Der Schlossherr

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DER SCHLOSSHERR

 

Um meiner Mission als Berufsrevolutionär gerecht zu werden, arbeite ich seit einigen Jahren an der Entwicklung meiner Persönlichkeit. Wenn ich unter Zeitdruck handeln muss, orientiere ich mich nach meinem "Bauchgefühl". Aber wenn ich Zeit habe, aktiviere ich mein gesamtes Wissen, bevor ich etwas entscheide.

Aber gleichzeitig bin ich ein verständnisloses Tier. Ein Geruch, ein Klang, ein Bild kann meine rationale Entscheidung blitzschnell zu Nichte machen. Und dagegen habe ich bisher kein Kraut gefunden.

Soll ich das Tier in mir abschlachten? Der Tod der Revolutionäre freut nur die Faschisten. So lasse ich mein Tier in Ruhe. Wir werden je nach Situation abwechselnd die Führung übernehmen.

Nachdem ich mich nach langen Überlegungen entschieden habe, den "Schlossherren" zu besuchen, geht alles spontan.

Ich steige die Treppen zügig hinauf. Der erste Stock. Ich gehe den Gang durch. Es gibt mehrere Türen. Ich suche aber ein ähnliches Schild wie unten, mit dem Schriftzug "Sozialdemokratie". Finde ich nicht. Dann steige ich noch einen Stock hinauf.

Ganz am Anfang finde ich eine Tür, wo rechts daneben ein kleines Schild befestigt ist. Darauf steht einiges. Die Beschriftung schaut ähnlich aus wie unten. Da ist auch ein Name, welchen ich noch nie gesehen oder gehört habe. Ich weiß nicht einmal, ob dieser ein Frauen- oder Männername ist. Aber 1971 war mir keine Frau in der Türkei oder woanders in einer bedeutenden politischen Position bekannt.

Die Tür ist zu. In der Türkei, wenn eine Tür in einem Amtshaus geschlossen ist, klopft man. Ist es auch hier so.? Weiß ich nicht. Ich klopfe.

Ich höre, dass eine Männerstimme etwas sagt. Ich verstehe nichts, aber mache die Tür auf und gehe hinein.

In dem relativ großen Raum ist ein großer Schreibtisch. Dahinter sitzt ein Mann. Er ist ohne Bart. Er hat ein Sakko, ein weißes Hemd aber keine Krawatte. Ich schätze ihn um die dreißig. Oder älter? Ich bin noch zu jung und kann das Alter der Mitmenschen nicht immer genau abschätzen.

Der Mann steht auf.

"Excuse me, dear sir! I am a representant of the resistance movement against fascism in Turkey. I bring you some news."

Er hört mir aufstehend und sehr aufmerksam zu.

"Firstly: I am marxist. May I ask you: Are you my comrade?"

Er betrachtet mich von oben bis unten. Dann lacht er.

"Yes! Sure!"

Ich sage absichtlich nicht Kommunist, weil ich an die ehemaligen Kommunistischen Staaten kein Vertrauen mehr habe. Sonst könnte ich in Bulgarien oder Jugoslawien mich von dem Herrn Tatar retten.

Vor seinem Tisch sind zwei Stühle. Er zeigt mir Platz. Ich setze mich nieder.

Er hat von dem Militärputsch in der Türkei gehört. Aber er weiß nicht viel darüber. Mein eigenes sehr flüchtiges Wissen über Österreich reicht bis zum Ende des Dritten Reichs. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was sich danach hier politisch abgespielt hat. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich in den letzten Jahren in der türkischen Presse etwas über Österreich gelesen habe. Also, ich kann ihm nicht übelnehmen, dass er sich mit der Türkei nicht genau auskennt.

Ich erzähle so kurz wie möglich über das Land, woher ich flüchte. Und berichte auch über Verhaftungen, Folterungen und Morde.

Er hört mir weiterhin sehr aufmerksam zu. Er ist mir sympathisch. Wir reden noch immer mit englischen "you", aber wenn ich Deutsch könnte, würde ich ihn duzen.

Dann fallen mir die Bilder hinter ihm an der Wand auf. In der Mitte hängt ein größeres gerahmtes Foto von einem Mann. Denn kenne ich nicht. Immerhin, der trägt keine Uniform. Links von ihm ist ein kleines Foto von Che Guevara. Rechts von ihm ist in derselben Größe ein Bild von John F. Kennedy.
"Wer ist der Mann in der Mitte?"

"Er ist Bruno Kreisky. Unser Ministerpräsident. Wir sind seit einem Jahr an der Regierung."

"Oh! Ich gratuliere. Es freut mich sehr. Aber was ist mit den anderen zwei Bildern an seinen Seiten? Sie sind einander gegenüber feindlich gesinnt. Zeigt das die politische Linie der Sozialdemokratie in Österreich?"

"Nein. Das ist meine Entscheidung. Ich finde die beiden Herren sympathisch."

Ich bin nur ein paar Stunden hier. Es genügt für mich zu begreifen, dass hier das kapitalistische System herrscht. Was die Sozialdemokraten hier tun ist mir noch nicht klar. Na und? Ich wäre aber glücklich, wenn in der Türkei das Leben so friedlich wie hier aussehen würde. Es ist möglich, dass, wenn ich hierbleibe auf die Seite der Opposition gehe. Aber ich würde niemals auf die Idee kommen, hier zu den Waffen zu greifen.

Ich bin nicht hierhergekommen, um diesen freundlichen Herren zu bekehren. Wenn die Sozialdemokraten uns zumindest moralisch beistehen wollen, werde ich das annehmen.

"Mein Auftrag ist, die linke Organisationen zu kontaktieren und für unsere Bewegung Unterstützung zu organisieren.", sage ich.

Er ist rationeller als ich, der Träumer.

"Wo schlafen Sie? Wovon leben Sie?"

"Ich möchte arbeiten. Kann ich hier eine Arbeit finden?"

"Qualifikation?"

"Ich habe Schauspiel studiert. Auch einige Semester Volkswirtschaft. Aber ich kann nicht Deutsch. Ich will politisch aktiv sein. Am liebsten will ich eine Arbeit in einer Fabrik."

Er holt einige Telefonbücher und legt sie auf seinen Tisch. Ich nehme an, dass diese Telefonbücher von verschiedenen Städten in diesem Land sind. Er telefoniert mit jemanden. Legt den Hörer ab und ruft jemand anderen an. Er redet wieder ein paar Minuten und legt wieder ab. Diese Telefonate dauern mindestens eine halbe Stunde.

Dann höre ich an die Tür klopfen. Eine junge, kurzhaarige Frau, die fast wie ein Bub ausschaut, kommt herein. Mich begrüßt sie mit einem Kopfnicken. Sie geht zu ihm sehr nahe und beugt sich über ihn. Sie diskutieren über etwas sehr ernsthaft, aber sehr leise. Ich verstehe sowieso nicht einmal Bahnhof.

Sie begrüßt mich wieder mit einem Kopfnicken und geht hinaus.

Der Schlossherr -ich weiß nicht mehr, wie er heißt, daher sage ich "Der Schlossherr"- sagt:
"Excuse me!", und telefoniert weiter.

Er wechselt die Telefonbücher und ruft immer wieder neue Nummern an. Was er spricht, mit wem er spricht, weiß ich nicht. Es dauert mindestens eine Stunde. Dann führt er ein längeres Gespräch. Er legt jetzt den Hörer nieder und dann ruft er noch eine Nummer.

Dann sagt er:
"Alles klar."

Mir sind die Beine eingeschlafen.

Er nimmt von einer Schublade ein Blatt Schreibpapier. Faltet es sorgfältig, streicht darüber mit dem Nagel seines Zeigefingers mehrmals, und schneidet es dann mit einem Brieföffner in der Mitte.

Er spannt das halbe Papier in seine Schreibmaschine, schreibt etwas, zieht es wieder heraus und gibt es mir.

"Heute Abend können sie hier schlafen."

Dann spannt er die andere Hälfte des Papiers in die Maschine und schreibt wieder etwas.

Dann gibt er auch diesen Zettel zu mir und sagt:
"Morgen gehen sie zu Genosse Hagen. Bitte pünktlich. Er wird für sie gleich eine Arbeit finden."

Ich bin ein frecher, fremder Jugendlicher. Er könnte mich einfach rausschmeißen. Stattdessen hat er sich wirklich extrem bemüht, mir sofort eine Arbeit zu finden.

Ich stehe auf. Er kommt zu mir. Wir schütteln kräftig die Hände.

"Good luck!"

"I thank you wery much! I see you."

Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Nach dem ich diesen Raum verlassen habe, habe ich versucht, mir seinen Namen auf dem Schild zu merken. Aber es war für mich ein noch nie gehörter Name. Damals gab es kein Handy und kein E-Mail. Nach einigen Tagen würde ich entdecken, dass es auf den Straßen Telefonzellen gibt. Aber zuerst musste ich lernen, mit diesen Geräten umzugehen. Unter Stress der danach auf mich zukommenden Probleme konnte ich nicht daran denken, ihn wieder zu kontaktieren.

Wie hieß er? Was für eine Funktion hatte er im Rathaus? Weiß ich nicht.

Bevor ich nach fünfzig Jahren dieses Kapitel zu schreiben begann, bin ich viele Tage lang vor dem Bildschirm gesessen und habe versucht, unter verschiedensten Stichwörtern etwas über ihn zu erfahren. Vergebens.

Dann habe ich angefangen SPÖ-Funktionäre in der Steiermark anzurufen. Nach dem ich mein außergewöhnliches Anliegen erzählt habe, versuchten alle Damen und Herren mir zu helfen. So hat jede mir einige Namen genannt und einige Telefonnummer gegeben. Eine Woche lang habe ich hunderte von Telefonnummern ausprobiert.

Zentralfriedhof Graz

 

Am Ende habe ich einen ehemaligen Bürgermeister von Graz angerufen. Er war älter, aber aktiver als ich. Obwohl er mir gesagt hatte, dass er etwas machen muss und unter Zeitdruck steht, bohrte ich immer weiter.

Zum Schluss sagte er: "Herr Doktor, gehen Sie zum Zentralfriedhof in Graz. Dort werden Sie Ihren Freund bestimmt finden."

Lieber Schlossherr! Du bist einer der zahlreichen Menschen, die mir mein Weiterleben ermöglichten. Ich verbeuge mich vor deiner Erinnerung!


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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017