Rathaus

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
RATHAUS

 

Ich sitze nach wie vor auf meiner Startstation. Die Stufen des Erzherzog-Johann-Brunnen. Es muss endlich etwas geschehen. Ich kann den Rest meines Lebens hier sitzen, aber es wird kein Bekannter zufällig vorbei gehen und mich fragen: "Was machst du hier?".

Ich muss selbst etwas tun. Aber was?

Da ich von meinem Vorurteil "Alle Menschen sind gleich" ausgehe, werde ich lange Zeit mir bekannte Muster der menschlichen Kultur mit jenen mir ähnlich erscheinenden neuen Begegnungen gleichsetzen. So setzten sich meine Fehlinterpretationen fort.

Wenn ich auf den Stufen vom Erzherzog-Johann-Brunnen sitze, ragt mir gegenüber das Rathaus auf. Ich wusste damals nicht, was "Rathaus" heißt. Aber das Prunkgebäude ist nicht zu übersehen.

Was könnte das sein? Sicher Residenz von einem ehemaligen König oder Kaiser. Ich glaube nicht, dass ich in meiner verzweifelten Lage eine touristische Besichtigungstour veranstalten sollte, aber wenn das Gebäude sich so aufdrängt und so nahesteht, will ich einmal hinschauen.

Ich stehe auf und gehe hin. Es gibt mehrere Öffnungen mit hohen Gewölben. Das kenne ich von osmanischen Hofgebäuden. Da kann man auf Pferden hinein und hinaus reiten. Und das ist gut für mich: Im Falle einer Verfolgung kann ich von einem anderen Gewölbe hinaus flüchten.

Bei dem ersten Gewölbe von links gehe ich hinein. Ein breiter Hof. Die hohen Mauern lassen nicht die direkte Sonne herein. Ich warte, bis sich meine Augen an den Schatten gewöhnen.

Von einer Tür der Gebäude kommen eine Gruppe von Menschen heraus. Sie kommen von einer Treppe herunter. Etwa fünfzehn Personen aus beiderlei Geschlechtern.

Sie sind nicht so bekleidet wie die Leute in einer Großstadt in der Türkei. Sie haben eigenartige Bekleidungen, die ich vorher nie gesehen habe.

Manche Männer trugen Lederhosen mit einem Oberteil. Ich kenne die Schnittmuster dieser Bekleidung. Wie ich ein kleines Kind war, borgte meine Mutter eine aus Deutschland importierte Zeitschrift von ihrer Nachbarin. Die Zeitschrift hieß "Burda". Nach dem Muster in diesem Heft schnitt sie mir eine Bekleidung und nähte sie auf ihrer fußbetriebenen "Singer" Nähmaschine.

Memo fünf Jahre jung.

 

Aber das war nicht aus Leder, sondern aus Samt.
Aber auch die Lederhosen kannte ich aus der Türkei. In Edirne (einstmaliges Hadrianopolis) wurden jedes Jahr "Kirkpinar" (=Vierzig Quellen) Festival des "Mit Olivenöl Geölten Wrestling" gefeiert. Hier trugen die Sportler Lederhosen und tanzten vor dem Kampf Schuhplattler.

Lederhosen und Schuhplatler in Kirkpinar.

 

Damals lernten wir in der Türkei, dass die türkische Rasse den Ringkampf von Zentralasien mitgebracht hat. Als diese komische Rasse nach Thrakien kam, herrschte ein türkischer Blödsultan. Der hatte nur vierzig Soldaten. Als sie sich von ihren Eroberungen eine Rast gönnten, befahl der Sultan den Kriegern, sich nach zentralasiatischer Sitte mit Olivenöl zu schmieren und ein Wrestling zu starten. Nach einige Tage und Nächte dauerndem Kampf starben alle Krieger heldenhaft. Wo sie begraben wurden, entstanden Wasserquellen. Daher "Vierzigquellen".

Diese Geschichte wurde auf Befehl Atatürks von seinen Staatsjournalisten erfunden. Was sie nicht berücksichtigten, dass in Zentralasien keine Olivenbäume wuchsen.

Viel später erfuhr ich, dass es das zu Zeiten der Osmanen Erdelezi oder Ederlezi-Fest der Sinti und Roma war. Das wurde in dem Film von Emir Kusturica "Time oft the Gypsies" verewigt. Auch wenn ich allen Republik der Türkei Narrativen mit Mistrauen begegnete, wusste ich über die Geschichte des Kirkpinar damals noch nichts.

Einige Jahrzehnte später erforschte ich die Geschichte des "Grünen Festes" von Tammuz und Ischtar, samt Pessach und Ostern bis Erdelezi. Wer sich vertiefen will, kann mein Buch lesen: "Janitcharenkapelle und Europa."

Edirne, früher Hadrianopolis war vom römischen Kaiser Hadrian gegründet. Damals wurden zu seinen Ehren gymnische und hyppische Agon (=Wettbewerb) veranstaltet. Die Sportler traten wie auf den griechischen Vasen abgebildet, nackt auf. Dazu spielte man Auloi (*) (singular Aulos).

Bereits im 12. Jahrhundert waren die Roma in Byzanz angesiedelt. Die Byzantiner nannten sie die "Unberührbaren", aber die Roma etablierten sich in mehreren Fächern als unverzichtbare Spezialisten. Sie waren nicht nur hervorragende Reiter, sondern Pferdeakrobaten. Auch bei den gymnischen Spielen profilierten sie sich. Außerdem waren sie hervorragende Handwerker. Sie bearbeiteten vor allem Leder und Metall, also erzeugten sie auch Pferdegeschirr.

Im christlichen Byzanz konnten die Sportler nicht mehr nackt auftreten. So erzeugten die Roma Hosen aus Büffelleder für ihre Sportler.
Als die Osmanen Hadrianopolis eroberten, entdeckten sie auch die Roma und ihre Fähigkeiten. Sie wurden bald Ausbildner und Kommandanten der Janitscharen-Truppen.

Die Janitscharen wurden nicht zum Islam, sondern zum Bektaschi-Orden konvertiert. Das Fest von Tammuz und Ischtar wurde bei den Baktaschis Hidir-Ellez (Chdr und Elias) genannt.

So wurden Hadrian-Spiele der Roma, Erdelezi oder Ederlezi. Bis zur "Türkisierung" durch Atatürk, dauerte dieses Festival etwa eine Woche. Hier wurde nicht nur Sport und Musik dargeboten, auch der größte Pferde-Jahrmarkt des Reiches abgehalten. Ja, die Roma waren auch "Hergeleci" (=Pferdehändler). Sie züchteten Pferde und verkauften sie. Aus aller Welt kamen die Pferdeliebhaber nach Edirne und es wurde das Festival eine bedeutende Einnahmequelle für das osmanische Reich.

Ich erzähle hier eine Geschichte, die sich vor fünfzig Jahren ereignet hat. Inzwischen ist Dr. Memo Schachiner Historiker geworden. Ich versuche, soweit ich es kann, ihn von meinem Roman fernzuhalten. Aber es gelingt mir nicht, ihn ganz zum Schweigen zu bringen. So erzählt er jetzt, möglichst kurz, die Geschichte der Lederhose.

Die Roma waren in Rumänien gezwungen, als Sklaven in den Mienen zu arbeiten. Mitte neunzehntes Jahrhundert wurden sie freigelassen. In Bayern wurden dringend Holzfäller benötigt. So kamen die Roma nach Bayern und brachten ihre Lederhosen und Schuhplattler mit.
Bald spazierten zwei junge Männer, bekleidet mit Lederhosen, auf den Straßen von München. Die katholische Kirche tobte gegen diese Unsittlichkeit. Sie wurden verhaftet.

 

Kaiser Franz Josef und seine Lederhose.

 

Dann aber trägt Kaiser Franz Josef höchst persönlich bei der Jagd eine Lederhose. Nunmehr war der Adel bei der Sommerfrische in Lederhosen zu sehen. Auch für die Frauen wurden Dirndl geschaffen. Auch von traditionellen Trachten der Bäuerinnen inspiriert, waren die neuen Trachten Fantasieprodukte. Diese Kostüme wurden aber nicht von den Roma, sondern von der Haute Couture in Paris produziert.

Lederhose. Germanisch!

 

Die größte Legitimation bekam die Lederhose durch Hitler. Nunmehr wurden die Lederhose und das Dirndl die Rassentracht der Germanen.

Im osmanischen Reich waren die Sultane des neunzehnten Jahrhunderts, höhere Beamten und ihre Familien, und die Oberschicht so bekleidet wie die Franzosen und Französinnen. Mit ein dem einzigen Unterschied.: Männer trugen Fes genannte rote Kopfbedeckungen.
Da es ein Vielvölkerstaat war, trugen alle gewöhnlichen Leute ihre eigenen Volkstrachten. Wie die sogenannte Republik gegründet wurde, hat der Diktator alle Volkstrachten verboten. Nunmehr gehörten alle Untertanen der "Republik" zur türkischen Rasse und durften nicht verschiedene Kleider tragen.

Atatürk mit "Schabka". 1925

 

1925 befahl er bei seiner Sauftischrunde das "Hutgesetz" in Verfassungsrang. Nunmehr durften die "türkischen" Männer nur europäische Filzhüte tragen.

Das Gesetz bezweckte zwei Ziele: Erstens: Beitrag zur Assimilierung der mehr als fünfzig Volksgruppen als uniformierte Türken. Zweitens ein Zeichen nach Europa, welches seine Diktatur als Republik anerkannte, als Fortsetzung der "Modernisierung" nach europäischem Muster.

Ja, Ja! Das ist der Hut, welchen mein Freund Slavko Ninic von der Wiener Tschuschenkapelle trägt.

Atatürk nannte es slavisch "Schabka". Dieses Gesetz bildete lange Zeit die Schlagzeilen der Tageszeitungen. Jetzt mussten die Männer "Schabka" tragen. Aber woher nehmen? Bald konnte man auf den Straßen und Plätzen von Istanbul Karnevallandschaften besichtigen: Es wurde von einer italienischen Fabrik Hüte bestellt. Dann kam ein Dampfschiff voll beladen mit den Hüten. Es waren aber Damenhüte geschmückt mit allerlei Obstsorten und Blumen.

Nicht alle Männer wollten diese komische, fremde Kopfbedeckung tragen. Erst kommen Folterungen der Gendarmerie. Dann hohe Geldstrafen und lange Haftstrafen. Trotzdem konnte das Gesetz sich nicht überall durchsetzen. Dann kamen die Scharfrichter zum Zug. Die Galgen waren damals leicht tragbar.

Frauen betreffend war er nicht so radikal. Er verbot das Wahlrecht für die Frauen. Die Gründerin der Frauenpartei sperrte er in eine Irrenanstalt. Es waren in den Städten noch schwarz verhüllte Frauen zu sehen, aber unter Christinnen, Aleviten, Frauen der gebildeten Schicht niemals. Auch die werktätigen Bäuerinnen waren nicht verhüllt.

Abdulmecid, letzter Kalif aus der osmanischen Dynastie mit seiner Tochter.
Atatürk mit seiner Frau

 

Aber all das schreibe ich heute, mit später als Historiker angeeignetem Wissen. Wie ich in Graz landete, waren manche Erscheinungen für mich ganz neu. Und ich interpretierte sie nach meinen damaligen Erfahrungen.


Noch etwas fällt mir auf: Manche Männer tragen auf ihren Hüten einen Gamsbart. Das war damals für mich kein Gamsbart, sondern die Rasierbürste meines Vaters. Er war ein Nassrasierer. Eine kleine Aluminiumschale füllte er mit Wasser, mit einer Bürste schäumte er die zylinderförmige kleine Seife und trug den Schaum auf sein Gesicht auf. Ich denke, dass die Männer hier ihre Rasierbürsten auf ihren Hüten trugen, damit sie sich jederzeit frisch rasieren können.

Noch etwas fällt mir auf: Eine der Frauen hat ein Dirndl mit ziemlich kurzem Rock. Damals waren die Miniröcke auch in der Türkei Mode. Obwohl ihre Haare blond gefärbt sind, sind ihre Beine vollbedeckt mit schwarzen, langen Haaren wie ein Affe.

Ich muss gestehen, dass ich das sehr erotisch fand. Erst viele Jahre später, wie ich ein erfahrener Liebhaber wurde, registrierte ich, dass die behaarten Frauen und unbehaarten Männer mich besonders anziehen.

In der Türkei rasierten muslimische Männer wie Frauen ihre Schamhaare regelmäßig. Ob es im Koran eine Sure gibt, die sagt: "Diejenigen, die ihre Schamhaare nicht rasieren, werden wir mit Pech begießen. Sage ihnen, werden wir sie in Dschahannam schmoren wie die Ferkeln. Denn Allah ist sehr groß und barmherzig." Diese Sura habe ich bisher nicht gefunden.

Aber seit die Miniröcke Mode geworden sind, habe ich keine Freundin oder Kollegin gesehen, die Haare auf ihren Beinen hat. Außer Viktoria.

Damals studierte ich an dem Gemeindekonservatorium Cemberlitas in Istanbul Schauspiel. Viktoria war eine Kollegin von mir. Wir hatten eine sehr kleine Kantine. Bei den Pausen tranken wir dort Tee und saßen dabei fast übereinander. Viktoria war aus Deutschland aber wuchs in Istanbul auf. Ich glaube, ihr Vater arbeitete bei der deutschen Botschaft. Wir hatten keine besonders nahe Beziehung aber waren wir respektvoll und kollegial miteinander. Sie war blond und großgewachsen. Wie gesagt, waren damals Miniröcke Mode. Eines Tages saßen wir in der Kantine nebeneinander. Sie hatte einen nicht allzu kurzen Minirock. Mir fiel auf, dass ihre Beine vollbehaart waren.
Ich habe gewagt, sie schüchtern zu fragen.

"Liebe Viktoria, alle Frauen entfernen die Haare auf ihren Beinen. Nur du nicht. Warum?"

Viktoria sagte nur: "Ich bin katholisch."

Ich habe mich geschämt, dass ich so aufdringlich war. Sie sagte nichts mehr.

Jetzt kombiniere ich meine neuen Eindrücke: Diese eigenartig bekleideten Leute gehören zu einer bestimmten Volksgruppe. Wenn sie in einer Stadt in der Türkei so öffentlich auftreten, würde das als Aufstand einer Minderheit gelten und Polizei, sogar Militär würde sofort einschreiten und alle verhaften. Hier ist aber keine Diktatur an der Macht. Wie viele Volksgruppen gibt es hier?

Die Männer dieser Ethnie tragen ihre Nassrasur-Bürsten auf ihren Hüten und rasieren sich mehrmals am Tag.

Diese Leute sind katholisch und haben interessante Frauen.

Das ist eine Delegation einer bestimmten Volksgruppe und sie trugen ihre Anliegen an den Herrn in diesem Prunkgebäude.

Wer ist dieser Herr? Ein König ist er nicht. Ein Diktator auch nicht. Vielleicht Bürgermeister dieser Stadt? Oder Provinzgouverneur?

Ich möchte ihn sehen. So hocke ich ein bisschen entfernt von diesen Leuten um eine Ecke und warte ab, bis sie weg gehen.

(*)Doppelrohrblatt Aerophone. Verwandt mit der heutigen Oboe.
 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017