017