Enzian

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
ENZIAN

 

Jeden Tag trinke ich mindestens eine Flasche Bier. Aber seit langer Zeit habe ich keinen Raki getrunken.

Raki trinken ist nicht so einfach. Dazu braucht man ein "Sofra" (=Esstisch).

Sofra ist aber nicht irgendein Esstisch. Ein Sofra muss mit "Meze" bedeckt werden. Meze nennt man die erlesenen kalten Vorspeisen des osmanischen Hofes, bzw. des Mittelmeerraumes.

Auf Sofra muss auf jeden Fall eine Karaffe mit kaltem Wasser stehen. Man füllt zuerst das Glas mit Raki, dann gießt man darauf Wasser. Der durchsichtige Raki wird milchweiß und diese Mischung nennt man Löwenmilch.

Auch "Leblebi" darf bei einem Sofra nicht fehlen. Das sind geröstete und gesalzene Kichererbsen.

Aber das wichtigste bei einem Sofra ist die Anwesenheit eines guten Freundes. Wenn mehrere gute Freunde dabei sind, wäre es spannender.

Da ich immer dazu neige, ungewöhnlich zu agieren, fange ich von hinten an.

Wer kommt als geladener Gast ins Frage?

Heute Abend ist unsere Arbeitsschicht frei.

Luigi? Er hat Familie. Milan? Er hat Familie.

Ismail hat keine Familie. Er wird mein Gast sein. Ich frage ihn. Ja. Er wird heute Abend zu mir kommen.

Jetzt muss ich die Zutaten für ein Sofra besorgen.

Woraus besteht die zeitgenössische "Welt" in Lustenau? Ich gehe zum Konsum.

Ich suche Meze. Es gibt keine gefüllten Paprika oder Weinblätter. Sudjuk (=Knoblauchwurst) gibt es auch nicht. Leblebi suche ich nicht einmal.

Ich finde nur Salznüsse und lege diese in den Einkaufswagen.

Jetzt suche ich das aller wichtigste. Es gibt viele verschiedene alkoholische Getränke. Aber türkischen Raki gibt es nicht. Griechischen Ouzo auch nicht.

Ich betrachte viele Flaschen. Ich versuche die Etiketten zu lesen und vor allem zu verstehen.

Nach einer langen Suche sehe ich auf einer Etikette eine Blume. Enzian. Kenne ich nicht. Aber immerhin eine Blume. Wahrscheinlich duftet sie gut. 38 %. Türkischer Raki ist 45%. Ouzo von Tsantali ist 38%. Es wird schon passen. So kaufe ich statt Raki eine Flasche Enzianschnaps von Mautner Markhof.


 


Enzian

 

Dieses Getränk habe ich nie vergessen. Daher auch nie wieder getrunken.

Zu Ehre von Ismail ziehe ein frisch gewaschenes weißes Hemd und meinen Maßanzug an. Setze ich mich an das Fenster und warte.

Ich sehe ihn unten. Ich renne hinunter und mache die Holztür am Gartenzaun auf.

Ich habe nicht gefragt, ob ich Gäste in mein Zimmer mitbringen darf. Ich bringe meinen Zeigefinger an die Lippen und bitte Ismail leise zu sein.

Jetzt ist er bei mir.

Kaum einige Tage getragen, schaut sein Anzug wie ein alter Putzlappen aus. Auf seiner breiten Krawatte sind die Reste von Eierspeisen, Ketchup, Fettflecken und anderen undefinierbaren kulinarischen Spezialitäten zu sehen.

Ich habe keine Lust, heute wieder Marxismus zu unterrichten. Wir sind zwar darüber einig, dass der Teufel die türkischen Generäle holen soll, aber darüber hinaus haben wir überraschend wenig zu reden.

Bei diesem Gastmahl habe ich nicht mehr als Salznüsse anzubieten. Ich mache das kleine Sackerl auf.

Endlich komme ich dazu, die Flasche mit dem Raki-Ersatz zu köpfen.

Anscheinend war der Dschinn von Aladins Lampe Jahrhunderte lang drin gesperrt. Jetzt schlüpft er langsam heraus und erfüllt den ganzen Raum. Das ist ein schrecklicher Geruch. Wie kann ich es beschreiben? Die Basis ist sicher faule Eier. Aber diese allein können nicht unsere Körper zur Gänze durchdringen. Dazu ist eine scharfe Würze notwendig. Diese liefert der Saft verschimmelter Zitronen.

Ich bin aber nicht bereit, die Niederlage einzustecken. Wir werden es auf jeden Fall trinken.

Ich habe nur ein Trinkglas. Ich gebe ein bisschen von dem Gift hinein und schiebe es zu meinem Gast.

"Auf deine Ehre, Ismail."

Ich stoße die Flasche mit seinem Glas. Er kippt ihn in seine Kehle. Auch ich mache ein paar schlucke aus der Flasche.

Es wäre nicht falsch zu sagen, wir zwangen uns sehr diszipliniert weiter zu trinken.

"Prost!"

"Prost!"

Mit großer Mühe und solidarischem Durchhaltevermögen bringen wir zusammen, die ganze Fasche zu Ende zu trinken.

Bei meinen Schläfen spüre ich einen eigenartigen Druck.

Mir wird langsam übel.

Ismail hat einen seltsamen Gesichtsausdruck. Er macht komische Geräusche.

Ich glaube, er wird bald speiben und ich werde ihm nachfolgen. Inmitten von meinem Zimmer. Es wird eine Katastrophe. Ich halte ihn an seiner Hand und wir torkeln so schnell wie möglich hinaus.

Wir können noch gehen aber nicht mehr gerade. Wir entfernen uns fünfzig Meter vom Haus.

Ich lasse seine Hand frei und er begann zu kotzen. Auch ich kann mich nicht mehr beherrschen. Wir brüllen wie die wilden Tiere. Hoffentlich wecken wir die schlafenden nicht auf.

Ich bücke mich und versuche meinen Anzug nicht anzupatzen.

Ismail macht kräftige Bewegungen nach hinten und vorne.

Jetzt ist sein Anzug komplett.

Er kann noch allein gehen. Ich verlasse ihn dort und gehe zurück und werfe mich ins Bett.
Ich musste Lustenau bald verlassen. Ich habe keine Möglichkeit gehabt, mich von Ismail zu verabschieden.

Ich habe nie mehr von ihm gehört.



 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017