Ein neues Leben

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
EIN NEUES LEBEN

 

Ich habe das unmögliche geschafft. Ich habe dieses gnadenlose Schlachthaus hinter mir gelassen.

War das wirklich möglich? Dass man einige Grenzen überschreitet und damit eine neue Welt erreicht, wo keine Soldaten und Polizisten dich verfolgen? Oder bin ich in einem Traum?

Nein, ich bin hellwach. Ich fühle mich so, wie wenn wir die Revolution verwirklicht haben und ich habe alles überlebt.
Das Wetter ist wunderschön. Der Himmel ist genauso mittelmeerblau wie in Mersin. Aber die Temperatur ist nicht mehr vierzig, höchstens fünfundzwanzig Grad. Hier kann man leben.

Guten Morgen neue Welt!

Erzherzog-Johann-Brunnen. Dahinter Rathaus Graz.

 

Ich sitze noch immer auf der Treppe vom Erzherzog-Johann-Brunnen. Ich rauche meine türkischen Zigaretten und denke.

Mein Vater wollte, dass ich tausend türkische Lira von meinem Matrosengehalt zurückschicke. Jetzt habe ich etwas getan, dessen Folgen ich nicht abschätzen kann. Wie soll ich das Geld wieder zurückschicken?

Wieviel wert sind tausend türkische Lira hier? Ich schaue herum. Auf meiner rechten Seite sehe ich auf einem Glasfenster den Schriftzug: "Exchange".

Ich nehme mein Saz in die linke und meinen Zeitungsball in die rechte Hand und gehe hin. Immer wieder drehe ich mich um und schaue, ob mein Koffer noch da ist. Dann gehe ich zurück und hole meinen Koffer. In den kommenden Monaten musste ich diese Übung öfters wiederholen.

Ein offener Schalter. Ich stelle mein Gepäck neben dem Schalter auf den Gehsteig. Hinter dem Schalter sitzt ein junger Mann in meinem Alter.

"Do you speak english?"
"Yes!", sagt er.

Ich nehme meine einzige tausend türkische Lira Banknote aus meiner Geldbörse heraus und reiche sie ihm. Er streckt seine Hand aus und hält den Schein von einer Ecke. Er bekommt ihn aber nicht. Ich merke, dass ich das Papiergeld mit aller Kraft festhalte. Dieses Geld ist meine einzige Existenzberechtigung in diesem mir unbekannten Land. Ich lasse meine Finger locker und er bekommt das Geld.

Er hält ihn hoch zum Licht und schaut ihn vorne und hinten an. Anscheinend kennt er es. Dann steckt er ihn unter dem Pult in eine Schublade und holt andere Scheine heraus.

Ich stecke alles in meine Geldbörse und zeige ihm mein Gepäck am Gehsteig. Er dreht sich um und spricht mit jemanden etwas Unverständliches. Es dürfte ein Samstag sein. Die Bank ist geschlossen. Dann kommt ein älterer Mann und sperrt die große Glastür auf. Ich bringe mein Gepäck hinein und stelle es in eine Ecke.

Ich komme wieder zurück zum Brunnen. De Stufen sind sauber. Trotzdem wische ich mit der Hand darüber. Ich will meine Hose nicht schmutzig machen. Dann nehme ich die fremden Banknoten aus meiner Geldbörse und zähle sie. Zwei Stück fünfzig Schilling. Neun Stück hundert Schilling. Vier Stück Münzen, je zehn Schilling. Eintausendvierzig. Ich zähle sie noch einmal. Eintausendvierzig. Österreichische Schilling. Mich überrascht es, dass die Lira der türkischen Faschisten sogar mehr Wert ist als diese fremde Währung. Ich stecke alles wieder sorgfältig in meine Börse. Zünde ich eine Zigarette an und denke.

Jetzt ist das Wetter wunderschön. Aber in der Nacht kann es kälter werden. Wo werde ich heute schlafen? Ich kann zu dem Haus von der Frau mit Tochter gehen. Dort kann ich sicher gut leben. Aber wieviel Tage? Zehn? Oder fünfzehn?
Hier habe ich keinen Vater, keine Mutter, keine Geschwister. Meine alten Genossen habe ich sowieso lange nicht mehr gesehen. Genossen? Habe ich hier Genossen? Wer sind sie?

War die Sowjet-Union früher Traum meiner Jugend, seit einigen Jahren bin ich sehr enttäuscht. Wir nennen dieses Regime Revisionismus oder Staatskapitalismus. Sonst könnte ich in Bulgarien bleiben.

Ich war niemals Mitglied der türkischen Kommunistischen Partei. Aber ich war bei der Arbeiter Partei der Türkei. Das Parteiprogramm war eher sozialdemokratisch. Aber in den Führungspositionen waren einige alte Kommunisten und Kommunistinnen. Wir nannten sie "Alte Waffen" und ich respektierte sie.

Ja. Ich und meine Genossen und Genossinnen nannten uns Kommunisten, aber wir hatten verschiedene Vorstellungen von einem kommunistischen System. Vor allem über die Taktiken und Strategien, die uns zum Kommunismus führen sollten, dachten wir ziemlich verschieden. Was uns vereinte, war die Überzeugung, dass wir die faschistische Diktatur nur mit Waffengewalt stürzen könnten. Und wir waren bereit, dafür zu sterben.

Gibt es hier eine Regierung? Was für eine? Wenn hier eine Diktatur herrschen sollte, würde ich um jede Ecke einen Panzer oder einsatzbereite Polizeifahrzeuge sehen. Dann würde ich weiter flüchten.

Ich beobachte die Menschen in meiner Umgebung. Sie sind genauso bekleidet wie die Menschen in einer türkischen Großstadt. Nur, sie sind weniger hektisch in ihren Bewegungen. Vielleicht wegen des Feiertags?

Kann ich mich unter ihnen mischen? Werden sie mich akzeptieren? Selbstverständlich, denke ich.

Immerhin bin ich mit einem "Vorurteil" gewappnet: "Egal welche Hautfarbe, egal welche ethnische Zugehörigkeit, alle Menschen sind überall gleich, auch wenn jeder Mensch einzigartig ist." Nur die Sprachen sind verschieden, auch die äußeren Erscheinungsformen der Menschen und ihre Interaktionen.

Was heißt "Alle Menschen sind gleich"? Heißt das überhaupt etwas? Ich habe keine Lust, darüber wissenschaftliche oder philosophische Abhandlungen zu schreiben. Ich will auch keine lange Beispielliste als Nachweis zur meiner Behauptung ausführen. Ich will auch den Begriff "gleich" nicht wissenschaftlich präzis definieren.

Trotzdem beharre ich auf meiner Binsenweisheit. Auch jetzt, in meinen alten Jahren ist das meine Überzeugung. Wenn einige Leser und Leserinnen, aus ihrer eigenen Lebenserfahrung sich darunter etwas vorstellen werden, wird es mir genügen.

Nur nach einer Menge Missverständnissen dachte ich eine Weile in Österreich "Die Menschen hier sind ganz anders als die Menschen in der Türkei". Später in Wien meinte ein Freund aus der Türkei, dass meine Ansicht sich auf einen "Kulturschock" beruht und dieser Zustand bei den Neuankömmlingen gewöhnlich drei Jahre dauert. Bei mir hat es ein halbes Jahr gedauert.

In der Türkei werden mehr als fünfzig autochthone Sprachen gesprochen. Aber außer "Türkisch" waren alle anderen verboten. Gibt es auch hier verbotene Sprachen? Aber anscheinend gibt's hier Menschen, die Englisch verstehen. Also brauche ich vor Kommunikationsproblemen keine Angst zu haben.

Außerdem zeigt in der Türkei der technologische Entwicklungsstand vom Westen nach Osten ein Gefälle von zweihundert Jahren. Und die neuen Technologien schaffen neue Kulturen. Bei meinen Reisen musste ich mich immer wieder "anpassen".

Ich war noch nie im "Ausland" aber fast überall in der Türkei. Ich kenne viele verschiedene Volksgruppen und denke daher, "Alle Menschen sind gleich".

Auch meine Genossen und Genossinnen in der Türkei dachten ähnlich.

Auch das "Ausland" kenne ich von Filmen, von Büchern, von der Kunst.

Als Kommunist bin ich Internationalist. Also ein Weltbürger. Das heißt, ich bin kein "Fremder" hier. Woher soll ich wissen, dass ich hier zu einem "Fremden" gemacht werde?

Aber ich gehe weiter und stellte Frauen und Männer gleich. Außer ein sehr kleiner Unterschied. Da dachten sehr wenige Genossen wie ich.

Ich dachte zum Beispiel, dass die Frauen gleiche Fähigkeiten haben wie die Männer uns sollten gleiche Berufe ausüben und gleich bezahlt bekommen. Aber unsere Genossinnen trugen keine Waffen. Besser gesagt, sie trugen die Waffen in ihren großen Handtaschen neben ihren Geldbörsen, Adressbuch, Schlüsseln und Schminkzeug zu uns, mit der Annahme, dass niemand sie verdächtigen würde.

Ich habe hier bereits eine Kellnerin gesehen. In der Türkei gab es damals keine Kellnerin.

Also, ich habe recht. Ich bin hier kein Fremder. Nur können Erscheinungsformen der Menschen und Kulturen verschieden sein und werde ich mich nicht davon beirren lassen.

So mich selbst ermutigt, will ich jetzt hier, am Gemeinschaftsleben teilnehmen.

Nur wusste ich damals noch nicht, dass gerade die mir bereits bekannten menschlichen Erscheinungsformen ähnlich ausschauende neue Begegnungen sehr verschiedene Bedeutungen tragen könnten. So begann die Reihe von meinen unbeholfenen Exegesen der Vergleiche, also Missverständnisse.

Mein Start in das neue Leben beginnt mit einer Missetat, dass ich mich darüber genieren muss. Ich schaue weiter herum und suche "Anhaltspunkte". Auf der gegenüber Seite sehe ich ein Schild auf der Fassade von einem kleineren Laden "Sex Shop". Sowas habe ich noch nie gesehen. Was ist ein Sex Shop? Ich weiß ungefähr, was "Sex" bedeutet. Aber Sex Shop? Sex und Shop passt mir nicht. Shop klingt nach Kapitalismus. Ist das ein Bordell?

Ich stehe auf und gehe kreuz über den Platz dorthin.

Ich sehe ein breites Schaufenster. Dort sind wahrscheinlich aus irgendeinem Gummi ähnlichem Material erzeugte irgendwelche Figuren, die einen Frauenkörper darstellen sollen. Ich weiß noch nicht, dass man sie aufblasen kann. Sie wirken auf mich abstoßend. Dann sehe ich zum ersten Mal verschiedene Vibratoren in verschiedenen Größen. Auch mit diesen komischen Gegenständen kann ich nichts anfangen.

Dann entdecke ich die Pornohefte. Auf Hochglanzpapier vollfärbig gedruckte Bilder…

Damals in der Türkei war das Papier Mangelware. Solche Papiere könnte sich kein Verlag leisten. Es wurden zwar manche Boulevardzeitschriften in vier Farben Offset gedruckt, aber die Farben waren verschwommen. Solche Farbfotos, worauf man jedes Haar erkennen konnte, habe ich noch nie gesehen. Ich bin ein neugieriger Mensch. Nach einem kurzen Zögern gehe ich ins Geschäft.

Ich bin einziger Kunde. Ein Mann um die vierzig sitzt hinter einem Tisch. Er ist sehr schlank und schaut ziemlich blass aus. Ist er krank? Ist er der Besitzer des Ladens oder nur Verkäufer? Vielleicht geniert er sich für seinen Job. Auf jeden Fall sieht er sehr traurig aus und schaut vor sich hin auf seinem Tisch. Erst mit meinem Eintritt hebt er seinen Kopf auf.

"Hi!"
"Hello!"

An der Wand ist ein schräges Regal und drinnen eine Menge solche Hefte. Ich gehe hin.

"Darf ich sie anschauen?"
"Ja! Aber müssen sie mindestens eines kaufen."

Und was ist, wenn ich nichts kaufe? Ich glaube nicht, dass er mich verprügeln kann. Ruft er die Polizei an? Ich will keine Schwierigkeiten. Was kann so ein dünnes Heft kosten? Sicher nicht viel. Zu fragen traue ich mich nicht.

Damals war ich nicht nur jung, auch sehr gesund. Ich war eine Hormonbombe. Und komme ich von einem Land, wo die Jugend sexuell verhungert war. Wir lasen manchmal in den Zeitungen, dass in Europa eine sexuelle Revolution in Gange war, aber bei uns war davon nichts zu spüren. Die moralischen Einstellungen der revolutionären Jugend war damals fast so konservativ wie die der muslimischen Bauern. Ich als Schauspieler hatte ein bisschen anderes Milieu und durch meine Belesenheit hatte ich ziemlich abweichende Einstellungen, die ich für mich behielt. Und allein kann man mit dem Sex nur begrenzt etwas anfangen.

Ich fange an, die Hefte durchzublättern. Und bald bin ich richtig erregt. Ob der Mann hinter dem Tisch das merkt? Er schaut mich nicht an, liest seine Zeitung.

Wenn meine Hormondrüsen wie die Springbrunnen schießen, benimmt sich meine Vernunft wie eine erschrockene Schildkröte.

Nach einer Weile suche ich ein Heft aus und gehe zum Verkäufer.

"How much?"
"Ninety eight Shillings."

Ich bin erschrocken. Ich gebe ihm eine von meinen Hundertscheinen und bekomme zwei Stück ein Schilling Münzen zurück.

Wie soll ich mit dieser Schandtat in der Hand wieder unter die Menschen gehen? Der Verkäufer nimmt ein gelbes Kuvert aus der Schublade und steckt das Heft hinein. So gehe ich wieder hinaus.

Ich kann mit diesem Corpus Delikti nicht weiter herumspazieren. Ich gehe wieder zum Bankschalter. Wahrscheinlich habe ich einen knallroten Kopf.

"Excuse me!"

Das gilt für alle, inklusiv mich selbst. Mein Vater, meine Genossen… Wenn meine Triebe stärker sind als meine Vernunft, wie soll ich meiner Mission als Botschafter des Widerstands gerecht werden?

Die Tür wird wieder aufgemacht. Ich verstecke das Heft in meinem Koffer ganz unten, mache den Koffer wieder sorgfältig zu, bedanke mich und gehe wieder zum Erzherzog-Johann Brunnen. Wenn ich mit weiteren Dummheiten Zeit verliere, muss ich in der Nacht auf diesen Stufen schlafen. Darf ich das?

Dann höre ich die Klänge einer akustischen Gitarre. Bald folgt die schrille Stimme eines Mannes. Rechts, nicht sehr weit von mir ist die Tür eines Ladens offen. Ich gehe dorthin.

Ich schaue von der Tür hinein. Der mit Rauchschwaden verhüllte Laden könnte ein Axel-Weinhaus in Istanbul sein. Auch die Gäste schauen ähnlich aus: Ich bin der einzige unter fünfzig und der einzige mit einem Maßanzug gekleidet. Aber hier stehen nicht alle Gäste, manche sitzen an den wenigen Tischen. Außerdem unter den sitzenden auch ein paar Frauen.

Ich gehe hinein und stelle mich an die Schank. Dann stelle ich fest, dass hier außer Wein auch Bier getrunken wird.
Mein Eintritt in die Szene regt niemanden auf. Niemand schaut auf mich. Hinter der Theke ist ein alter Mann. Ich zeige auf eine Dopplerflasche und sage:
"Red!"
"Rot?", fragt er und ich lerne ein neues Wort. Ich nicke mit meinem Kopf. Er füllt den Wein in ein Glas und reicht es mir.



Weinglas von der "Paschabahtsche Glasfabrik", 1971

 

Das Glas ist nicht von der "Paschabahtsche Glasfabrik" in Istanbul, sondern bisschen größer, ein typisch österreichisches Viertel-Glas mit dem Bildnis einer Weintraube darauf.

Der Sänger sitzt auf der Kannte eines Tisches, spielt und singt weiter.

Was singt er? Ich verstehe kein einziges Wort. Auch die Musik kann ich nicht einordnen. Von Johann Sebastian Bach stammt sie auf keinem Fall.

 

Ein Heft mit Liedertexten von meinem Freund Aschik Ihsani. Cover design: Turhan Selcuk.

 

In Anatolia gibt's eine historische Tradition: "Aschik". Das Wort ist arabisch und bedeutet ursprünglich "Liebhaber" oder "Verliebter". In Anatolia sind die Aschiks diejenigen Troubadouren, die Saz spielen und in Alevitischen Gebetsversammlungen selbst gedichtete und komponierte Hymnen singen. Da die Aleviten immer von der osmanischen Herrschaft verfolgt waren, waren diese Lieder auch Protestlieder. Die Aschiks aber wanderten auch und singen in Kaffehäusern neben den Hymnen Liebeslieder und aktuelle Nachrichten.

Mit wachsendem Erfolg der "TIP" (=Arbeiter Partei der Türkei) begannen die neue Generation von Aschiks TIP mit ihren Protestliedern zu unterstützen, und TIP unterstützte sie. Die von ihnen besungenen kleinformatigen Schallplatten und später Tonbandkassetten erreichten sehr hohe Auflagen. Ich war fast mit allen Aschiks meiner Zeit persönlich befreundet.

Ist er ein Aschik? Singt er Protestlieder? Anscheinend herrscht hier keine faschistische Diktatur. Was protestiert er?

Das Auditorium jubelt nicht. Hin und da sangen manche den Refrain mit.

Was er war und was er sang, werde ich nie erfahren. Bis ich nach ein paar Jahren die Heurigen in Wien entdeckte, habe ich in keiner Gaststätte wieder einen Sänger gesehen. Dafür war an der Wand ein komisches Gestell befestigt und daran hängt ein Fernseher.

Auch wenn ich in kleinen Schlucken trinke, ist mein Weinglas leer. Der Wein hat mir sehr gut geschmeckt. Soll ich noch ein Glas bestellen?

Auf hungrigen Magen bin ich schon jetzt beschwipst. Bevor ich weitere Dummheiten anstelle, bezahle ich. Es ist gut zu wissen: Ein Glas Wein kostet hier nur ein paar kleine Münzen.

Ich gehe wieder zu meiner Startstation:
Erzherzog-Johann-Brunnen.


 

 

 
 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017