Die Stimmung um sechs Uhr

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DIE STIMMUNG UM SECHS UHR
 

Die Tarantel auf meiner Brust wacht plötzlich auf und versucht sofort mich zu beißen. Ich bin schneller. Ich lüfte die Daunendecke auf und lege ihn frei. Wie kann so ein gekurbeltes Blechvieh so viel Lärm machen? Ich lasse ihn wüten, bis ich sicher bin, dass ich nicht wieder einschlafe. Dann kürze ich seine Ohren.

Ich schaue auf sein Gesicht: Es ist exakt 6 Uhr.

Mit den geübten Bewegungen eines Berufssoldaten mache ich mich fertig und achte gleichzeitig, nicht mehr Geräusche zu erzeugen als ein Regenwurm. Ich will meinen Gastgeber nicht aufwecken.

Jetzt bin ich bereits auf der Straße. Vor dem hölzernen Gartenzauntor.

Das Grundstück vor mir, links von dem Gasthausgarten, gehört dem Fleischhauer. Hinten steht so eine schnell gebaute Baracke wie eine Garage. Davor ist bis zur Straße, also bis zu meinen Füßen eine Betonfläche, worauf etwa zwei bis 3 PKWs stehen können.

Gegenüber diesem Grundstück hinter mir, ist auf der anderen Seite der Straße das eigentliche Verkaufsgeschäft des Fleischhauers: "Metzgerei".

Ich stehe vor dem Gasthaus. Um mich rundherum heißt die Welt nach wie vor "Lustenau". Das ganze Lustenau schläft aber im Moment. Ich weiß nicht, wo der Mond sich versteckt hat. Nicht einmal die kleingehackten Sterne sind zu sehen. Kein Hund bellt, keine Kuh muht, nicht einmal ein Huhn gackert oder eine Katze miaut. Nicht einmal ein Herbstblatt rührt sich von einem Ast. Kein türkischer Panzer, kein Soldat, kein Polizist, nicht einmal einer der lang geübten Mörder des türkischen Geheimdienstes kann diese Stille durchdringen. In Lustenau und in diesem Moment, bin ich sicher.

Dafür bin ich aber verurteilt, drei Schichten am Tag als Sklave zu arbeiten. In dieser ewigen Dunkelheit und Stille ist es kaum vorstellbar, dass in einer nur einen halben Kilometer entfernten Fabrik Tag und Nacht gearbeitet wird und dass ich mich bald nach rechts drehen und dorthin zu laufen beginnen werde. Und freiwillig!

Tautropfen auf meinen Wangen rollen hinunter und das juckt.

Ich halte inne, mache meine Augen zu und höre zum letzten Mal die unglaubliche Stimmung von Lustenau, bevor ich zu meinen Ketten hinlaufe.

Aber!

Was ist das für ein Geräusch?

Ich mache wieder meine Augen auf und versuche den Verursacher des Geräusches zu erkennen: Aus dem Schuppen krabbelt ein Lebewesen heraus. Das ist ein Baby. Ein Riesenbaby. In der Farbe pink. Ganz nackt.

Bald sehe ich besser. Das ist kein Baby. Das ist ein Schwein. Das arme Schwein liegt am Boden, schaut mich an und versucht etwas zu sagen. Gleich hinter ihm ist der Fleischhauer. Er hat eine Plastikschürze bis zum Boden.

Der Fleischhauer hat eine Bauschaufel in der Hand und schlägt damit auf den Kopf des Schweins. Nach ein paar jämmerlichen Geräuschen schreit das Schwein jetzt mit vollem Schmerz.

Hinter dem Fleischhacker kommen noch zwei Männer heraus. Ohne Schürzen. Aber beide haben Holzstangen in der Hand und hauen auf den Schädel vom Schwein.

Sie reden etwas mit oder gegeneinander, aber die Sprache ist für mich nicht verständlicher als die der Schweine.

Jetzt ist auch in dem Schuppen Bewegung. Dort sind mehrere Schweine. Zwei? Drei? Weiß ich nicht. Werden auch sie bald geschlachtet?

Warum schreien die anderen Schweine? Haben sie gesehen, dass dieses geschlagen wird? Wissen sie, dass geschlagen werden Schmerz bedeutet? Oder schreien sie, weil dieses eine schreit?

Gibt es "ich" in der Denkweise der Schweine? Wahrscheinlich ja: "Ich bin geschlagen worden, also schreie ich."

Und gibt es auch ein "wir"? Wissen sie, dass der Fleischhauer kein Schwein ist?

Wissen sie, was "Tod" ist? Haben sie einmal erlebt, dass eines von ihnen nur mehr bewegungslos da liegt? Haben sie verstanden, was das bedeutet? Dieses endgültige Ende ohne Wiederkehr?

Kommen die Schweine auf die Idee, alle miteinander den Fleischhauer anzugreifen und ihren Kollege zu befreien?

Wahrscheinlich haben sie keine Chance, ohne Waffen. Aber es sollte einen Versuch wert sein. Wenn der Tod kommt, das ist endgültig. Schmerz und Verletzungen kann man überleben. Wenn ein Schwein sein Leben retten kann, hat es sein Leben gerettet. Wenn es dafür gekämpft und dabei einige Verletzungen und Schmerzen erlitten hat, das zahlt sich aus.

Inzwischen sind der Fleischhauer und seine Kollegen, alle auf meiner Seite und treiben das überall blutende Schwein brutal in die Hütte zurück.

Ich gebe auf. Ein Schwein ist kein Spartakus und wenn ich mich in dieser Mickey Mouse Fabrik einmal wehren sollte, weiß ich, kein Schwein würde auf meiner Seite stehen.


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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017