Ruhi Su

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
RUHI SU
Ruhi Su
 

Eine Elegie für die 1921 von der "Einheit und Fortschritt Partei" (Verantwortlich für die Zerschlagung des osmanischen Reiches, Erzwingung des ersten Weltkrieges, Genozid an osmanischen Völkern, Gründung der sogenannten Republik der Türkei) ermordeten 15 osmanischen Kommunisten und eine russische Kommunistin

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Auch wenn die Daphne bis dahin Lustenau nie verlassen hat, Lustenau beginnt in Mersin.

Natürlich hatte ich bis dahin von einem Ort namens Lustenau noch nie etwas gehört. Lustenau lag nach wie vor an der Grenze zur Schweiz in Österreich. Dieses ewig eingeschlafene Agrarland wachte in den 60er Jahren plötzlich auf und wurde das Zentrum der österreichischen "Strickerei-Industrie". Ehemalige arme Bauern wurden plötzlich neureiche Industrielle. Noch immer ihren einzigartigen Dialekt sprechend, der sie von der deutschsprachigen Welt entfernte, holten die neuen Herren Sklaven nicht nur aus der Umgebung in Österreich, sondern aus Italien, dem damaligen Jugoslawien und vor allem der Türkei. Darum gingen sie wie die frisch aufgewachten ägyptischen Mumien vollkommen steif herum und schauten auf die restliche Welt mit verständnislosen Glasaugen hinunter.

Und…

Mersin ist eine Hafenstadt an der Südküste der Türkei am Mittelmeer. Das ist eine biblisch historische aber mittlerweile ziemlich verschlafene arabische Kleinstadt. Mersin wurde nach dem ersten Weltkrieg nach drei Jahren Besetzung von den Franzosen an die TR-Diktatur geschenkt. Danach wurden die Siedlungen der christlichen Ethnien, auch die Viertel der Europäer allmählich "turkisiert".

Damals wusste ich auch über Mersin nichts. Mein erstes Eindruck von dieser Stadt waren die auf mich sehr afrikanisch wirkenden Palmen und unter 40 Grad Celsius am Gehsteig sitzenden und Raki trinkenden arabischen Männer.

Ich komme gerade von einem groß angelegtem Konzert von Ruhi Su. "Spor ve Sergi Sarayi" (=Sport und Ausstellung Halle) in Istanbul. 5000 Sitzplätze. Alles vollbesetzt!

Ich studierte damals selbst Operngesang. Ich konnte aber noch nicht wissen, dass auch ich zu den von der Natur begnadeten wenigen Menschen gehörte wie er. Erst zwanzig Jahre später, nach sehr disziplinierter Arbeit machte ich die Erfahrung, dass auch ich mit meiner Stimme die Menschen außerhalb dieser Welt holen konnte. Aber meine Reife erfolgte in Wien. In Wien war -sehr erfreulicher weise- weder Faschismus noch Widerstand dagegen. So wurde ich niemals die mächtige Stimme des Widerstands.

Für mich bleibt Ruhi Su für immer einer von den größten Stimmen des 20. Jahrhunderts, einer von meinen großen Vorbildern, die mächtige Stimme des Widerstands und ein körperlich sehr kleiner, aber geistig sehr großer Mensch.

Mit liebevoller Verbeugung vor seiner Erinnerung.

Ja! Der Ruhi Su!

Geboren 1912 als armenisches Kind. 1915 wurden seine Eltern Opfer des Genozid. Er landete in einem Weisen-Kinderheim. Danach wurde er von einer armen Familie in Adana adoptiert.
Da in der Schule seine Begabung auffiel, wurde er nach Ankara ins Konservatorium geschickt.
Bevor ich geboren wurde, sang er in der Staatsoper in Ankara. Er hatte die Stimme für einen Opernstar. Er bekam aber ein Berufsverbot, weil er ein Mitglied der Kommunistischen Partei war.
1952 landete er in der "Tabutluk" (= Sarg) genannten Zellen des Sansaryan Haus. Das den Genoziden zum Opfer gewordenen armenischen Geschäftsmann Sansaryan turkisierte Gebäude wurde damals zur Folteranstalt der türkischen Staatspolizei umfunktioniert.

In den 60er Jahren war auch ich mehrmals Gast in der "Tabutluk".

In den 60er Jahren sammelten einige Intellektuelle Geld und ermöglichten Ruhi Su die ersten Plattenproduktionen. Zuerst 4 Singles in 45er Format. Bald wurde er ein Bestsellerstar.
Das war der Aufbruch.

Es folgten mehrere Platten und privat veranstaltete Großkonzerte.

Auf jeden Fall war Ruhi Su in den 60er Jahre für die Türkei, was Haydée Mercedes Sosa in den 70er Jahren für Argentinien war: Die Stimme war keine volkstümliche Stimme, aber für die Intellektuellen die Stimme des Volkes, für die Linken die mächtige Stimme der Revolution.
Ich kaufte alle seine 45er Single Schallplatten und spielte sie auf meinem Batterie betriebenen Plattenspieler. Wenn er sang, und ich meine Augen zu machte, schwamm ich in einem warmen und endlosen Ozean.

Aus diesem Grund bin ich allein zu diesem Konzert gegangen. Ich wollte mich ohne Ablenkung auf seine Stimme konzentrieren.

Noch immer in dem Ozean seiner Stimme schwebend fahre ich mit dem Dampfschiff nach Kadiköy, in der Anatolischen Seite Istanbuls, nach Hause. Ich sitze auf dem oberen Schiffdeck im Freiluft Abteil. Hier sind neben einem Durchgang in der Mitte, links und rechts Holzbänke wie in einem Park hingestellt. Ich sitze auf einer Sitzbank auf der rechten Seite. Es wird langsam dunkel und eine Prise Abendwind frischt auf.

Ich drehe meinen Kopf nach rechts. Neben mir sitzt eine merkwürdige Gestalt. Ich betrachte ihn. Er ist ein paar Jahre jünger und einen Kopf kleiner als ich. Er besteht nur aus geflochtenen Muskelzöpfen. Die Massen der Muskelzöpfe sind aufeinander geschlichtet und ganz oben in der Mitte ist ein kleiner Kopf aufgesetzt.

"Kommst Du auch vom Konzert?"
"Natürlich."
"Ich habe dich noch nie gesehen."
"Ich dich auch nicht."
"Du braucht keine Angst zu haben", sagt er. "Sie werden sich nicht trauen mich anzugreifen und ich werde dich beschützen."

"Angst zu haben?"
Ich wache von meinem Traum auf:

Ab meiner Sitzbank ist zwei Meter Abstand, danach sind die Bänke in der umgekehrten Richtung aufgestellt. Also, auf der mir gegenüber aufgestellten Bank sitzen mindestens 15 Stück der Grauen Wölfe und auf der folgendem Bank noch einmal so viel… und betrachten mich mit Hass erfüllten Augen.

Höchst wahrscheinlich fahren in diesem Schiff auch einige Genossen, aber in irgendwelchen geschlossenen Abteilungen. Ich kann mit ihrer Hilfe nicht rechnen.

Wir sind schon im Hafen. Zwischen dem Schiff und Land werden die tragbaren Holzbrücken aufgelegt. Hinter mir die hinausströmende Masse drückt mich hinaus. Ich habe nicht einmal ein Taschenmesser bei mir. Es wird langsam ziemlich dunkel. Ob mein Bodyguard mich beschützten wird?

Kaum bin ich draußen, prallt mein Schädel auf den Asphalt. Meine Füße bewegen sich in der Luft und haben keinen Halt mehr. Zuerst sehe ich im Licht der Straßenlaternen gesichtslose dunkle Männer über mir, dann leuchtet eine flackernde Großflamme inmitten meinem Gesicht und ich sehe nichts mehr. Auch höre ich keine Stimmen mehr außer die Geräusche meiner zerbrechenden Knochen.
Anscheinen trampelten Sie mit Metall Absätzen auf meinem schönen Gesicht.

Die vorderen 4 Zähne sind noch da aber wackeln und lassen sich nicht berühren. Nicht nur das Nasenbein, sondern auch mein Oberkiefer sind völlig zermalmt.

Neben mir stehen einige uniformierte Polizisten und betrachten mich von oben herab. Sie halten eine Taschenlampe auf mich:

"Er lebt noch immer!"


Mein Gesicht schaut aus wie ein Pappteller, der in der Mitte von Ratten angeknabbert wurde.

Nach einigen Monaten Schmerzleid und Suppendiät hat ein begabter Kieferchirurg mein Gesicht wiederhergestellt. Nur, jetzt gibt es in meinem Gesicht mehr Metall und Keramik als Knochen.
Rest meines Lebens, durchschnittlich alle acht Jahre wurde mein Gesicht geschwollen wie ein Luftballon: Mein Körper versuchte die Fremd Materialien auszustoßen und mein Gesichtsfleisch eiterte. Nach einige Monate dauernden Behandlungen wurden jedes Mal einige Materialien ausgetauscht und ich lebte weiter. Die Schmerzen, die monatelang nicht aufhörten, will ich nicht beschreiben.

Wenn jemand einmal Zahnschmerzen gehabt hat, kann er diese multiplizieren.

Jetzt sitze ich nicht auf einem Schiffdeck, in Freiluft, sondern in einem Kleinflugzeug und da drin ist die Luft so dick, dass man bevor einatmen sie in kleinere Würfeln schneiden und im Wasser auflösen muss.

So wie immer sitze ich in der Mitte neben dem Gang, dass ich jederzeit flüchten kann.

Links von mir sind die Luken nach außen. Ich drehe mich nach links.

Ich kenne dieses Gesicht sehr gut, von den Hüllen der Schalplatten.

Aber dieser Mann kann nicht der Erzeuger von dieser mächtigen Stimme sein:

Er ist ein alter Mann, älter als mein Vater, vielleicht 60?

Und er ist einen Kopf kürzer als ich.

Er hat eine viereckige Brille und ein viereckiges langes Gesicht. Alles in allem ist er eine vertrocknete Dattel oder ähnliches. Aber nicht die Quelle der "mächtigen Stimme der Revolution".

"Herr Ruhi Su?"
"Bitte mein Herr?"

Er ist er. Ich sitze neben dem unerreichbaren Ruhi Su. Ich zittere am ganzen Körper.

"Ich bin einer der unzählbaren Bewunderer von Ihnen."
"Danke, mein Herr!"

Warum fliegt er in die Stadt seiner Kindheit, Adana? Ist er auf der Flucht wie ich? Sucht er ein Versteck?

Mein Respekt erlaubt mir nicht, das zu fragen. Aber ich traue mich doch zu fragen:
"Was sagen Sie zu den Entwicklungen der letzten Zeit?"

"Die Jugendlichen machen Fehler. Sie haben nicht die Kraft, etwas zu ändern. Am Ende werden wir leiden. Sie werden die alten Kommunisten sammeln und foltern."

Wir nannten die vorigen Generation der Kommunisten "Alte Waffen". Ich dachte, wenn man alt wird, wird man ängstlich. Ich verstand ihn in diesem Sinne und respektierte seine Meinung. Damals war ich aber überzeugt davon, dass wir genügend Kraft hatten, die Revolution zu Ende zu führen.

Jetzt bin ich ein alter Mann. Hat er recht gehabt? Nur, damals wurden nicht nur die "Alten Waffen", sondern auch die jungen Revolutionäre massenweise eingesperrt, gefoltert und ermordet.

Das war meine erste und letzte Begegnung mit der mächtigen Stimme der Revolution, Ruhi Su.

Einige Jahre später, ich lebe bereits in Wien, erfahre ich von den Genossen in München, dass Ruhi Su an Krebs erkrankt ist. Seine Krankheit ist in Deutschland heilbar. GenossInnen haben in Deutschland alles finanziert und vorbereitet. Er bekommt aber keine Ausreise Erlaubnis, bzw. Reisepass von der TR.

Er ist 1985 in der TR an seiner nicht therapierten Krankheit gestorben.

Mit noch einer Verbeugung vor seiner Erinnerung, verfluche ich noch einmal den Faschismus.


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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017