Anzug

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
ANZUG

 


Ismail bekommt eine solide Ausbildung in marxistischer Theorie.

Der Unterricht geht sehr langsam voran, weil er nicht die allgemeine Schulbildung hat.

Anderseits, das ist ein Vorteil, dass er keiner Atatürk-Gehirnwäsche unterzogen ist. Er ist offen und aufnahmefähig.

Nach dem Unterricht stelle ich ihm Fragen. Er ist sehr intelligent. Und vor allem sehr interessiert.

"Memo!", sagt er. "Ich habe beschlossen, für mich so einen Maßanzug wie deinen zu kaufen."

"Gute Idee!", sage ich. "Dann wirst du ein feiner Herr. Danach werden wir für dich ein entsprechend feines Fräulein suchen."

"Ich habe im Konsum alles angeschaut. Nichts besonders. Ich werde in der Schweiz kaufen."

"Wie kommt man dorthin?"

"Hinten ist ein Fluss. Du muss nur über die Brücke gehen."

Ich war noch nie dort. Wenn man vom Gasthaus Schwanen nach rechts unten und dann wieder nach links weiter geht, kommt man tatsächlich an einen Fluss. Jetzt, nach fünfzig Jahren weiß ich, dass er Rhein heißt. Er ist derart reguliert, schaut wie ein schmaler Kanal aus. Dafür dürfte er ziemlich tief sein.

Ich gehe weiter. Nach etwa hundert Meter kommt eine Brücke. Dies und Jenseits sind kleine Zollkontrolle-Hütten.

Ich habe aber jetzt keinen Reisepass mehr.



 


 

Am nächsten Tag erscheint Ismail wieder bei mir. Wie ich ihn sehe, verkrümme ich mich vor Lachen.

Er steht mit aufgeblasener Brust stramm wie ein General vor mir.

Er hat ein Sakko in einer hellen, giftgrünen Farbe. Aber von dem Sakko sieht man nicht viel. Seine auf dem Sakko aufgeklappten Kragen haben die Größe von Elefantenohren. Der linke Kragen ist hellgrau, der rechte pink. Auf den Taschen sind dunkelblaue Streifen angenäht.

Er hat ein durchsichtiges, leuchtgelbes Netz-Hemd, woraus seine Brusthaare büschelweise herausstehen.

An seinem Hals hängt eine riesige Krawatte wie eine Schlinge am Galgen. Daran ist ein riesiger Knoten. Wo hat er Krawattenbinden gelernt?

Die Krawatte hat die Breite von einem entfalteten Seidentaschentuch.

Auf der Brusthöhe leuchtet eine prächtige Sonnenblume. Es folgen die Querstreifen in alle Farben des Regenbogens bis zu seinen Knien.

Drunter hat er eine Schwarz-weiß karierte Herrenkochhose mit zwei Seitentaschen und einer Gesäßtasche. Der Bund ist mit einem Gummizug und weißer Kordelmasche zusammengehalten.

Er hat dazu Sportschuhe aus weißem Leinen und Gummisohlen.

Von meinem Lachen unsicher geworden schaut er mich sehr ernsthaft an und fragt:

"Wie schaue ich aus?"

"Wie ein Europäer, der sich für einen Kostümball als Türke gekleidet hat."

"Ich bin kein Türke! Ich bin Laze!"

"Du bist ein Esel!"

"Hauptsache ist, wenn ich vorbeigehe, bleiben alle Mädchen stehen und schauen mich an."

"Dafür könntest du dich auch als Krokodil verkleiden. Schade, dass es in Lustenau keinen Zirkus gibt. Du könntest gleich dort auftreten."

"Ich verstehe dich nicht?"

"Du bist ein Esel!"

"Selber Esel!"

"Ai!", sage ich.

"Ia!", sagt er.


 
was bisher geschah
weiter lesen
start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017