Jugoslawisches Arbeiterwohnheim

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
JUGOSLAWISCHES ARBEITERWOHNHEIM

 

Rechts von mir ist ein Wald.

Links von mir ist ein dreistöckiges Haus.

Vor mir ist ein Asphaltweg.

Auf diesem Weg sind wir hierhergekommen. Auf diesem Weg sind die rothaarige Frau und ihr Auto weggefahren und hinter dem Haus verschwunden.

Ich stehe jetzt allein neben meinem Gepäck.

Wo bin ich? Bregenz? Nie gehört. Ein Dorf? Eine Stadt? Wie groß? Kann man das auf einem Globus finden? Was mache ich hier?

Die Sonne dürfte langsam aufwachen. Aber bis sie aufsteht und mit ihrer langsamen Reise beginnt, braucht sie noch Zeit.

Kein Mensch ist zu sehen, auch keine Katze. Kein Blatt auf den Bäumen bewegt sich. Bin ich in Terra-Incognita verloren?

Plötzlich überfällt mich ein Klang: Der ewige Chor der Grillen. Sie singen die ganze Zeit ununterbrochen und in Fortissimo. Mein Gehör hat sie eine Weile verdrängt. Jetzt sind sie wieder voll da.

Ich kenne diesen Klang von meiner Kindheit in Istanbul. Auch in Kurdistan habe ich es öfters gehört. Und jetzt hier. Also, die Welt ist meine Westentasche und ich bin ein Internationalist.

Jetzt betrachte ich voller Zuversicht das Gebäude links von mir. Es ist weiß ausgemalt, wahrscheinlich aus Beton und schaut so aus, wie wenn es in einer Nacht aufgestellt wurde.

Ich nehme meinen Koffer mit und steige die wenigen Treppen springend hinauf.

Rechts von mir, gleich nach der Tür ist eine Portierloge mit großem Glasfenster. Dahinter schläft ein für mich alter Mann sitzend auf einem Sessel. Wie ich an das Fenster nahe komme, wacht er sofort auf. Kommt zum Loch an dem Glas und sagt irgendetwas, wahrscheinlich in Serbokroatisch -Auch diesen Begriff kannte ich damals nicht-.

Ich habe noch meine zwei mit Maschine geschriebenen Zetteln vom Schlossherrn. Einen davon, mit der Adresse und "Jugoslawisch…" gebe ich ihm.

Er ist nicht überrascht. Anscheinend ist er bereits informiert und wartet auf mich.

Er kommt heraus. Er wirkt sehr ernsthaft. Aber nicht unfreundlich. Mir fällt auf, dass seine Wangen sehr tief in sein Gesicht hineingefallen sind. Ich denke, dass die Spuren des proletarischen Lebens auf den Gesichtern der Menschen sichtbar sind, ob wir die Ausbeutung kommunistisch oder kapitalistisch benennen.

Ich mache eine kleine Verbeugung vor seiner Persönlichkeit. Wir steigen einen Stock höher, er vorne, ich hinter ihm folgend. Und er beginnt mit einer Tanzpantomime.

An der Wand hängt eine große, runde Uhr. Die Uhr zeigt fünf vor fünf. Er zeigt mit seinem Zeigefinger die Uhr. Dann hebt er acht Fingern hoch. Also um acht Uhr. Ich nicke mit meinem Kopf. Er hebt seine Daumen schnell in die Höhe und steht kerzengerade. Um acht Uhr aufstehen. Ich nicke mit meinem Kopf. Dann dreht er ein nicht existierendes Lenkrad mit beiden Händen nach rechts und links. Also er wird mich dorthin führen. Dann neigt er seinen Kopf nach rechts und legt ihn auf seinen Handrücken. Also danach wird er schlafen gehen.

"Thank you! Thank you very much!", sage ich.

Wir stehen vor einer Tür. Er bringt seinen Zeigefinger auf seine Lippen. Also, ich soll leise sein. Ich nicke mit meinem Kopf.

Ich staune, wie er sich ohne ein Wort so ausdrücken kann. Das ermutigt mich. Das heißt, muss ich nicht stumm zu sein verurteilt sein, wenn ich hier die Landessprache nicht sprechen kann.

Er macht die Tür auf. Drinnen sind zwei Betten. Auf einem schläft ein halbnackter junger Mann. Er dreht sich nach links und rechts, aber wacht nicht auf. Auf Zehenspitzen bringe ich meinen Koffer neben das leerstehende andere Bett. Dann gehe ich hinunter und hole mein restliches Gepäck.

Ein sauberes Bett, glänzt von der Weiße. Daunendecke. Daunen Polster. Ich versinke im Bett drin und schlafe sofort ein.

Punkt acht Uhr weckt mich der Portier auf. Ich sollte unausgeschlafen sein und nicht aufstehen wollen. Keine Spur! Ich bin neugierig auf mein neues Leben. Ich springe sofort auf.

Er zeigt mir mit seiner nichtverbalen Sprache, dass ich mich beeilen muss. Mein Zimmerkollege ist bereits weg.

Wie ich vom Zimmer hinaus gehe, kommt ein Mann um die dreißig auf mich zu. Halbnackt, um die dreißig, dunkelblond. Ein schöner Mann. Er sagt etwas in wahrscheinlich Serbokroatisch. Ich mache meine Hände auf und schüttle meinen Kopf.

"Italiano?", fragt er. Ich mache wieder dieselbe Bewegung. Dann klopft er zweimal auf meinen Oberarm als Zeichen der Freundschaft.

Ich frage in nonverbaler Sprache, wo die Toiletten sind. Er zeigt.

Nassräume. Mehrere Toiletten. Mehrere Pissoires. Mehrere Duschen. Der Boden ist mit weißen Kacheln bedeckt. Die Wände sind mit weißen Kacheln bedeckt.

Ich gehe in eine der Toiletten. Eine Keramik-Klomuschel. Ich sperre die Tür zu und beobachte genau die für mich neue Sperrvorrichtung.

An der Wand ist ein Gestell mit Klopapierrolle. Ich habe keine Erfahrung damit. Ich übe.

Ich gehe hinaus. Mehrere Waschbecken. Vor jedem Waschbecken sind an der Wand Spiegeln. Ich tüftele an dem Wasserhahn. Warmwasser!

Wie ich neun Jahre alt war, baute mein Vater unser Haus im Bezirk Erenköy, in Istanbul. Er nimmt große Kosten auf sich und ließ Fließwasser ins Haus leiten. Aber das war nur Kaltwasser.
Hier gibt es sogar Warmwasser. Ich könnte duschen. Aber keine Zeit.

Ich gehe zum Waschbecken und wasche mein Gesicht. Mein Bart ist gewachsen. Keine Möglichkeit zum Rasieren. Trotzdem schaue ich in meinem Maßanzug und Weste wie eine Schaufensterpuppe aus. Nur mein Hemdkragen ist ein bisschen verschmutzt.

An der Wand ist ein Gestell. Drinnen sind Papierstücke gestapelt. Darunter am Boden ist ein Kübel. Im Kübel sind solche Papiere zerknittert. Auch das kenne ich noch nicht. Ich trockne mein Gesicht und schmeiße die Papiere in den Kübel.

Gehe ich sofort ins Zimmer zurück und ziehe ein neues Hemd an.

Der Portiert wartet auf mich und deutet, dass ich mich beeilen muss.

Ich hole mein Gepäck hinunter. Wir fahren.

Warum kutschiert er mich? Hat ihn der Schlossherr angerufen? Wie weit ist seine Reichweite in diesem Land?

Wie stehen Österreich und Jugoslawien miteinander?

Ich weiß, dass Jugoslawien Blockfrei ist. Das nehme ich ihm nicht übel. Ich habe kein Vertrauen mehr auf die Sowjetunion und ihren Herrschaftsanspruch auf die anderen kommunistischen Länder.

Soll ich mich als Kommunist nicht schämen, dass ein angeblich kommunistisches Land wie Jugoslawien darauf angewiesen ist, seine Staatsbürger in kapitalistische Länder arbeiten zu schicken?

Und die DDR, die ihre Untertanen in ein Gefängnis steckt und zumauert? Sie könnte sich nicht einmal das leisten, sonst würde sie entvölkert.

Falls uns gelingt den Faschismus zu stürzen und eine Revolution zu verwirklichen, werde ich mein Leben dazu widmen, dass aus der faschistischen Türkei nicht eine DDR wird.

Ich habe Schauspiel studiert. Alle Theaterstücke von Bertolt Brecht gelesen. Er war für mich ein Vorbild. Wie traurig muss es sein, dass so ein genialer Kapitalismuskritiker wie er, nach dem er gesehen hatte, wie gnadenlos die korrupten Bürokraten im Polizeistaat DDR die Arbeiter gnadenlos ausbeuteten, in kapitalistischen Staaten um Staatsbürgerschaft ansuchen musste.

Trotz allem, haben die Jugoslawischen Arbeiter eine tadellos funktionierte Wohnstätte hier. Gehört das Haus dem jugoslawischen Staat? Hat auch die Türkei hier ein Heim für seine Staatsbürger?

Während ich all das überlege, sind wir schon am Ziel.

Ich bedanke mich mit Hand und Fuß und hole meine Sachen heraus.

 


 

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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017