Jugendherberge

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
JUGENDHERBERGE

 

Bis jetzt haben mich immer freundliche Leute in ihren Privatautos herumkutschiert.

Jetzt muss ich zur Bushaltestelle.

Wieder beginnt die mühsame Fortschreitung. Ich gehe zwanzig Meter mit dem Koffer, dann zurück und dieselbe Strecke mit dem Zeitungsball und noch einmal mit dem Saz.

Nach einem langen herumirren komme ich zu einer Metallstange am Gehsteig, worauf eine runde Tafel mit einem "B" darauf steht. Darunter ist auch eine viereckige Tafel mit einer Liste von anscheinend Uhrzeiten. Das muss die Bushaltestelle sein.

Niemand steht hier und wartet. Bin ich dem falschen Weg gefolgt?

Auf der viereckigen Tafel steht einiges, aber ich verstehe nichts.

Ich laufe ein bisschen herum. Kein Mensch zu sehen. Eine andere "B-Tafel" sehe ich in der Nähe nicht.

Ich warte und rauche eine Zigarette nach der anderen.

Erst nach zwanzig Minuten kommt ein Bus. Vorne, auf der rechten Seite geht die Tür auf. Ich laufe hin. Steige die Treppen hinauf. Ich habe zwei Zetteln bei mir. Der eine ist die Adresse, wo ich heute schlafen soll, der andere ist die Adresse der Fabrik, wo ich morgen arbeiten soll. Ich zeige den ersten Zettel dem Fahrer.

"Jugendherberge
Thalbachbergstr.5"

Er schüttelt seinen Kopf. Er versteht kaum Englisch. Er zeigt mir seine Armbanduhr. Ich soll noch einmal eine Stunde warten, dann kommt ein "Other Bus".

Ich warte. Ich bin sehr müde, auch sehr hungrig. Ich denke an meine Genossen auf dem Gebirge. Ich schäme mich für meine Befindlichkeiten.

Ich warte und rauche.

Nach wie vor kein Mensch zu sehen. Also mache ich Gymnastik.

Springen, Liegestütze, Laufen im Kreis... Dann bleibe ich stehen und rauche eine nach der anderen.

In Istanbul gibt's "Volks-Autobusse". Bei einer Haltestelle warten Hundertschaften. Wenn der Bus kommt, versuchen die Leute mit Ellbogen hineinzuschlüpfen. Diejenigen, die es nicht schaffen, vor allem die alten und gebrechlichen Leute, warten auf den nächsten Bus.

Im Bus steigt man durch die hintere Tür auf der rechten Seite. Gleich nach der Tür sitzt der Schaffner in einem separierten Gehäuse. Man kauft ein Ticket. Dann schreit der Schaffner: "Herrschaften! Gehen sie weiter nach vorne!" Der Bus ist aber so voll, kein Mensch kann sich einen Zentimeter bewegen.

Hier bin ich der Einzige, der auf den Bus wartet.

Endlich kommt der Erwartete. Die vordere Tür rechts geht auf. Ich renne hin. Springe die Treppen hinauf und zeige dem Fahrer meinen Zettel. Ich bin richtig.

Der Busfahrer steigt aus und macht auf der rechten Seite des Busses ein Türl auf. Gepäcksraum. Wir geben meinen Koffer und den Zeitungsball dorthin. Das Saz halte ich in der Hand.

Ich finde das sehr nett von dem Fahrer. Sind alle Leute in diesem Land so freundlich?

Im Bus sitzen nur fünf Personen. Ich sitze hinter dem Fahrer auf der rechten Seite. Wir fahren.

Nach einer Weile halten wir an und es steigt jemand aus. Bald wieder ein Halt und es steigt noch jemand aus.
Wir sind da. Ich steige aus. Auch der Fahrer. Er holt mir mein Gepäck heraus und zeigt mir mit der Hand ein Haus, etwa hundert Meter von uns entfernt.

Es wird langsam dunkel, aber man sieht noch.

Ich fange mit meiner Ochsentour an: Zwanzig Meter mit meinem Koffer, dann zurück und mit dem Zeitungsball, dann mit dem Saz…

Langsam beginnt das Haus in der Dämmerung eine Gestalt anzunehmen.

Endlich ein altes Haus. Am Dach sind rote Dachziegel wie auf dem Haus meines Vaters. Was aber bei unserem Ziegelhaus nicht ähnlich ausschaut ist die Fassade. An der Fassade sind dicke Baumstämme schräg, waagrecht und senkrecht angebracht. Es schaut wie ein Vogelkäfig aus. Hinter dem Haus ist ein Wald. Außerdem sind rechts und links von jedem Fenster Holzläden aufgeklappt.

Das Haus kommt mir bekannt vor. Wo habe ich solche Häuser gesehen?

Als mein Vater in Istanbul bei dem Zollamt Beamte war, bekam er jedes Jahr vor dem Jahresende einen Kalender von der Schweizer "Maritim Bank". Hat die Schweiz eine Küste bei einem Ozean? Hat sie eine Marineflotte? Auf jeden Fall hatte sie eine "Maritim Bank". Als Zollbeamte bei der Hafenstadt Istanbul hatte mein Vater das Recht auf einen Jahreskalender als eine nicht deklarierte Bestechung.

Wie der neue Kalender kommt, zerlegte er den Kalender vom vorigen Jahr.

Für jeden Monat war eine Seite gewidmet. Auf jeder Seite war die untere Hälfte mit den Ziffern der Monatstage gefüllt. Die Tage hatten italienische Namen. Aber auf der oberen Hälfte der Blätter glänzten nicht die Schiffe der schweizerischen Marine, sondern Häuser.

Für die Wintermonate waren die Häuser mit einer Schneedecke umhüllt. In den Sommermonaten standen sie hinter einem See und beobachteten den See mit der gelassenen Ruhe eines reichen Patriarchen in Morgenmantel und Pantoffeln.

Dann holte mein Vater die bereits gerahmten Bilder von der Wand hinunter. Entfernte die von den zwei Jahre alten Kalender stammenden Bilder und es blieben die Glasplatten übrig. Er schnitt mit einer Papierschere die Bilder von dem verjährten Kalender aus und legte sie hinter die Glasplatte. Dann kam sein dunkelblaues Elektroband. Früher hatte er ein schwarzes Klebeband aus Stoff. Jetzt wurden die geschädigten Kabel mit einem blauen Kunststoffband repariert. Also er klebte eine Hälfte des Bandes hinter das Glas, dann faltete er es und klebte die andere Hälfte vorne auf den Glasrand. Oben wurde ein kleiner Metallhacken geklebt. So waren die gerahmten Schweizer Häuser wieder bereit gehängt zu werden.

Er machte alles mit einer großen Sorgfalt und Genauigkeit. Diese Tätigkeit nahm seinen ganzen Sonntag in Anspruch.
Während seiner Beschäftigung erzählt er mir das wievielte Mal:

"In der Schweiz leben die zivilisiertesten Menschen der Welt. Sie sind sehr gebildet. Sie sprechen drei Sprachen. Zusätzlich lernen sie in der Schule Englisch. Dort gibt's die wahre Demokratie. Dort gelten die Menschenrechte. Wenn mein Leben reicht, will ich einmal unbedingt dorthin fahren und alles persönlich erleben."

Er starb kurz nach meiner Flucht in Istanbul und es blieb ihm die Enttäuschung erspart.

Jetzt stehe ich vor der offenen Tür von der Jugendherberge. Was bedeutet Jugendherberge? Herberge kann der Name eines Ritters während der Kreuzzüge sein. Aber "Jugend"? Youth? Juventus? Bin ich jung genug hier schlafen zu dürfen?

Ich mache die massive Holztür auf und gehe hinein. Keine Glasscheibe mit einem exakt geschnittenen runden Loch. Hinter einem Holztisch sitzt ein Mann in mittlerem Alter, trinkt von einer Flasche irgendetwas und liest seine Zeitung.
"Good evening!", sage ich. Er reißt aus einem kleinen Papierblock ein Blatt hinaus, es gibt darauf eine Nummer mit einem fortlaufenden Stempel, und gibt es mir. Ich gebe ihm meine Geldbörse. Er nimmt kleine Münzen heraus und gibt sie mir zurück.

Ich merke, dass ich ihn in seiner Ruhe gestört habe.

Trotzdem zeige ich ihm die Adresse von meinem künftigen Arbeitsplatz. Er zeichnet mir eine Skizze, wie ich zum Bahnhof komme.

Er bringt seinen Zeigefinger vor seinen Mund.

Ich mache auf Zehenspitzen die nächste Tür auf und gehe hinein.

Es ist dunkel. Ich sehe fast nichts. Es riecht nach Schimmel. Ich bleibe stehen. Nach einer Weile gewöhnen meine Augen sich an die Dunkelheit.

Das ist ein großer Saal. Die Decke ist ziemlich hoch. Hier sind mindestens fünfzehn bis zwanzig Bettgestelle und alle sind aus Holz und zweistöckig.

Ich gehe weiter hinein.

Bei den Betten in den unteren Stöcken schlafen drei Herren. Alle sind um die dreißig. Also für mich damals ältere Herren. Soll ich vor ihnen Angst haben?

Warum keine Frau? Besteht die "Jugend" nur aus Männern?

Ich schleppe auf Zehenspitzen mein Gepäck hinein und stelle alles auf den Boden vor dem ersten freien Bettgestell.

Das Gestell hat eine Holzleiter zu dem oberen Stock. Wozu? Ich halte das obere Gestell mit den Händen und stemme mich mit einem Ruck hinauf… und lande ziemlich hart!

Womit haben sie die Matratze gefüllt? Mit Stroh?

Auch die von mir österreichische Luxusstandard kennengelernten Daunendecken sind nicht vorhanden. Es gibt nur sehr dünne Wolldecken, an der Fuß Seite zusammengefaltet.

Ich ziehe zwei Decken auf mich… und schlafe sofort.

Ich habe tief, aber kurz geschlafen.

Ich wache auf. Wahrscheinlich die Neugier weckt mich auf. Heute werde ich meinen neuen Arbeitsplatz sehen.
Ich stehe auf. Der Mann im Vorraum ist nicht mehr da. Ich schleiche mich langsam aus dem Haus und hole mein Gepäck heraus.

Die Jugendherberge kostet fast nichts aber ist mir nicht ganz geheuer. Ich war nie wieder in so einem Zuckerhaus von Hänsel und Gretel.

 

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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017