Der Sarg

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
NOCH EINMAL DER SARG
Die Särge
Es geschah ein Wunder der Neuzeit! Ein Tag nach der Veröffentlichung dieses Textes fand ich ein Foto von der Särge. Mein Gedächtnis ist nach wie vor fenomenal!
 

Ich war ziemlich oft Gast in dem Sansaryans Haus. Der arme Armenier Sansaryan war wahrscheinlich sehr reich. Das Gebäude hatte sechs Stockwerke.https://www.musicalconfrontations.com/MGS/LITERATUR/NOVEL/DAPHNE/sarg.htm

Diesem Fall will ich aber erzählen, weil ich manche hier vorkommende Namen später wieder erwähnen werde.

Ganz unten im Sansaryan war die "Müteferrika" (=Verschiedenes) angebracht. Das war die "Untersuchungshaft" im Keller. Hier wurden Diebe, Mörder, aber für kurze Zeit auch die politischen Gefangenen -gemischt- eingesperrt.

Am Betonboden war stets eine knöchelhohe Urinlacke. Ganz hinten gegenüber dem Eingangstor wurde in einem Meter Höhe eine Holzrampe gebaut. Das war der Thron der jeweils aktuellen Mörder.

"1. Abteilung", die "Politische Polizei" war ganz oben, auf dem sechsten.

Das Jahr 1970.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, warum ich diesmal hier war.

Hier befanden sich nicht nur die fünf Särge, sondern auch das Büro des Chefs. Ich wurde zuerst zum Chef gebracht.

Diesmal war der Chef neu und sehr jung, höchstens 35, und hatte ein Milchgesicht. Der Streber hatte alles auswendig gelernt, ist Herr Doktor geworden und wurde auf das verachtenswerte Amt der Folterpolizei erhoben.

Er war sehr freundlich. Auf seine Einladung habe ich auf dem Sessel vor seinem Amtstisch Platz genommen.

Er fragte mich:
"Herr… Mehmet? Ich habe hier mehrere Eintragungen über Sie. Wie heißen sie wirklich?"

Armer Chef!

Ich war nicht nur der "Drucker" der linken, sondern auch der "Dokumentenfälscher".

"Türken nennen mich Mehmet der Furchtlose".
"Aber was steht auf Ihrer Geburtsurkunde?"
"So etwas habe ich nie gehabt."
Und da war ich ehrlich.
"Ich habe einige Bücher von Ihnen hierhergeholt. Jedes Mal heißt der Autor anders?"
"Ist es Ihnen nicht klar? Die Verleger wollen Geld verdienen. Dafür brauchen sie wohlklingende Namen."
"Was ist mit Mehmet Temiz?"
"Aus Tokat? Den armen haben sie hierhergeholt, gefoltert und nichts gefunden."
"Ja. Aber wie kommen sie auf diesen Namen?"
"Ich habe damals zufälliger Weise diesen Namen gehabt. Sowie ich jetzt zufälliger Weise Scheichmuss heiße."

Der arme Herr Doktor war nach einer Stunde völlig verzweifelt, dass er die Erwartungen der ungebildeten Polizisten über meine Identifizierung auch als Akademiker nicht einlösen konnte.

So machte er einen Wink, und ich wurde in den Sarg gebracht.

Im Sarg wurde der/die Gefangene/r maximal eine Woche behalten. Zweck war durch die Folter einschüchtern oder Geständnisse erzwingen.

Die fünf Särge waren nebeneinander angebracht, bzw. mit einer dünnen Wand voneinander getrennt.

Jeder Sarg war ca. 80 cm. breit und 130 cm lang. Da mein Kopf die Decke nicht berührte, dürfte die Höhe ca. 190 cm sein.

Die Tür war aus Holz. Auf meiner Kopfhöhe war ein kleines Fenster, etwa 20 x 20 cm angebracht und vergittert. Draußen hinter dem Gitter glänzte eine nackte Glühbirne.

Die Wände waren voll mit revolutionären Parolen und Blutspuren. Am Boden war jede Menge vertrocknete Scheiße und Urinspuren. Also konnte man weder sitzen noch am Boden liegen.
Ich bin eine unruhige Natur. Ich kann, ohne mich zu bewegen kaum existieren. -Leider sitze ich seit einigen Jahren im Rollstuhl und kreise immer wieder damit, bis es mir schwindlig wird-

Nach spätestens einer halben Stunde war meine Geduld zu Ende. Ich hörte Geräusche aus der Nebenzelle.
"Hier ist Günesch. Wer ist neben mir?"
"Grüß dich Genosse Günesch. Hier ist Taner."
"Ist sonst Jemand da?"
"Neben mir ist Genosse Hüseyin. Hüseyin Cevahir."

Vor ein paar Monaten war ich eine Woche im Polizeigefängnis in der Stadt "Tunceli" (=Bronzerne Hand). Gemeint ist die Hand Atatürks. Nach dem Genozid an Kurden und Aleviten wurde die historische Stadt Dersim umbenannt.

Polizisten zeigten mir die bereits verdunkelten Blutspuren an den Wänden.
"Hier haben wir deinen Genossen Hüseyin Cevahir gefoltert."

Ich fange an mit meiner mächtigen Bassstimme zu singen:
"Hebt die Rote Fahne hoch! Hebt sie noch höher!".
Genossen singen voller Kraft mit.

Nach einigen Jahren sang ich dasselbe Lied in Wien. Diesmal deutschsprachig:
"Wir sind die Arbeiter von Wien!"

Dann wurde meine Tür geöffnet. Ein Polizist steht vor mir. Voller Kraft gebe ich ihm einen Fußtritt auf seine Eier. Er schreit voller Schmerz und krümmt sich am Boden. Die Tür geht zu.

Die Tür geht wieder auf. Ein anderer Polizist. Ich stehe gleich hinter der Tür und behandle sofort seine Eier.

Nach dem ich den dritten Polizisten gleichermaßen behandelt habe, gelang es zwei Polizisten mich aus der Zelle hinaus zu ziehen.

Diesmal bearbeiten sie mich mit Knüppeln, Faustschlägen und Fußtritten.

Ich hatte bis zu meinem dreißigsten Jahr die Eigenschaft, bei unerträglichen Situationen ohnmächtig zu werden.

Wie ich wach geworden bin, waren Taner und Hüseyin nicht mehr da. Ich lag auf dem vollgeschießenen Boden.

Mit Taner war ich später öfters zusammen. Aber Hüseyin konnte ich niemals sehen.


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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017