Günther Nenning

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
GÜNTHER NENNING

 

Ich glaube noch immer, Botschafter der Revolution zu sein. Ich muss diplomatisch handeln. Ich möchte alle linken Organisationen kontaktieren, die unsere Bewegung in der Türkei eventuell unterstützen können. In Lustenau habe ich kaum Erfolgschancen. Ich töte hier meine ganze Zeit mit einer sinnlosen Arbeit.

Heute ist Sonntag. Ich will unbedingt zur nächsten Stadt gehen und dort Kontaktmöglichkeiten suchen.

So gehe ich zur Hauptstraße, stelle mich an den Rand und winke mit dem Daumen. Damals war sogenannter Autostopp oder "Per Anhalter" reisen üblich.

Bald hält ein kleines Auto an. Der Lenker macht die Tür auf und ich schlüpfe hinein. Ich will nach Bregenz. Der Lenker sagt "Ja!", und wir fahren.

Nach einigen Minuten legt er seine rechte Hand zwischen meine Beine. Ich weiß, was das bedeutet. Ich habe bereits sexuelle Erfahrungen mit Männern, aber auch mit Frauen. Nur, diese waren spontan entstandene Gelegenheitskontakte. Eine ernsthafte Beziehung habe ich noch nie gehabt.

Ich schaue den Mann an. Er ist so alt wie mein Vater. Er gefällt mir nicht. Auch seinen Schnurbart finde ich abstoßend.

Aber mein Hauptbedenken ist die Polizei. Ich habe keine Ahnung, was passiert, wenn wir erwischt werden.

Immerhin, ich kann mit ihm gratis fahren. Ich will ihn nicht verärgern. Ich greife seine Hand sanft an und lege sie wieder zurück.

Nach einigen Minuten wiederholt er das. Auch ich wiederhole meine Antwort.

Danach kommt die Ruhe. Ohne miteinander zu sprechen, fahren wir weiter.

Wir halten an.

"Wir sind da!", sagt er.

"Danke schön!", sage ich und steige aus.

Aber was sehe ich? Ich wusste nicht, dass Österreich eine Küste am Meer hat.

Aber der penetrante Duft des Meeres fehlt. Das dürfte ein großer See sein. Aber im Moment habe ich kein besonderes Interesse. Ich habe was anderes vor.

Stille. Weit und breit kein Lebewesen. Ich gehe entlang der Küste weiter.

Ich sehe einen kleinen Neubau, so eine Schuhschachtel wie viele andere in Lustenau. Nur, bei der Frontseite neben der Tür sind zwei breite Schaufenster. Ich gehe dorthin.

Auf dem Schild steht "KPÖ". Hinter dem Fenster sehe ich Zeitungen, Zeitschriften und Bücher. Anscheinend ist das ein Buchhandel Laden von der Kommunistischen Partei. Die Tür ist offen. Nichts wie hinein.

Hinter dem Pult steht eine höchstens zwanzigjährige hübsche Frau. An ihrem Hals hängt ein silbernes Kreuz. Eine katholische Kommunistin?
Sie kann ein bisschen Englisch, aber nicht genügend, um zu politisieren.

Ich kaufe ein dickes Bilderbuch "Kurdistan" aus der DDR. Auf dem Tisch liegt auch eine auf sehr dünnem Papier gedruckte Zeitung in Englisch.
Renmin Ribao, (Chinese: "People's Daily"), daily newspaper published in Beijing as the official organ of the Central Committee of the Chinese Communist Party.

Da die KPÖ Sowjetnahe seien sollte, wundert mich die Existenz dieses Papiers hier. Auch das kaufe ich.

Viel mehr ist nicht zu machen. Ich merke mir diese Adresse und gehe wieder hinaus.

An der Küste steht ein Junge und betrachtet den See. Er sieht mich und lächelt mich freundlich an.

Ich gehe zu ihm. Er dürfte ein paar Jahre jünger sein als ich. Er hat ein Milchgesicht und eine dicke Brille.

Er hat gesehen, woher ich herauskomme.

"Bist du Kommunist?", fragt er.

"Ja! Und Du?"

""Ich finde den Kommunismus sehr sympathisch.", sagt er.

"Gibt es viele Kommunisten in Bregenz?", frage ich.

"Ich glaube nicht.", sagt er. "Aber in Wien. Der Oberkommunist heißt Günther Nenning. Er gibt eine Monatsschrift heraus: Neues Forum."
Ich merke mir diesen Namen.

Die Weihnachten habe ich mit dem aus Chile geflüchteten Genossen Carlos in Malmö im Haus der Heilsarmee verbracht. Am nächsten Tag beantragte ich im Polizeizentrum von Stockholm Asyl. Mein Antrag hat sie nicht interessiert, aber mein Mantel. Sie haben meinen Mantel hinten und vorne betrachtet, untereinander etwas schwedisches geredet und gelacht. Sie haben mich nackt ausgezogen und meine Kleider mitgenommen. Zwei Tage vor Silvester haben sie mich, gegen meinen Willen, im Mitternacht per Flugzeug nach Wien gebracht und bei minus 18 Grad in der Müllhalde von Schwechat auf dem Müllhaufen gesetzt.. Ich habe meinen Koffer zurückbekommen, aber mein "Alpaka-Mantel" war nicht mehr drinnen. Sie haben meinen dicken und sehr teuren Mantel nicht zurückgegeben und für sich behalten. Auch den Korpus von meinem Saz haben sie zerschlagen.

Wie der Herbst 1971 sehr warm war, war der Winter desto kälter. Die Temperatur war mindestens -15 Grad.

In der Ferne sah ich die Lichter der Stadt. So schleppte ich Stunden lang mein schweres Gepäck in diese Richtung. Nach mehreren Stunden war ich vor dem Bahnhof "Wien Mitte-Landstraße. Neben dem Bahnhof sah ich ein großes Kaufhaus.

Anscheinend wurde das Kaufhaus von unten geheizt. Vor dem Kaufhaus sind im Gehsteig Stahlgitter angeracht, woraus warme Luft herausstieg. Ich setzte mich darauf.

Jetzt hatte ich es unten warm. Oben froren meine Hände und mein Gesicht. Ich konnte das Klappern von meinen Zähnen nicht mehr stoppen.
Spät in der Nacht war kaum jemand auf der Straße zu sehen.

Nach einer langen Zeit kam zufällig ein junges Hippie-Paar vorbei. Den Rest der Nacht habe ich in ihrem Bett verbracht. Dank ihnen bin ich damals nicht erfroren. Weil sie die ganze Zeit neben mir gefickt haben, konnte ich nicht schlafen.

Nach dem Aufstehen haben sie mich gefragt:

"Wo willst du hin in Wien?"

Sigmund Freud? Arthur Schnitzler? Wen kenn ich in Wien?

Ich sagte: "Günther Nenning. Neues Forum."

Dann packten wir gemeinsam mein Gepäck und gingen dorthin.

Dort saßen ein fünfzigjähriger Mann und zwei ein bisschen jüngere Frauen.

 


Günther Nenning

 

Der Mann war Günther Nenning. Ich kann seine hochstehenden Augenbrauen nie vergessen.

Ich erzähle in Englisch meine Geschichte. Er gab mir hundert Schilling. Gleich gaben mir auch beide Frauen je hundert Schilling.

Das war mein Anfangskapital in Wien.

Nach langen Telefonaten sagte er: "Bleiben Sie sitzen. Ich habe in Wien zwei Kommunisten aus ihrem Land gefunden. Sie werden bald kommen und Sie abholen."

So begann eine weitere harte Phase meines Lebens.

Kommunist war er nicht. Er war bei der SPÖ. Er spielte eine große Rolle bei der Gründung der grünen Bewegung. Aber er war auch promovierter Theologe.

Auf jeden Fall war er ein "linker Katholik" und in Ordnung.

2006 ist er von uns gegangen.

Gesammelte Ausgaben von Neues Forum sind noch immer in meiner Bibliothek. Wer schrieb hier nicht? Elias Canetti, Simone de Beauvoir, Herbert Marcuse…

Auch diese Sammlung wird bald von den neuen Benützern meines Hauses zum Altpapier getragen.

 


 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017