Der Schuss

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DER SCHUSS

 

Ich wohne jetzt über einem Gasthaus. Wie ich neugierig bin, ist es zu erwarten, dass ich bald hinunter gehe und mir das Gasthaus anschaue.

Ich kenne bereits die Wörter "Gast" und "Haus".

Aber was ist ein "Gasthaus"?

Ich habe bereits über die öffentlichen kulinarischen Anstalten in der Türkei berichtet. Dort gibt es alles Mögliche, aber ein Gasthaus gibt es nicht.

Mag sein, dass für deutschsprachige LeserInnen das Gasthaus sowas von alltägliche "Normalität" ist, dass man darüber nicht zu schreiben braucht. Für mich war das Gasthaus Schwanen damals eine vollkommen neue Erscheinung mit großen Überraschungen.

Das Phänomen Gasthaus in Österreich ist mit ihren zahlreichen Facetten ein eigenes Studienfach und ich habe später genug Zeit gehabt, dieses Fach mit ziemlich durchgearbeiteter Forschung zu absolvieren.

Jetzt komme ich wieder zum Anfang der Forschung zurück.

Wie ich in den großen Raum hinein komme, überfällt mich der Lärm. Drinnen sitzen fast vierzig Menschen.

Blickfang ist das große Farbfernsehen, das von der Mauer hinunter hängt. Das ist an der hinteren Ecke rechts an der Wand auf ein Gestell aufgesetzt. Es ist von überall sichtbar, auf höchste Lautstärke aufgedreht, und läuft die ganze Zeit ohne Pause.

Darunter ist eine Theke und darunter ist ein Kühlschrank mit Vitrine.

Davor ist ein Gang und links davon sind die eigenartigen hölzernen Bauten der Sitzbänke mit einem großen Tisch in der Mitte.

Ich gehe bis ganz hinten und finde dort einen Platz, ganz auf der Außenseite der Bank, dass ich jederzeit flüchten kann. Ich begrüße die bereits sitzenden und setze mich nieder.

Von hier kann ich nicht nur den Fernsehbildschirm, sondern auch die Tür gut sehen. Ich passe auf, ob überhaupt und wann die Sümerbank-Schuhe hereinkommen.

Wenn ich eine Waffe habe, ist das von großem Vorteil. Aber ohne Waffe kann ich mich sowieso nicht verteidigen.

Ich bin aber sicher, dass mich niemand verfolgen könnte, weil ich nur von dem oberen Stockwerk hierhergekommen bin.

Ich setze mich langsam und vorsichtig nieder und drehe meinen Kopf zum Fernsehen.

In diesem Moment schießt eine Pistole und mit der Explosion springe ich hinauf.

Die Eingangstür ist zu. Davor stehen keine Sümerbank- Schuhe. Ich sehe rundherum um mich. Alle Menschen sitzen gemütlich und keine Pistole ist zu sehen. Ich verstehe nicht was los ist und habe große Angst.

Ich setze mich langsam wieder nieder.

Kaum bin ich gesessen, höre ich wieder einen Pistolenschuss. Ich springe wieder hinauf.

Bald folgen weitere Schüsse. Ich drehe mich im Kreis und kann meine unwillkürlichen Bewegungen nicht mehr stoppen.

Nach den Explosionen vermisse ich aber das Zischen der Kugeln.

Rechts und links zischen die Kugeln neben meinen Ohren. Ich spüre ihren Wind auf meinen Wangen. Ich gehe weiter nach vorne. Ich habe eine neun Milimeter Tscheska in meiner rechten Hand und sie bleibt immer wieder stecken.

Das Rektorat befindet sich nicht im Hauptgebäude, sondern draußen, außerhalb der Hofmauern. Die Faschisten, die sogenannten Grauen Wölfe, haben das Rektoratsgebäude besetzt.

Wir befinden uns im Hauptgebäude. Wie die Nachricht zu uns kommt, werden Freiwillige gesucht. Die Freiwilligen sind immer dieselben verrückten Todeskandidaten und ich gehöre dazu.

Unsere Aufgabe ist, durch den Hof bis zum Haupteingang in den Hofmauern, dann dort hinaus zu gehen und das Rektoratsgebäude von den Faschisten zu befreien.

Von dem Hauptgebäude bis zur Hofmauer ist mindestens hundertfünfzig Meter Abstand. Das Rektoratsgebäude ist auf der rechten Seite. Also marschieren wir auf der rechten Seite des Hofes.
Dieses Gelände ist vor kurzem neu bepflanzt worden. Alle eineinhalb Meter stehen neu gepflanzte Jungbäume vor uns. Diese haben keine Blätter, keine Äste, dafür aber viele Knospen. Die Bäume sind ungefähr so hoch wie ich, aber nur so stark wie mein Daumen.

Also die Bäume bieten keinen Schutz vor dem Kugelhagel. Wenn sie getroffen werden, beugen sie sich, und mit den Bewegungen von einer Peitsche stehen sie wieder auf.

Ein paar Meter rechts von mir marschiert Taner Kutlay. Ich habe Taner in diesem Roman bereits vorher erwähnt.

Taner ist mein Busenfreund. Wir haben hunderte von Stunden über Revolutionstheorie und Gott und die Welt diskutiert. Er ist auch einer von den sehr wenigen Genossen, die über meine sexuelle Orientierung Bescheid wissen. Das ist kein Problem für unsere Beziehung.

Bitte keine Missverständnisse: Wir sind Genossen und dicke Freunde, aber unsere Beziehung geht nicht darüber hinaus.

Taner ist vor Jahren gestorben. Zwanzig Jahre nach meiner Flucht konnten wir wieder Kontakt aufnehmen und haben wir immer wieder telefoniert. Seine politische Linie war immer die gleiche wie meine.

Seine Todesnachricht war für mich erschütternd. Das habe ich von Genosse Isitan Gündüz erfahren. Auch diese alte tscherkessische Eiche ist inzwischen gestorben.

Taner war nicht nur sehr mutig, sondern sehr gebildet und ein echter Revolutionär mit fundierter Überzeugung. Liebe und Respekt vor seiner Erinnerung.

Da ich zwei Vornamen habe, manche nennen mich Memo, manche Günesch.

Taner, nur ein paar Meter von mir entfernt, obwohl er der gleichen Gefahr ausgesetzt ist wie ich, schreit immer wieder:

"Günesch, sei vorsichtig! Wir wollen keinen Mann verlieren."

Einige Meter vor mir marschiert "H", einige Meter vor Taner "M".

Die Protagonisten in diesem Roman sind nicht die Produkte meiner Fantasie. Alle haben auf dieser Welt tatsächlich gelebt und einige wenige leben noch immer.

Ich habe bisher von allen Personen mit ihren echten Namen erzählt, ob ich es darf oder nicht. Aber diesmal habe ich Bedenken.

Von H habe ich seit ich geflüchtet bin, nicht mehr gehört. Ob er lebt oder nicht, weiß ich nicht.

Auch mit M habe ich fünfzig Jahre keinen Kontakt gehabt. Seit einem Jahr ist er plötzlich mein Freund in Facebook.

Und wir sind mit M nicht mehr im selben politischen Lager.

Ich habe H und M sehr gern gehabt, habe auf sie volles Vertrauen gehabt, aber mit ihnen kaum diskutiert. Wir waren immer wieder gemeinsam, wo es krachte.

M lebt noch immer und wünsche ich ihm ein langes und glückliches Leben.

Nur er verehrt Atatürk. Ich dagegen hasse den Diktator der Gründung des ersten faschistisch-rassistischen Staates des zwanzigsten Jahrhundert und alle seine Nachfolger.

Aber was bedeutet das? Ich lebe seit Jahren im Rollstuhl und kann nicht einmal demonstrieren.

Daher habe ich keinen Grund mit M zu streiten. Immerhin ist er gegen den derzeitigen Diktator und da sind wir einig.

Hier füge ich zwei Fotos von meinem Archiv ein.

Da sie bereits veröffentlichte Pressefotos sind, nehme ich an, dass sie keine Verletzung der Privatsphäre verursachen.

Eingangstor der Istanbuler Universität. Links ist H, Rechts ist M. Sie sind die ersten, die es bis zum Ausgang geschafft haben.

Vorne M, hinten H. Taner und ich sind dahinter.

 

Wie wir den Haupteingang erreicht haben, waren die Höllenhunde im Rektoratsgebäude bereits verschwunden. Wir haben sie zur Flucht gezwungen.

Während dieses Ereignis habe ich keine Sekunde Angst gespürt. Es waren turbulente Zeiten. Nächsten Tag hatte ich ein neues Abenteuer und ich habe den Klang der Schüsse längst vergessen.

Die Fotos oben wurden von dem weltberühmten armenischen Fotografen Ara Güler geschossen und wenn ich mich nicht falsch erinnere in der Zeitung "Akscham" (=Abend) veröffentlicht.

Auf Grund dieses Pressefotos wurde H bald verhaftet.

Da Ara nicht nur Picasso, Salvador Dali, Winston Churchill und Bertrand Russel, sondern auch die ärmsten Menschen und Straßenkinder von Istanbul fotografierte, dachten wir damals, er sei ein Genosse. Daher waren wir entsetzt, dass er uns verrät.

Ein paar Tage später haben Taner und ich ihn erwischt. Wir sagten, "Wenn du wieder so etwas tust, bringen wir dich um!"

Er faselte in seiner eigenartigen Art etwas Unverständliches und wir ließen ihn frei.

Ara war ein grosser Fotokünstler. Er ist 2018 gestorben. Er wurde neunzig Jahre alt.

Jetzt, auf einmal, setzen mich die Schüsse in Schrecken und ich mache unkontrollierte Reflexreaktionen.

Erst nach einigen weiteren Explosionen entdecke ich die Quelle der Klänge. Das sind die Flaschen von Schwechater Bier.

Damals waren diese Flaschen mit einer Alukapsel verschlossen. Unter dem Alu war eine dünne Korkscheibe. Wenn man die Flaschen schnell aufmacht, explodierten sie wie eine Pistole.

Damals wusste ich nicht, dass Schwechat ein Ort in Wien ist. Dort gibt's nicht nur eine Bierfabrik, sondern auch einen Flughafen und eine große Müllhalde.

In demselben Jahr zwei Tage vor Silvester, brachten mich die schwedischen Polizisten mit dem Flugzeug von Stockholm nach Wien und setzten mich um Mitternacht samt meinem Gepäck auf den Müllhaufen in Schwechat.


 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017