Die rothaarige Frau

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DIE ROTHAARIGE FRAU

 

Ich bin wieder am Hauptplatz.

Jetzt habe ich zwei Zetteln in der Hand. Ich versuche sie zu lesen:
"Vorarlberg…Bregenz… Jugoslawische…"

Ich weiß nicht, wie man diese Wörter artikuliert. Nur "Jugoslawische" sagt mir etwas. Die anderen sind wahrscheinlich Ortsnamen.

Wo sind diese Orte? Wie weit sind sie? Wie komme ich dorthin?

Gibt es eine Bahnverbindung? Gibt es hier einen Bahnhof?

All das weiß ich nicht. Ich muss morgen neun Uhr pünktlich irgendwo sein. Was soll ich tun?

Ich bin bis hierher mit einem Auto gekommen. Kann ich weiterhin meine Reise mit einem PKW fortsetzen?

Wie komme ich zu einem Auto?

Ich muss einen Autofahrer kennenlernen. Während der Fahrt kann ich einen Autofahrer nicht kennenlernen. Ich muss ihn treffen, wenn er anhält.

Wo soll ich einen anhaltenden Autofahrer kennenlernen? Eine Tankstelle? Dieses Wort kenne ich nicht auf Deutsch. Nicht einmal in Englisch.

Ich halte den nächsten Passanten an.
"Benzin… Britisch Petrol…Castrol…"

Er macht mit Hand und Fuß Bewegungen, womit ich verstehen soll, dass er nichts versteht.

Ich halte den nächsten Passanten an:
"I wish to buy some Benzin. Petrol. Oil for a car."

Nach einigen Versuchen versteht er was ich will. Dann zeigt er mir den Weg. Und redet dabei einiges auf Deutsch. Ich verstehe gar nichts aber nicke mehrmals mit meinem Kopf.

Ich gehe einfach in die Richtung, die er mit der Hand gezeigt hat.

Nach etwa einer Viertelstunde herum irren komme ich zu einer großen Tankstelle. Hier ist wirklich viel los. Viele Autos warten in der Schlange.

Ich gehe zum nächststehenden Fahrer.
"Excuse me, sir!", und ich zeige den maschingeschriebenen Zettel mit "Bregenz und so weiter". Er schüttelt seinen Kopf und sagt "Far away."

Ich gehe zum nächsten Fahrer.
"No!, No!,No!"

Dann gehe ich zu dem Nächsten.

Das ist aber eine Frau.

Damals war eine "Taxifahrerin" in der Türkei undenkbar. Eine Sekretärin, gar eine Arbeiterin hatte niemals ein Auto.

Aber ich kannte ein paar Frauen, die ein Auto hatten.

An erster Stelle denke ich an Frau Doktor Güzin. Sie war die Kinderärztin meiner kleinen Schwester. Mehr über sie erzähle ich in meinem Roman "Volksschule Zihnipascha".

Auf jedem Fall stammte sie aus einer sehr reichen Familie, studierte in USA Medizin und kam von dort mit einem riesigen weißen "Buick" zurück. Ein paar mal am Sonntag führte sie uns mit ihrem Auto durch die Straßen von Istanbul. Das war damals für uns Kinder ein sehr imponierendes Erlebnis.


Würde Frau Güzin einen fremden Jungen bei ihrer Fahrt mitnehmen? Glaube ich nicht.

In den siebziger Jahren war in Europa Reisen per Anhalter Gang und Gebe. In der Türkei gab es sowas damals nicht und ich wusste nichts darüber. Das Wort "Autostoppen" kannte ich auch nicht.

Und jetzt sitzt eine Frau vor mir am Lenkrad. Sie ist höchstens dreißig. Und hat rotgefärbte Haare. In der Türkei markiert man die Schafe vor dem Opferfest mit rotem Henna. Oder bei manchen Dörfern färbt man die Handflächen von Braut und Bräutigam vor der Hochzeit. Ab jetzt werde ich hier öfters Frauen mit rotgefärbten Haaren sehen. Aber das weiß ich noch nicht.

Wer ist sie? Hat sie steinreiche Eltern? War ihr Großvater ein habsburgischer "Pascha"?

"Good afternoon, madam!", sage ich und zeige den Zettel mit "Bregenz, Vorarlberg usw." Ich erwarte nicht, dass sie mich mitnehmen wird.

"Good afternoon!" sagt sie, beugt sich nach hinten und macht die hintere Seitentür auf.
Ich steige ein.

Endlich kommen wir an die Reihe. Es wird vollgetankt. Sie bezahlt. Soll ich ihr Geld anbieten? Wieviel? Ich schweige und warte ab.

Dann sage ich ihr, dass ich noch mein Gepäck in einer Bank deponiert habe. Wir fahren zur Bank zurück.

Die Bank-Tür wird wieder ohne Widerrede geöffnet. Auf der linken Seite der hinteren Sitzbank lade ich der Reihe nach meine "Zimmer, Küche und Kabinett".

"So much!", sagt sie. Ich sage nichts. Ich setze mich neben meine Habseligkeiten nach rechts, neben der Tür.

Wir fahren.

Ich habe hier bereits eine Kellnerin gesehen. Auch eine Frau, die eine Pension betreibt. Was werde ich noch alles sehen?

"Darf ich rauchen?"

"Natürlich!", sagt sie, "Ich rauche selber", und zeigt mir den Aschenbecher.

Arbeitet diese Frau? Was für eine Arbeit? Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Kellnerin ein Auto besitzt. Ist sie vielleicht Ärztin?

Ist sie verheiratet? Hat sie Kinder? Was bedeutet hier verheiratet sein? Gibt es hier solche Begriffe wie "Treue" oder "Eifersucht"?

Ja. Ich denke an Sex. Ich habe zwar sogar ein Pornoheft in meinem Koffer aber habe ich seit etlichen Tagen nicht die Möglichkeit gehabt zu wichsen. Ja, damals war ich eine Hormonbombe und wenn ich die Möglichkeit habe, tue ich das mehrmals am Tag.

Ja, ich habe sexuelle Bedürfnisse, aber in allgemeiner Natur. Ich sehe diese Frau sicher nicht als "Sexual Objekt". Sie ist bestimmt hübsch. Aber ich kenne sie nicht. Wenn sie sich plötzlich zurückdreht und meine Hand berührt? Ich würde nicht Angst bekommen, denn bin ich sicher kräftiger als sie, aber würde ich sehr verlegen sein.

Hat sie keine Angst, dass ich sie vergewaltigen könnte?

Vor einigen Jahren habe ich einmal im Gymnasium "Haydarpascha" an einem Freitag die Gebetsstätte der muslimischen Schüler besucht. Zwei Stöcke tief im Keller, unter der Erde. Dorthin gelangt man über eine Eisentreppe. Obwohl dieses Bubengymnasium mehr als fünfhundert Schüler beherbergte, ging nur eine kleine Gruppe der Islamisten in diese Privatmoschee. Im Gymnasium waren auch Lehrer und Lehrerinnen vorhanden. Aber in der Lehrerschule im kemalistischen sogenannten Laizismus erzogen, gingen solche Menschen nie in eine Moschee.

Die islamistischen Schüler erzählten mir, dass sie dort direkte Gotteserfahrung hatten. Was war eine Gotteserfahrung? Ich sollte einmal mit ihnen gehen und ich würde es selbst erleben.

Noch kein befestigter Kommunist, inmitten meiner pubertären Suche, mit gutem Willen, aus Neugier und ohne Vorurteil, ging ich mit. Ich habe versucht ihre Gebetsgymnastik nachzumachen. Aber habe ich keinen Gott gesehen.

Nach dem Gebet haben mich etwa zwanzig Jungviecher vergewaltigt. Ich habe das derart verdrängt, zwischen meinem Bewusstsein und diesem Ereignis steht eine Milchglasscheibe eines Alptraums. Daher kann ich darüber nicht mehr erzählen.

Nach einem Verhör bei der Polizei, wo ich dicht geblieben bin, war ich stolz darauf und konnte ich darüber mit Freunden und Freundinnen reden. Aber nach der Vergewaltigung konnte ich mit niemanden, auch nicht mit meinen Eltern darüber reden. Das war das schlimmste. Nach mehrmaligem Baden habe ich mich lange Zeit beschmutzt gefühlt.

Später habe ich erfahren, dass auch hinter den dicken Mauern des Vatikans so etwas möglich war.
Ich kann mir nicht einmal in einem Alptraum vorstellen, dass ich einer Frau so etwas grausiges antun kann. Aber die rothaarige Frau kennt meine Vergangenheit nicht.

Die Fragen über den Stellenwert der Frau in diesem neuen Land werden mich sehr lang beschäftigen. Hier ist sicher einiges anders. Aber auch in der Türkei sind die Geschlechterverhältnisse je nach Religion, sozialer Klasse, Schicht, sogar Ort sehr verschieden. Für den Großteil der Bevölkerung ist die Jungfräulichkeit vor der Ehe von essenzieller Bedeutung. Aber ich war Schauspieler. Unter meinen Kollegen und Kolleginnen wurde das höchstens ein Thema der Neugier, aber sicher kein Grund für Ehrenmord.

Wir fahren durch weite Felder. Ich denke an meine Reisen durch Kurdistan. Die Sonne zieht langsam ihr Nachthemd an. Mich packt die Wehmut. Werde ich wieder Kurdistan sehen? Ich denke, nachdem ich meine Mission in Europa erfüllt habe, werde ich bestimmt wieder zurück gehen und werde mich an dem Kampf beteiligen. Ich denke, spätestens in drei Monaten. Was ich alles nicht denke? An die Entscheidungen Fortunas denke ich niemals.

Ich denke wieder an die rothaarige Frau. Wer ist sie? Was macht sie? Ich kann sie nicht einordnen und daher auch meine Gegenrolle nicht bestimmen. Aber denke ich immer wieder an sie. Denkt sie auch an mich? Wer bin ich? Was mach ich? Vielleicht denkt sie an ihre Kinder? Oder was sie zuhause kochen wird? Soll ich ihr etwas erzählen? Was? Kann das für mich gefährlich sein? Kann sie mich an die Polizei liefern?

Was ist, wenn ich plötzlich eine Waffe an sie richte und ihre Geldbörse verlange? Hat sie keine Angst von mir?

Der Abend deckt uns langsam zu. Wir fahren jetzt durch die Wälder. Die Berge Kurdistans sind meistens kahl.

Wir fahren bereits mindestens seit vier Stunden. Der Tag verabschiedet sich langsam zu Gunsten der Nacht. Wir fahren noch immer durch die prächtigen Wälder.

Sie hält an.

"Excuse me!", sagt sie und geht hinaus. Sie verschwindet im dunklen Wald. Was hat sie vor?

Bei den Theatertourneen in Anatolia wenn eine Kollegin in Plumpsklo gehen sollte, war meine Aufgabe mitgehen, vor der Tür stehen und sie gegen fremde Angriffe zu beschützen. Warum gerade ich?

Auch wenn die Kolleginnen etwas Frauenspezifisches wie eine Handtasche oder Schminkzeug kaufen sollten, habe ich sie begleitet. Irgendetwas bei meinem Benehmen war sicher feminin. Außerdem kannte ich mich mit Qualität und Preis der "Frauensachen" aus.

Was macht sie so lange? Hat sie keine Angst? Ist das hier üblich? Soll ich nach ihr Ausschau halten?

Endlich kommt sie zurück. Sagt wieder "Excuse me!" und setzt sich an das Lenkrad.

Wir fahren durch das nächtliche Österreich.

Ich erinnere mich an das Geschwätz des Herren Tatar in Bulgarien: "Diese heidnischen Frauen waschen nach dem Scheißen ihren Arsch nicht.", oder ähnlich. Das werde ich in Österreich von den muslimischen Fremdarbeitern öfters hören. Herr Tatar hat mich sehr genervt, aber frage ich mich trotzdem? Wie hat sie sich geputzt? In Kurdistan, in den Dörfern wo es kein Klo und kein Fließwasser gibt, benützen wir das "große" Klo und zum Reinigen kleine Steine.

Nacht. Stille. Wir fahren weiter.

Aber, warum hat sie mich mitgenommen? Aus Mitleid? Vielleicht bin ich zu dünn, ein bisschen feminin, aber ein hartgesottener Revolutionär. Ich glaube nicht, dass ich Mitleid erwecke.

Vielleicht hat sie Mutterinstinkt? Weder bin ich so jung, noch sie ist so alt. Erwartet sie eine Gegenleistung? Was?

Ich rauche meine letzten "Bafras" eine nach der anderen. Sie raucht auch immer wieder, aber nicht so viel wie ich. Das Auto ist ganz schön benebelt.

Die Stille ist unerträglich. Es gab in den siebziger Jahren eingebaute Kassettenrekorder in den Autos. Sie spielt aber nichts.

Ich schwimme die Nacht durch in meinen unbeantworteten Fragen. Ich frage sie aber nichts, weil ich mich fürchte, aufdringlich zu sein. Für mein Benehmen gegenüber ihr habe ich aber einen Anhaltspunkt: Ich bin Kommunist! Ich trete gegenüber alle Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe und Geschlecht mit großem Respekt.

Nach unendlich vielen Zigaretten haben wir immer wieder angehalten und die Aschenbecher ausgeleert.

Langsam kommen wir in die Morgendämmerung. Wir sind am Rand eines kleinen Waldes.

Sie hält an.
"Wir sind schon da!"

Sie macht die Tür an meiner Seite auf und streckt ihre Beine hinaus.

Auch ich strecke meine eingeschlafenen Beine hinaus.

Sie reicht ihre Zigarettenpackung zu mir und sagt:
"Bitte! Nehmen Sie!"
Auf der Packung steht "Smart".

Wir zünden unsere Zigaretten an. Stille. Nicht ganz: Wir hören den ewigen Chor der Grillen.

Falls zwischen uns etwas passieren sollte, jetzt ist die letzte Möglichkeit. Habe ich etwas vor? Nein. Hat sie etwas vor?

Die Zigaretten sind ausgeraucht.

Ich sage:
"Thank you very much!" und schleppe mein Gepäck heraus.
"I see you!", sagt sie.
"I see you!"

Auch sie habe ich nie wieder gesehen.

Liebe rothaarige Frau! Lebst du noch? Sind deine Haare noch immer rot gefärbt? Ich habe keine Zähne mehr. Hast du noch deine eigenen, schönen Zähne?

Auch an dich erinnere ich mich mit Dankbarkeit, Liebe und Respekt.


 

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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017