Neco

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
NECO

 

Obwohl in Lustenau überall alles gleich ausschaut, bin ich neugierig und gehe immer wieder spazieren, um irgendetwas neues zu entdecken.

Ich vermisse hier vor allem meine Genossen.

Ich weiß es nicht warum, in den letzten Tagen denke ich immer wieder an Neco.

Als Kind war er an Pocken erkrankt. Die Kinderkrankheit ließ auf seinem Gesicht Narben für sein ganzes Leben.

Plötzlich erscheint vor mir die rechte Wange von Neco. Ich will sie berühren, ich will sie küssen. Wie schön ist es, meinen Freund wieder zu sehen.

Ich gehe näher zu ihm. Narben haben auf seiner Haut kleine Blumen gezeichnet, wie auf den alten Tapeten, die ich viel später in Wien sehen werde.

Wie von einem Seil gezogen, gehe ich näher und näher.

Plötzlich stoßt meine Nase an eine Ziegelmauer, deren Putz teilweise heruntergefallen ist.

Was ist los mit mir?

Ich kenne aus dem Sarg bei der politischen Polizei in Istanbul Schlafentzug als Foltermethode. Nach dem dritten Tag siehst du weiße Mäuse, die nicht wirklich existieren.

Das habe ich von der Schlaflosigkeit der Dreischichtarbeit.

Neco war Mitglied in der TKP (=Kommunistische Partei der Türkei). TKP war Sowjets-Treu. Wir nannten sie Revisionisten und sie nannten uns Maoisten.

Obwohl wir nicht derselben Linie folgten, habe ich ihn sehr gerne gehabt als Freund.

Er war Schaffner bei den Gemeinde Bussen. Wie es aufflog, dass er bei der TKP war, bekam er Berufsverbot. Dann begannen seine Hungerjahre.

Neco hieß offiziell "Necmettin Vanli". Vanli bedeutet aus Van. Er war tatsächlich aus der Provinz Van nahe der iranischen Grenze.

Hier lebten vor dem ersten Weltkrieg hauptsächlich Armenier und Kurden. Bei dem Genozid wurden die Armenier ermordet oder vertrieben. Dafür kamen noch mehr Kurden von der Umgebung.



 


Königin Isabella I von Spanien, Königin von Castilla (1451-1504)

 

Hier lebten aber, zumindest während ich in der Türkei war, auch Juden. Diese waren nicht die Sephardim, die im fünfzehnten Jahrhundert von Isabella in das osmanische Reich geflüchteten, sondern die Juden aus dem alten Testament. Sie lebten seit der Antike hier. Neco war mit einer Jüdin aus Van verheiratet.

An einem Wintertag besuchte ich Neco in seiner Wohnung.

Diese bestand aus nur einem Zimmer. Im Zimmer war eine Matratze, ein kleiner Holztisch und zwei Sesseln. Neco und ich saßen in den Sesseln und tranken den zum zwanzigsten Mal aufgegossenen schwarzen Tee.

Frau und fünf Kinder krabbelten am eiskalten Holzboden.

Da war auch ein kleiner Ofen aus Gusseisen, aber drinnen war nichts.

Wir sind zum Haus meiner Eltern gegangen. Haben unsere Arme ausgesteckt und mein Vater hat unsere Brüste mit Brennholzscheiteln angefüllt.

Dann wieder zurück zum Neco. Mindestens eine halbe Stunde Fußmarsch. Immer wieder fielen Holzscheiteln zur Straße. Sie aufzuheben war eine sehr schwere Aufgabe.

Wir füllten den Ofen an. Bis wir das Holz mit Zeitungspapier anzündeten, dauerte es lang. Ohne Steinkohle wollte das Gusseisen nicht heiß werden. Und der ganze Holzhaufen war genug nur für ein paar Stunden.

"Neco", sagte ich, "Du weißt, dass du kein Geld hast. Warum machst du gleich fünf Kinder?"

"In Van gibt's keine Oper und kein Theater. Nicht einmal ein Kino.", sagte er. "Wenn ich meine Jüdin behalten wollte, musste ich sie irgendwie unterhalten."

Inzwischen sind mehr als fünfzig Jahre vergangen. Von Neco habe ich nie etwas gehört. Wurde er nach meiner Flucht verhaftet? Wurde er gefoltert? Ich hoffe, dass er noch lebt. Mit meinen besten Wünschen an ihn und seine Familie.

Verwirrt kehre ich zurück von der Mauer mit Pockennarben. Ich weiß aber nicht, wo ich hin will.
Ich habe das Gefühl, dass jemand mich verfolgt. Dann taucht an meiner rechten Seite eine Hand auf und hält meinen Arm.

Ich höre eine Frauenstimme in Türkisch mit kurdischem Akzent:

"Darf ich mich an dich anhalten?"

Ich drehe mich um. Ich sehe rechts von mir, auf der Schulterhöhe einen Frauenkopf. Sie hat pechschwarze Haare aber auch einzelne Silberhaare. Ich schätze, dass sie ein paar Jahre älter ist als meine Mutter.

"Von wo bist du?"

"Ich bin in Istanbul geboren. Aber Mutterseite ist griechisch, Vaterseite ist kurdisch."

"Wo in Kurdistan?"

"Erzincan. Osttürkei."

Dann fragt sie in Kurdisch:

"Kannst du kurdisch?"

Ich antworte auch in Kurdisch:

"Nicht sehr gut. Ich bin in Istanbul aufgewachsen."

Danach geht das Gespräch in Kurdisch weiter.

"Ich bin auch aus Erzincan. Aber nicht von der Stadt. Dorf."

Aus ihrer Leder gewordenen, sonnengebrannten Gesichtshaut sieht man ihre bäuerliche Vergangenheit.

"Einsamkeit ist sehr schwer.", sagt sie. "Ohne Mann geht es nicht auf Dauer."

"Sind sie nicht verheiratet?"

"Doch. Ich habe sogar zwei erwachsene Söhne. Aber mein Mann ist in Erzincan. Habe ich was davon? Ganze Nacht drehe ich mich im Bett herum und wünsche mir nichts als einen Mann."

Mich überrascht ihre Direktheit. Dann fragt sie:

"Du gefällst mir sehr gut. Wir sind beide Kurden. Ich bin ein bisschen älter, aber bei mir funktioniert alles sehr gut. Wenn ich einmal im Jahr im Urlaub in die Türkei fahre, habe ich dort einen Mann. Ich will, dass du mein Mann in Österreich wirst."

Ich habe bereits ein paar junge Männer aus der Türkei kennen gelernt, die dort bereits Frau und Kinder haben, aber hier mit einer Österreicherin zusammenleben. Auch wenn die Damen dreißig Jahre ältere Kriegswitwen sind. Ich habe keine moralischen Bedenken.

Außerdem könnte sie in meiner Einsamkeit unterhaltsam sein und mir helfen, dass ich mein Kurdisch verbessere.

Aber ich schaue sie an und denke an Daphne, an ihre blauen Augen, ihre blonden Haare und an ihr Lächeln.

"Das ist für mich eine große Ehre,", sage ich, "dass Sie mich gewählt haben. Ich bin aber bereits verlobt."

Sie lässt meinen Arm langsam los. Dann steht sie mir gegenüber. Mit was für einem verliebten und traurigen Gesichtsausdruck diese "abgelehnte" Frau mich betrachtete, werde ich nie vergessen.
In den kommenden Jahren machte die Polizei in Wien mit mir das, was die Katzen mit Mäusen machen, bevor sie sie fressen.

Da die faschistische Militärdiktatur in der Türkei während des "kalten Krieg" zu dem freien Westen" gehörte, bekam ich kein Asylrecht.

Ich bekam nur einen Zettel, worauf ein befristetes Aufenthaltsrecht bestätigt wurde.

Einerseits besuchte mich immer wieder die Staatspolizei in Zivil und gab mir ein paar Wochen Frist, Österreich freiwillig zu verlassen, bevor ich zwangsweise zurückgeschickt würde.

Anderseits musste ich alle drei Monate meine Aufenthaltserlaubnis verlängern lassen.

Dazu brauchte ich einen Meldezettel und eine Arbeitsbestätigung von einer Firma. Bis ich eine eigene Wohnung bekam, dauerte es lang. Für den Meldezettel war ich auf die Güte der Freunde angewiesen. Da ich bereits ein paar Mal gekündigt wurde, wollte das Arbeitsamt für mich keine Arbeit suchen. Ich war bereit, jede Dreckarbeit gegen jede Unterbezahlung auszuüben für eine Arbeitsbestätigung.

Nicht genug? Musste ich auch jedes Mal um hundertvierzig Schilling Stempelmarken von einer Tabak-Trafik mitbringen. In einer Zeit, wo ich alle paar Tage ein trockenes Brot zum Essen bekomme.

Für die Verlängerung war die Fremdenpolizei zuständig. Diese befand sich im ersten Bezirk, in der Bäckerstraße.

Da das Gebäude über den Gehsteig herausragte, stand die Vorderseite auf Betonsäulen. So bleibt das massive Holztor des Horrorhauses immer im Schatten und wirkte deswegen noch deprimierender auf mich.

Nach der Treppe gelangte ich im ersten Stock zu einem schmalen und langen Korridor. Auf einer Seite waren schmale Holzbänke nebeneinandergestellt. Die Bänke waren wie das übrige Interieur des Hauses in Amts Gelb gestrichen und trugen kleine Metallplaketten. Amts Gelb war die Farbe der Babyscheiße und auf den Metallplaketten waren Inventarnummern eingraviert.

Wir, mindestens fünfzig Gott verdammte "Ausländer", holten von einem an der Wand befestigten Apparat eine Nummer und saßen auf diesen Bänken und warteten mehrere Stunden, bis unsere Eintrittsnummer dran war.

Da wir in dieser Zeit am Arbeitsplatz fehlten, war das öfters ein Kündigungsgrund.

Gegenüber uns an der Wand waren mehrere Holztüren in Amts Gelb. Dahinter saßen die "Referenten". Sie waren Polizisten in Zivil. Rechts von der Türe waren an der Wand Tafeln montiert. Auf den Tafeln standen nicht die Namen der Referenten, sondern Buchstaben. Nach meinem Familiennamen gehörte ich zu "S".

Hier saß der "Hans". Wie er sonst hieß, weiß ich nicht. Er war jünger als mein Vater, ohne Bart und ein bisschen mollig. Alle Arbeiter aus der Türkei kannten Hans. Er studierte irgendwann Turkologie und sprach, wenn auch mit starkem Akzent, sehr gut Türkisch.

Manche behaupteten, dass er ein wahrer "Türkenfreund" und andere wiederum "Türkenfeind" war. Ich kann beides nicht bestätigen. Ich nehme an, dass er sich, so weit wie möglich, an die "Vorschriften" hielt.

Auf jeden Fall war er höflich und duzte uns nicht.

Eines Tages saß ich wieder vor seinem gelben Schreibtisch.

"Herr Schachiner!", sagte er, "Wenn sie irgendwann die österreichische Staatsbürgerschaft erwerben wollen, müssen sie sich immer ordentlich benehmen. Sie handeln aber nicht immer korrekt."

"Was meinen sie damit?"

"Zum Beispiel die Frau, mit der sie in Lustenau zusammenlebten."

"Ich habe mit keiner Frau zusammengelebt."

"Doch, doch! Eine Kurdin. Sie ist älter als ihre Mutter. Sie ist verheiratet, hat erwachsene Kinder. Es war nicht moralisch korrekt von Ihnen. Bitte bleiben Sie in Zukunft von den verheirateten Frauen fern."

Ich habe die Frau nur einmal getroffen. Weit und breit war kein Mensch neben uns zu sehen. Außerdem sprachen wir nicht Deutsch, sondern Türkisch und Kurdisch. Wie kann Hans von unserer Begegnung erfahren?

"Nicht nur das.", setzte er fort. "Man hat Sie in einem Homosexuellen Lokal gesehen. Das ist verboten."

Gerade damals hat unter Minister Broda von der SPÖ eine "Kleine Justizreform" stattgefunden. Demnach war "schwul sein" nicht mehr strafbar. Das weiß ich aber jetzt. Damals habe ich davon nichts gehört.

Tatsächlich besuchte ich hin und da einen "Männerclub". Da gibt's immer wieder Razzien der Polizei. Daher war dort Küssen verboten. Ich bin nie bei einer Razzia erwischt worden. Dort habe ich auch nie einen uniformierten Polizisten gesehen. Die Stammgäste kannten einander gut. Wenn ein Polizist in Zivil dort Akzeptanz finden sollte, musste er selbst schwul sein.

"Woher wissen sie all diese Sachen?"

"Unsere Stapo ist sehr tüchtig und mächtig. Das ist gut so. Wenn wir uns vom Kommunismus schützen wollen, brauchen wir einen funktionierenden Geheimdienst."



 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017