Fressen und... (Teil 3)

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
FRESSEN UND... (Teil 3)

Zorba, The Greek, 1964

 

Jemand erzählte mir, dass es in Moskau ein Kaufhaus namens GUM gibt, wo man nicht nur Kaviar, sondern auch Autos kaufen kann. Ich war nie in Moskau.

In Wien waren zwei Kaufhäuser:
Steffl auf der Kärntner Straße und Gerngroß auf der Mariahilfer Straße.

Heutige Supermarktketten waren damals weder in Wien noch in Istanbul zu finden.

In Istanbul waren drei Arten von Lebensmittelgeschäften, deren Carbon Kopien auch in Wien mir begegneten:
Bakkal (=Kreisler), Kasap (Fleischerei) und Manav (=Gemüsegeschäft).

Die vierte Art war in Wien nicht vorhanden. Diese war Cigerci (=Leberverkäufer).

Hier waren nicht nur Leber, auch Schafs- und Ziegenköpfe, Kuttelfleck, Schafs und Kalbshaxen usw. zu kaufen.

Bereits bevor der Cigerci-Lehrling den Laden aufsperrte, wartete eine Herde von gelben, gestreiften, grauen und schwarzen Katzen auf dem Gehsteig.

Bei der Aufsperrung war ein kurzes Jubelgeschrei zu hören. Danach wurde dieses Geschrei durch ein endloses Brummen ähnlich wie von einem Staubsauger ersetzt.

Die Katzen bildeten vor dem Geschäft, beginnend mit dem Gehsteig bis zur Tür eine dichte Masse, die sich wie die Meeresoberfläche bei ruhigem Wetter bewegte. Wenn der Metzger hin und da ein Stück Schlund auf den Gehsteig warf, bewegte sich die Oberfläche wie bei stürmischen Wetter. Egal wie hoch die Wellen schlugen, entstand niemals ein Loch in der Masse.

Man konnte nicht ganz normal in das Gechäft marschieren. Wenn man seinen Fuß von oben nach unten hineinsetzte, konnte man mehrere Katzenschwänze gleichzeitig treffen. Dann bestand die Gefahr, dass mehrere kleine Tiger gleichzeitig ihre Krallen in die Waden des Kunden hinein bohrten.
So sollte man zuerst einen Fuß am Beginn des Gehsteigs unter die Masse schieben, langsam voran rutschen, dann den zweiten Fuß an den ersten anschließen… und so weiter.

Die Ladentür blieb den ganzen Tag offen. An dem Türrahmen aber hängte ein Vorhang aus nebeneinander hängende Ketten aus Glasperlen. Dieser Vorhang sollte vermeintlich die Fliegen hindern, hinein zu fliegen.

Wenn man durch den leichten Vorhang hinein ging, explodierte ein Geräusch wie ein Donner und brummelte dauerhaft. Ich bin kein Imker aber ich stelle mir den Innenklang eines Bienenstocks so ähnlich vor.

Die Katzen aber gingen niemals durch den Vorhang hinein, obwohl es für sie ganz leicht wäre.
Was hinderte sie daran? Vielleicht die Vorstellung, dass der Metzger sie von ihren Schwanz hinaufhob und mit dem Kopf nach unten langsam in den Fleischwolf schob?

Auf jeden Fall blieben sie Millimeter genau an der Grenze. Ich habe noch nie eine Katze im Cigerci-Laden gesehen.

Während meines Evliya Tschelebi (Berühmter osmanischer Weltreisender des 17. Jahrhunderts) – Spiel landete ich eines Tages in Tschorum. Wenn ich mich richtig erinnere, war damals die Türkei in siebenundsechzig Provinzen aufgeteilt. Ein kleiner davon war Tschorum. Hier gab es ein obligatorisches Atatürk-Denkmal, eine Moschee, aber kein Lokanta.

Dafür aber einen Aschtschi-Laden. Und davor hing ein Vorhang aus Glasperlenketten.

Und ich beging den Fehler, den die Katzen niemals machten: Ich ging durch den magischen Vorhang hinein.

Drinnen standen zwei Holztische mit jeweils vier Holzstühlen. Bei einem saß der Wirt, der andere war unbesetzt. Ich grüßte und saß mich zu dem zweiten Tisch.
Der Wirt bemerkte aus meinem Akzent, dass ich aus Istanbul stamme. Also war ich ein verdächtiger Fremder. Er schaute und überprüfte mich von oben bis unten. Dann fragte er:
„Was willst du?“
„Was gibt’s zum Essen?“
„Essen!“, sagte er.
„Was für Speisen hast du, Meister?“
„Es gibt nur Essen!“, sagte er.
„Dann bitte einmal Essen!“

Er ging in die kleine Küche und kam mit einer Aluminiumtasse, so eine wie mein Vater beim Nassrasieren für Seifenschaum verwendete. Drinnen war kochendes Wasser, das noch dampfte. Auf der Oberfläche des klaren Wassers in der Mitte war ein Kaffeelöffel großer Fleck von Schafsschmalz. Und inmitten von diesem Fleck schwamm ein einziges Stück gekochte Kichererbsen.

Er ging noch einmal in die Küche, holte einen Laib Mischbrot und haute ihn auf meinen Tisch.

Dann saß er sich wieder an seinen Tisch, stützte sein Kinn auf seine Fäuste und beobachtete mich.

Die Muslime müssen vor dem Essen „Mit Namen des Gottes“ sagen. Ich erspare mir das. Er sagt nichts. Vielleicht weil ich aus Istanbul bin.

Unter seiner scharfen Beobachtung musste ich mich möglichst fehlerfrei benehmen. Aber wie frisst man dieses Zeug?

Ich nehme an, dass ich das Brot so genau aufteilen muss, das es für die ganze Suppe reicht. Ich reiße ein Stück Brot, und tunke es in das heiße Wasser. Das Brot schmeckt ziemlich sauer.

Dann das nächste Stück. Und das nächste Stück. Er beobachtet mich mit scharfen Augen ohne Unterbrechung.

Was passiert, wenn ich mit der Suppe oder dem Brot früher fertig werde? Geht er in die Küche und kommt mit einem großen Küchenmesser zurück?

Ich breche noch ein Stück Brot. Tunke es ins Wasser. Ich kaue und schlucke das saure Zeug. Dann noch ein Stück.

Und ich schaffe, mit dem letzten Stück Brot auch die Kichererbse auszufischen.

Vielleicht war ich nur paranoid. Er hat mir nichts getan, außer mich genau zu beobachten. Ich stehe auf, bezahle einige Kuruschs, nicht einmal eine Lira, und nehme Abschied.

Wie ich durch den Glasperlenvorhang heraus kam, holte ich tief Luft. Und begann vor dem strengen Augen des Diktators Sirtaki zu tanzen.

Das war aber in Tschorum. Jetzt bin ich in Mersin. Und ich will die Spezialitäten von Mersin kennen lernen.

Ich habe genügend Geld. Also gehe ich nach Tschamlibel. Das ist das Wohnviertel der Reichen. Die breite Straße folgt der Küste. Bevor die zweistöckigen Villen beginnen, gibt’s einige Geschäfte. Ich sehe eine größere Fassade mit dem Schild „Lokanta“.

Vor dem Schaufenster mit Milchglas liegen vier Araber mit langen Röcke, die einmal weiß waren, auf dem Gehsteig. Jeder hat eine Flasche Raki in der Hand und versucht sich bei vierzig Grad Hitze mit fünfundvierzig Grad Schnaps abzukühlen.

Wenn sie sich vor eine Lokanta in Istanbul auf den Gehsteig legen sollten, kommen die Kellner raus und jagen sie mit Fußtritten weg. Hier geschieht dergleichen nicht. Vielleicht weil die Kellner Einwanderer sind und die Araber Einheimische?

Ich gehe hinein. Viele perfekt gedeckte Tische. Wenige sind besetzt. Wegen der versteckten Arbeitslosigkeit laufen mehrere perfekt bekleidete Pinguine herum.

Auf der linken Seite die obligatorische Glasvitrine. Hinter der Vitrine sind einige Pasten oder Chremen in verschiedenen Farben, orange, grün, knallrot, in runden Tabletten ausgestellt. Das sind aber echte Spezialitäten, die man in Istanbul nicht findet. Ich zeige einen Kellner das knallrote Tablett mit meinem Zeigefinger und sage: „Bitte eine Portion.“

Mein Essen wird in einer schönen Keramikschale serviert. Ich bin glücklich.

Ich führe eine Gabel davon in meinen Mund. Ich huste. Tränen rinnen über meine Wangen hinunter.

Mit vom Husten erstickter Stimme schreie ich: „Herr Kellner! Bitte zahlen.“

Bis er kommt, esse ich ein Stück Brot, trinke einen Schluck Wasser, aber mein Mund brennt noch ärger.

Ich bezahle fünf Türkische Liras! Eine Menge Geld damals.

Was habe ich in einer Lokanta verloren? Ich gehe zurück Richtung Zentrum und suche ein Aschtschi.
In einer Seitengasse werde ich fündig. Ein kleines Geschäft. Alle Holztische sind vollkommen besetzt. Von Holzkohlen- und Zigarttenrauch derart benebelt, das man kaum seinen Finger sieht. Da fühle ich mich zuhause.

Es gibt nur eine Speise, aber das ist wirklich eine Spezialität. Ganz kleine Schafsleberwürfeln werden auf einen dünnen Holzspies auf Holzkohle gegrillt. Dazu gibt’s in verschiedenen Schüsseln auf dem Tisch frische Pfefferminzblätter, zerhackte rohe Zwiebeln, scharfe Chilischotten und Salz. Man nimmt ein Fladenbrot, portioniert alle Zutaten nach Belieben, rollt den Fladen zusammen und isst ohne Gabel und Messer.

Ich esse viele Portionen. Bezahle sehr wenig. Ich bin mehr als satt. Ich habe aber endlich was Neues entdeckt und will meine Entdeckungsreise fortsetzen.

 
 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017