Milan

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
MILAN

 

Nach dem Stempeln gehe ich schnurstracks zu meiner Maschine.

Wenn ich mich nach rechts drehe, ist eine kleine Tür in der Wand. Die Tür ist halb offen. Ich gehe hinein. In diesem Raum werden die fertigen Stoffbahnen zwischengelagert.

Auf der linken Seite steht ein hoher Haufen von makellosen Bahnen.

Ich hebe einige hinauf, lege mich auf die übriggebliebenen Stoffe und decke mich mit den aufgehobenen zu.

Ich liege auf einer Blumenwiese. Mir fällt der außergewöhnliche Glanz der Farben auf.

Gelbe, blaue, weiße, rote Blumen… Gras leuchtet in so sattem Grün und schaut so saftig aus, ich kann mich zu einer Kuh umwandeln.

Die kleinen und großen Schmetterlinge in allerlei Farben tanzen in der Luft.

Auf dem ewigen Klangteppich der zirpenden Zikaden bieten sämtliche Vögel der Welt ihr prächtigstes Repertoire dar.

Und die schönste Erscheinung in diesem Bild ist der Kopf von Daphne, der auf meiner Brust liegt.

Eine warme Prise bewegt manchmal ein paar Haare von ihrer goldenen Pracht ein wenig. Aber ich kämme ihre Haare sehr vorsichtig mit meinen Fingern.

Ich höre das ruhige Klopfen ihres Herzens und bin so glücklich wie noch nie.

Ich betrachte die blau leuchtende Oberfläche der Himmelkuppel über uns. Hier schwimmen viele kleine Zuckerwatten. Sie kommen manchmal zusammen, einigen sich in größeren Watte Stücken oder teilen sich und es entfernen sich die kleinen Teile voneinander.

Ich habe jetzt nur einen Wunsch: Dieser Zustand soll ewig so bleiben, ohne kleinste Veränderung.

Auf einmal erscheinen auf dem Himmel zwei Hände und heben die wunderschöne Kuppel hinauf. Gibt es einen Gott wirklich?

Erschrocken wache ich auf und sehe einen Mann um die vierzig über mich gebeugt. Er hält meine fein gestickte Bettdecke in seinen Händen und drückt sie auf seine Brust.

Er lächelt mich an und sagt etwas.

Ich verstehe nichts, aber ich kenne diese Sprache bereits: Das ist Serbokroatisch.

"Ja ne znam.", sage ich.

"Du, aufstehen.", sagt er. "Chefi sehen dich, nicht gut."

"Chefi" nennen die Jugoslawen die Österreicher.

Heißt es, wenn er mich sieht, bekomme ich keine Schwierigkeiten?

Er nimmt zwei Bahnen mit sich und verlässt den Raum durch die hintere Tür.

Ich gehe zu meinem Monster. Ich habe aber keine Lust zu Arbeiten. Mein Schädel dröhnt. Ich kann heulen und schreien.

Ich bringe den Schalter hinunter und es beginnt die Ping, Ping"- Folter. Rauf und runter, rauf und runter.

Der Mann kommt nach einigen Minuten zurück zu mir. Ich schalte die Maschine aus.

"Milan!", sagt er und reicht mir seine Hand. Milan dürfte sein Name sein.

"Memo!", sage ich.

"Wo du kommen?"

"Türkei. Aber ich bin Kurde.", sage ich.

"Jugoslawien.", sagt er.

"Wo arbeitest du?", frage ich.

"Schneiderei. Ich bin Schneidermeister."

"Kennst du Luigi?"

"Natürlich. Er ist mein Kollege. Sehr guter Mann."

Anscheinend kann er gut Deutsch. Aber er tastet an, was ich verstehe und was nicht.

Ich kann noch nicht ganze Sätze konstruieren, aber mein Wortschatz ist bereits reicher als jener von den "Türken", die seit Jahren hier leben.

"Ich bin Flüchtling.", sage ich. "In der Türkei ist Faschismus, Diktatur."

"Ich weiß.", sagt er. "Auch in Griechenland."

"Wie ist in Jugoslawien?"

"Bei uns ist Kommunismus. Ich bin glücklich."

"Ist es nicht Schande für Jugoslawien? Jugoslawische Menschen kapitalistisch Land schicken arbeiten?"

Partisanen Plakat, 1944

"Wir waren rückständiges Agrarland. Türkische Herrschaft. Danach kamen die Deutschen. Wir haben für unsere Freiheit gekämpft. Hast du von den Partisanen gehört?"

"Ich bin Kommunist.", sage ich.

"Ich auch."

"Warst du Partisan?"

"Ich nicht. Aber mein Vater. Unsere Kommandant ist Mareschal Tito."

"Kommandante, Che Guevara!", singe ich.

"Wir sind stolz auf Tito. Er ist ein großer Mann. Nicht nur für Jugoslawien, sondern für die Welt. Er ist Anführer der Blockfreien Staaten gegen Imperialismus."

Luigi weiß, dass ich Kommunist bin. Das ist kein Problem für ihn. Zumindest sympathisiert er mit den Kommunisten. Aber bezeichnet sich nicht als Kommunist. Luigi lebt gerne in Vorarlberg. Seine Kinder werden Österreicher.

Milan ist ein Jugoslawischer Patriot. Seine Frau und zwei Kinder leben dort. Er lässt dort ein Haus bauen.

Er schickt jedes Monat Geld an seine Frau. Jugoslawien braucht Devisen. Er ist überzeugt davon, dass auch Jugoslawien bald ein Industrieland wird wie Österreich.

Jugoslawien ist eine sozialistische Konföderation von mehreren Staaten. Dort gibt es keine nationalistischen Konflikte. So sind die Jugoslawen als Blockfreier Staat gegen jede kriegerische Abhandlung im In- und Ausland abgesichert. Dieses Land wird in Frieden blühen.

Jetzt habe ich noch einen Freund und Genossen in Ot Yunus, auch wenn er fast so alt ist wie mein Vater.


 

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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017