Das Geheimnis der Kapelle

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DAS GEHEIMNIS DER KAPELLE

 

Ich setze meinen langen Marsch nach handskizziertem Lageplan mühsam fort und denke und beobachte.

Immerhin habe ich eine Anerkennung als Student. Ich werde eine besondere Bleibe bekommen. Ist das ein Appartement in einem Miethaus? Oder ein Zimmer in einer Vollpension?

Kosten wird es nur hundertfünfzig Schilling im Monat. Bei der Pension von der Frau mit Kind in Graz haben wir die Hälfte davon nur für eine Nacht bezahlt. Gut, war auch ein tolles Frühstück dabei.

Alle Straßen sind asphaltiert. Das ist in der Türkei am Land nicht üblich. Alle Häuser sind ein bis zweistöckig, viele mit einem kleinen Garten, alle sind auf beiden Seiten der Straßen nebeneinander gereiht.

Ich habe in der Türkei, je nach Gegend verschiedene Bauarten in den Dörfern gesehen. Einstöckige Lehmhäuser mit einem Flachdach, zweistöckige Holzhäuser der vertriebenen Griechen, massive Steinhäuser, aber nirgends Asphaltwege. Das hier schaut nicht aus wie ein Dorf. Aber in einer Stadt gibt einen Stadtkern mit einer "Altstadt". Aber auch gibt's solche Städte, wo die ganze "Stadt" aus nur einer Straße mit beidseitig gereihten Ziegelhaus-Geschäften und dahinter aus weiten Feldern und mit hin und da zerstreuten Lehmhäusern bestehen. Ich kann nicht sagen, dass hier ein Dorf ist, aber eine Stadt ist das auch nicht.

Hier schauen alle Häuser gleich aus, wie die Schwammerln, die im Wald aus dem Boden stampfen. Alle sind viereckige Betonklötze, und alle sind höchstens zehn oder fünfzehn Jahre alt. Und all diese Schuhschachteln sind weiß ausgemalt. Eine trostlose Betonwüste.

Einziger Trost ist, dass dieses Betonmeer immer wieder durch kleine Wälder unterbrochen wird.

Von der bereits vollbrachten Affenarbeit völlig erschöpft, bringt mich diese mühsame Schlepperei fast zum Zusammenbruch.

Endlich komme ich zu einer kleinen Kreuzung. Auf der linken Seite ist ein sehr kleines Gebäude. Ist das das, was ich suche?

Das ist aber anscheinend ein wirklich alter, sehr alter Bau und hat eine mir nicht bekannte Form. Ich gehe näher.

Barocke Wühr Kapelle Bad Buchau | Oberschwaben

 

Heute kann ich sagen, das war eine barocke Kapelle und war einmal Schönbrunngelb ausgemalt. Früher dürfte oben auf dem Dach ein Kreuz befestigt gewesen sein. Es ist irgendwann entfernt worden.

Das Haus ist von einer sehr niedrigen Steinmauer eingerahmt und einige der Steine sind bereits hinuntergefallen. Vorne in der Mitte ist eine Doppeltür mit aus Eisenstangen gebogenen Ornamenten. Anscheinend bleibt diese Tür immer weit offen. Danach kommt ein etwa achtzehn Quadratmeter großer "Garten". Auf der rechten Seite ist ein vertrockneter Rosenstock, der weder Blätter noch Rosen, aber noch immer Dornen trägt.

Dieses komische Gebäude kann doch nicht meine Bleibe sein. Ich lasse mein Gepäck draußen vor der Gartenmauer und gehe zum Haus.
Die massive, aber von Holzwürmern zu einem Sieb umgewandelte Tür ist halb offen.

Ich gehe ins Haus hinein. Rechts von mir ist wieder eine, diesmal ganz offene Holztür. Ich gehe hinein.

Ich bin in einem Raum, der höchstens sechzehn Quadratmeter Größe hat. Am Boden liegen Zigarettenstummeln so hoch wie meine Halbschuhe. Wenn ich weiter hinein gehe, muss ich aufpassen, dass kein Stummel in meine Schuhe hineinfällt.

Wahrscheinlich war dieses Zimmer vor hundert Jahren weiß ausgekalkt, aber mittlerweile fast grau-gelb umgefärbt. Hin und dort auch der Putz herunter gefallen und liegt noch immer da, wo er hinuntergefallen ist.

In dem Raum sind zwei schmale Betten. Auf dem Bett auf der rechten Seite sitzt ein halbnackter junger Mann in meinem Alter.
"Selamin aleyküm!", sagt er.

"Aleyküm Selam!"

Das ist die "türkische" Variante der arabisch-islamischen Begrüßung.

Ich gehe weiter hinein. Rechts von ihm ist ein geschlossenes Fenster. Zwischen zwei Betten stehen ein kleiner Holztisch und zwei Holzsesseln.
In dem Raum sind mindestens so viele Fliegen wie in einer türkischen Innereien-Fleischerei.

Und es stinkt. Es stinkt nach Scheiße, nach Urin, nach Sperma, nach Schweiß und noch irgendetwas, das richtig in die Nase sticht.

Ich schnüffle. Rundherum dem Bett auf der linken Seite liegen am Boden dicke Tabletten mit drei Zentimeter Durchmesser, dicht nebeneinander.
Dieser eigenartige Geruch kommt aus diesen Tabletten.

"Was sind das?", frage ich.

"D.D.T", sagt er.

"Bitte?"

"Der Hurensohn dort ist ein Rotkopf".

Rotkopf nennen sie die Aleviten.

"Er glaubt, dass die Muslime Flöhe und Läuse haben."

"Habt ihr sie?", frage ich.

"Du bist Muslim, Gott sei Dank, oder?"

"Nein!"

"Bist Du Giavur (=christlich, ungläubig, gottlos)?"

"Ich habe keine Religion."

"Was war dein Vater?"

"Auch ohne Religion."

"Kommst du aus der Türkei?"

"Ja.", sage ich.

"Es gibt Sachen!", sagt er und schüttelt seinen Kopf.

"Gehört dieses Bett mir?"

"Bei meinem Bett sind wir komplett. Zu dritt. Alle Muslime."

"Zu dritt?"

"Ja! Komplett."

"Das ist aber nicht einmal ein Doppelbett. Wie passen dort drei Männer hinein?"

"Einer nach dem anderen. Schichtarbeit. Bei deinem Bett ist nur ein Muslim und ein Rotkopf. Es fehlte noch ein Mann. Also, dass ist dein Bett."

"Noch eines: Der Hurensohn von Rotkopf hat gesagt, `falls jemand ein Stück von meinem teuren D.D.T. berührt, ich schieße ihn nieder!`"

"Jetzt muss ich mich aber beeilen.", sagt er und steht auf.

"Ich wünsche dir einen guten Tag!", sage ich.

"Wenn Gott es erlaubt!", sagt er.

"Noch ein Moment. Ich war bei einem jugoslawischen Arbeiterheim. Gibt es hier auch türkische Arbeiterheime?"

"Ich komme zu spät", sagt er und schreibt auf meine Hand mit Kugelschreiber eine Adresse mit unbeholfenen Lettern.

Auch ich gehe hinaus und beginne mein Gepäck hereinzuschleppen.

Jetzt begreife ich, was "very cheap" heißt. In zwei Betten sind sechs "Tirken" untergebracht. Jeder von ihnen zahlt hundertfünfzig Schilling. Das heißt, für diese menschenunwürdige Ruine kassiert Ott Julius neunhundert Schilling im Monat!

Fuck Kapitalismus!

Was ist mit der sozialdemokratischen Regierung hier?

Ich gehe zu meinem DDT-Bett. Die Matratze ist dreiteilig und ziemlich hart. Polster und Bettdecke sind Daunen gefüllt und waren irgendwann weiß. Inzwischen angepinkelt, angekotzt und angewichst. Jetzt sind sie mit Aquarellfarben gefärbt von gelb, grün bis schwarz.

Mich ekelt alles. Ich bin aber so müde, lege ich mich nieder auf meiner linken Seite. Ich weiß es nicht warum, die Fliegen von Lustenau wollen sich unbedingt in meinem rechten Ohr paaren. Ich ziehe die dreckige Decke über meinen Kopf. Ich schwitze.

Fast jede Stunde wache ich auf. Ich bin schweiß gebadet. Ich habe Angst, zu spät in der Fabrik zu erscheinen.

Elf Uhr. Ich stehe auf.

Ich muss auf die Toilette. Nach dem Hauseingang ist auch auf der linken Seite eine Holztür. Diese Tür ist geschlossen. Ich vermute dahinter einen Nassraum. Ich mache vorsichtig die Tür auf.

Ich schrecke mich. In dem Moment, dass ich die Tür aufmache, bedecken hunderte von Fliegen mein Gesicht.

Gleichzeitig benebelt mich ein derart übler Geruch, halte ich mich fest an der Türschnalle, um nicht umzufallen.

In dem Raum lass eine Dusche, gibt's nicht einmal ein Waschbecken. Nur eine Klomuschel aus Keramik. Klobrille ist darauf, aber kein Deckel.
Die Klomuschel ist bis zum Rand voll angeschiessen. Rundherum der Betonboden ist Knöchel hoch voll mit der Scheiße. Schicht über Schicht. Die untere Schicht ist vertrocknet. Oben ist die Scheiße fast flüssig. Und ganz oben wühlen sich Millionen von Maden. Und inmitten des ganzen Gatsch ist eine Flasche Wasser. Waschen sie damit ihre Ärsche? Wie?

Ich schlage die Tür zu und laufe hinaus.


 

 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017