Atatürk verkaufen

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
ATATÜRK VERKAUFEN

 

Endlich gehen die Leute von einem Gewölbe hinaus.

Während die Delegation einer Volksgruppe ihre Anliegen abringt, könnte ich den Herrn -wer er immer seien mag-, der in diesem Prunkhaus amtiert, nicht in Ruhe kennenlernen.

Ich gehe gerade zu der Tür, voraus diese Gruppe heruntergekommen ist. Auf der rechten Seite der Tür hängt ein Schild. Darauf sind einige Wörter in Deutsch geschrieben. Nach mehrmaligen Versuche stelle ich fest, dass ich nicht verstehen kann, was hier geschrieben ist. Außer: "Sozial Demokratie".

Sozialdemokratie?

Cumhuriyet Halk Partisi (=Republikanische Volkspartei) behauptet seit einige Jahren "Sozialdemokratisch" zu sein. Das ist aber die Partei des Atatürks. Sie sind rassistisch und militaristisch. Diese Partei ist die "zivile" Erscheinung des faschistischen Militärs.
Ich bin aber jetzt nicht mehr in der verfluchten Türkei.

Jetzt habe ich die Möglichkeit, diesem Herrn in diesem Prunkhaus von der Sozialdemokratie zu begegnen. Soll ich das versuchen?
Ich bleibe vor der Tür eine lange Zeit bewegungslos stehen und wühle mein Gedächtnis durch.

Was weiß ich sonst über die Sozialdemokratie?

"Deutsche Sozialdemokratie". Wilhelm Liebknecht. Gründer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Karl Marx ist seit 6 Jahren tot. 1889. Einhundertster Jahrestag der französischen Revolution. Zweite Internationale gegründet. Mit vorbereitet von Friedrich Engels aus London. Bei der Organisation und Inhalt ausschlaggebend waren Wilhelm Liebknecht und seine SPD. Was für eine Ehre für die Sozialdemokratie.

Aber der Erste Weltkrieg zerstörte die Zweite Internationale.

Vor ein paar Jahren studierte ich in "LCC" (= Language and Cultural Center) Schauspiel. Vorher war ich einige Jahre bei dem Gemeinde Konservatorium. Bei dem Gemeinde Konservatorium war das Studium mit einer sehr strengen Aufnahmeprüfung möglich, aber ohne Studiengebühren. LCC war ohne Aufnahmeprüfung, aber Studiengebühren kosteten pro Semester Zweitausendfünfhundert Türkische Lira. Aber dort waren einige international renommierte Lehrer und Lehrerinnen am Werk und ich wollte unbedingt dorthin. Damals war mein Vater noch nicht Zolldirektor. Wie bezahlte ich die extrem hohen Gebühren?

Auf der Istiklal Caddesi (=Unabhängigkeitsstraße -die Rassisten nannten den Genozid Unabhängigkeitskrieg-) gab es einige historische Prunkhäuser, deren Appartements von den größeren Unternehmen als Büro gemietet wurden. In einem solchen Haus auf dem zweiten Stock war das Büro einer dubiosen Versicherungsfirma. Das gehörte zwei Herren um die fünfunddreißig. Wie ich zu ihnen kam, erinnere ich mich nicht mehr.

Diese Herren importierten nebenbei "Encyclopedia Britannica" in die Türkei. Ich glaube ein Set war vierundzwanzig leinengebundene Bände, Großformat, gedruckt in einer noch in der Türkei nicht verbreiteten Farbdrucktechnik auf Hochglanzpapier. Und bei dem Artikel "Atatürk" war auf einem doppelseitig gedrucktem Bild der Diktator mit bösem Blick und Kartoffelnase zu sehen. Das war mein Startkapital.


Erste faschistisch/rassistische Diktator des zwanzigsten Jahrhunderts.

 

Bevor ich Bildungsverbot bekam, bin ich im Bezirk Haydarpascha ein paar Jahre ins Gymnasium gegangen. Gleich in der Nähe war ein Militärspital. Ich steckte diesen Band in meinen großen Aktenkoffer und rannte dorthin. Bei dem Tor stand ein Gendarm Wache. Ich sagte ihm, dass ich ein persönliches Geschenk an den Kommandanten bringe und bat ihn um Durchlass. Er machte meinen Koffer auf, schaute das Buch verständnislos an, dann untersuchte er mich auf Waffen und holte einen Soldaten.

Wie wir das Eisentor überquerten, entdeckte ich etwas Seltsames. Auf der rechten Seite des Gartens stand ein riesiger Hühnerstall. In dem großen Gehege aus Maschendraht gackerten hunderte von Hühnern. Wer züchtete sie? Wer verzehrte sie? Offiziere? Patienten? Weiß ich nicht.

Der Soldat brachte mich in Begleitung zu dem Kommandanten. Nach dem Salutieren sagte er: "Mein Oberst! Melde gehorsamst! Dieser Mann bringt Ihnen etwas."

Das war gut, weil ich die Rangzeichen der Offiziere nicht kannte.

"Mein Oberst!", sagte ich. "Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen etwas großartiges zeigen". Dann stellte ich meinen Koffer auf seinen Schreibtisch, machte ihn auf, schlage in dem Band die Doppelseiten mit dem Schädel des Diktators auf.

Der Oberst stand sofort Habacht. Also er hat den Köder mit Angelhacken geschluckt.

"Schauen sie, mein Oberst", sage ich. "Wie die Briten unseren großen Führer respektieren, Sie können diesen Schatz haben.."

"Wieviel kostet der Schatz?"

"Nur zweitausendfünfhundert und sechzig Türkische Lira."

Ein Soldat wartet an der Tür im Habacht.

"Soldat! Hol mir Oberst Rasim!"

Rasim kommt.

"Wieviel Geld haben wir?"

"Eintausend Lira für die Sonderbedürfnisse."

"Hol die Kassa hierher."

Kassa kommt.

"Das reicht nicht. Ich opfere aus meiner eigenen Tasche zweihundert Lira. Hol mir die anderen Offiziere. Auch von dem niedrigen Rang. Und auch die Ärzte."

Es kommen einige uniformierte Männer und einige in weißen Kitteln. Alle machen ihre Geldbörsen auf.

"Hundert!"
"Hundert"
"Hundert!
"Fünfzig!"
"Fünfzig!"

Auf ihren unglücklichen Gesichtern sehe ich, wie sie das Mausoleum des Großen Führers besuchen, seinen Sarkophag aufmachen und…

Ich zähle die Banknoten, lege sie in meinen Aktenkoffer und unterschreibe den Vertrag. Sie bekommen die Bände in einer hübschen Kiste innerhalb einer Woche geliefert.

Klarerweise kann kaum einer von ihnen Englisch, und keiner wird sich die Mühe machen, eine Enzyklopädie aufzuschlagen.

"Mein Oberst! Wenn sie mit meinem Dienst zufrieden sind, bitte schreiben sie einen Empfehlungsbrief an ihre Kameraden."

So habe ich meine Studiengebühren bezahlt. Am Jahresende spielten wir "Marat´s Tod" von Peter Ulrich Weiß. Ich war der "Gefährlicher Verrückter". Die Aufführung ist sehr gut angekommen.

Zurück zur Istiklal Caddesi. Ich gebe den unterschriebenen Vertrag und die Banknoten an die Firma. Einhundertfünfzig Lira behalte ich als Provision für mich. Das war damals sehr viel Geld.

Und… Fünfzig Meter von diesem Haus entfernt war die Sowjetische Botschaft in Istanbul. Im Garten zwischen den hohen Bäumen geht ein mit Kieselsteinen bedeckter kurzer Weg zum Haus. Wenn man darauf geht, hört man das Rascheln der Steine.

Wenn man in die Botschaft kommt, ist gleich ein großer Vorraum. Die schweren Vorhänge sind zu. Es wird schwach mit elektrischem Licht beleuchtet. Dahinter ist die mit Leder beschlagene schallisolierte Tür. Die Tür brauche ich nicht zu öffnen. In der Mitte ist ein großer Holztisch. Darauf ist ein Tuch wie auf einem Billardtisch. Und darauf liegen mindestens fünf Bände von den Gesammelten Werken von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin. Leider ist nichts komplett und nur irgendwelche Bände.

Seit ein paar Jahren wurden einige Bücher der Marxistischen Literatur ins Türkische übersetzt. Aber noch nicht einmal das Kapital ist dabei. So wurde ich einer der ersten Übersetzer der Klassiker.

Dank der Gesammelten Werke von Lenin von der Sowjetischen Botschaft hatte ich die Möglichkeit in der Türkei erster Leser des "Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky" zu sein.

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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017